E-Book, Deutsch, 400 Seiten
Boyd Die blaue Stunde
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-311-70122-4
Verlag: Kampa Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 400 Seiten
ISBN: 978-3-311-70122-4
Verlag: Kampa Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
William Boyd, 1952 als Sohn schottischer Eltern in Ghana geboren, ist dort und in Nigeria aufgewachsen, bevor er in Großbritannien zur Schule ging und studierte. Dass er sich in keiner Kultur ganz zu Hause fühlt, sei für einen Schriftsteller eine gute Voraussetzung, sagt Boyd. Seinen ersten Roman veröffentlichte er 1981, heute gilt er als einer der bedeutendsten und erfolgreichsten Erzähler der zeitgenössischen Literatur. William Boyd lebt mit seiner Frau in London und im südfranzösischen Bergerac, wo er auch Wein anbaut. Wo immer er sich gerade aufhält - er geht für sein Leben gern spazieren.
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10
Philip hatte ein kleines Holzhäuschen in Venice gemietet, eine Straße direkt hinter der Strandpromenade. Ich ging die beiden Stufen zu seiner Veranda hoch, die von der Sonne pockennarbig gebrannt war, klemmte mir die Flasche unter einen Arm, setzte die Tüte auf einem alten Schaukelstuhl ab und klopfte laut gegen den Rahmen der Fliegentür. Von drinnen hörte ich ein gequältes Husten, und dann erschien Philip in einem zerknitterten und schmuddeligen Morgenmantel, die Haare strähnig und fettig. Seine Augen hatten dunkle Ränder, sein Gesicht war eingefallen und teigig.
»Hallo, mein Sonnenschein«, sagte ich. »Mama ist da.« Er hatte sich im Wohnzimmer ein Bett – eine Navajo-Decke und drei Kissen – auf einem Davenport-Sofa gemacht. Aus dem Radio des Nachbarn war zu hören, leise aber deutlich. Als ich die Suppe in eine Schüssel gefüllt hatte und sie ihm brachte, lag er schon wieder unter einer Decke auf seiner Couch, die Knie angezogen, das Gesicht zu einer Maske stoischen Leids erstarrt.
»Kartoffelsuppe und Kuchen, stimmt’s? Ich hab dir ein Stück Pekannusskuchen, Zitronenkäsekuchen und vier verschiedene Teilchen mitgebracht.«
»Hab Dank.« Er nahm mir die Suppe ab und schlürfte sie gierig, wie ein hungernder Bauer. »Ich hab seit achtundvierzig Stunden nichts mehr zwischen den Zähnen gehabt.«
Ich hatte in der Küche die leere Bourbonflasche gesehen. »Was ist denn los?«
»Bin gefeuert worden. Nach vier haben sie mich gefeuert, diese Ärsche.«
»Na ja, war doch auch ein Mistfilm –«
»– Es war Arbeit, Kay. Vierhundert-Dollar-die-Woche-Arbeit.« Seine Stimme klang schmollend und ertrank in Selbstmitleid. Ich setzte mich neben ihn und sah ihm zu, wie er die Suppe vertilgte und gleich danach nach dem Käsekuchen griff. Er biss ein zu großes Stück ab und tat sich schwer beim Schlucken. Er hustete Krümel auf seine Couch.
»Immer mit der Ruhe«, sagte ich. »Niemand nimmt dir den Kuchen weg. Möchtest du Kaffee?«
»Ich glaube, ich hab einen Tumor im Hals. Könntest du mal nachsehen?«
Er riss den Mund auf und streckte ihn mir entgegen. Ich hielt sein hübsches mitgenommenes Gesicht zwischen meinen Händen und neigte es so, dass das Licht vom Fenster auf seine Speiseröhre fiel. Ich konnte nichts sehen außer einem pulsierenden rosa Zäpfchen und einer gewissen Menge Käsekuchen, aber ich kannte Philip in dieser Stimmung. Er brauchte einfach etwas, woran er sich festhalten konnte.
»Ich kann nicht viel erkennen … Vielleicht ein bisschen rot.«
»Jesses … Und meine Augen? Irgendeine gelbe Verfärbung?«
»Heute ist Rot deine Farbe, tut mir leid. Warum gelb?«
»Ich krieg öfter diese Rückenschmerzen. Ich hab Angst, dass meine Leber hin ist. Zirrhose oder so was. Vielleicht sogar Krebs.«
»Ich würde mal den Bourbon absetzen.« Ich stand auf. »Ich mach dir einen Kaffee.«
Ich ging in die kleine Kochnische und setzte Wasser auf. Ich sah mich nach gemahlenem Kaffee um. Ich hörte Philips schlurfende Schritte hinter mir, und ich fühlte, wie sich seine Arme um meine Taille legten. Er schmiegte sich an meinen Nacken und bedeckte ihn mit kleinen pickenden Küssen.
»Kay … Kay, kann ich nicht für ein paar Tage bei dir wohnen? Ich hasse es, so allein zu sein.«
»Nein, Philip, du weißt, das würde nicht –«
»Ich komm einfach nicht zurecht. Ich muss nur –«
»– aufhören zu trinken. Du bist gefeuert worden. Deswegen bricht nicht gleich die Welt zusammen. In dieser Stadt gibt es jede Menge bescheuerte Filme, für die Autoren gesucht werden, und jede Menge gefeuerte Autoren, die bescheuerte Filme suchen.«
»Es war ein guter Job, Kay. Der Beste.« Er trat zurück und rammte beide Fäuste tief in die Taschen seines Morgenmantels. »Sechs, acht Wochen, und ich wäre saniert gewesen.« Er kramte ein zerknülltes Stück Papier aus einer Tasche und betrachtete es nachdenklich. »Mann, das hab ich ja ganz vergessen … Ist für dich.« Er gab es mir. »Die haben deinen – wie hieß er doch gleich? – Paton Bobby gefunden. McGuire im Studio … Scheißstudio.«
Ich glättete den Zettel und las, was darauf stand. ›Sheriff Paton Bobby, Los Feliz Ranch, White Lakes, Santa Fe.‹
»Santa Fe?«
Philip sagte: »Er war noch nicht mal in Kalifornien. Gut, dass du mir gesagt hast, dass er ein Cop ist. Sonst hätten wir ihn nie gefunden.«
Ich drehte mich um und blickte aus dem Küchenfenster. Ich sah eine Zypresse, deren Spitze in der Länge von einem Meter abgebrochen war und herunterhing. Dahinter ein Maschendrahtzaun, der die Grenze zu den Gleisen der Electric Railway bildete. Paton Bobby war also Sheriff in Santa Fe, New Mexico. Was konnte Dr. Salvador Carriscant nur von ihm wollen?
»Besteht Aussicht auf Kaffee?«, fragte Philip. »Mein Hals macht mich fertig.«
Ich traf Carriscant am frühen Morgen am Bahnhof von Pasadena. Er hatte mich gebeten, mit ihm nach Pasadena zu fahren, und aus irgendeinem Grund und zu meinem eigenen Erstaunen hatte ich auf der Stelle eingewilligt – ohne lange nachzudenken oder meinen Entschluss gar zu bedauern.
Er hatte gefragt, und ich hatte zugestimmt. Erst später war mir eingefallen, wie anmaßend es von ihm war und wie paradox von mir. Aber er hatte meine Phantasie geweckt, dieser Salvador Carriscant, und gegenüber seiner so selbstverständlichen Behauptung, dass eine enge Verbindung zwischen uns bestehe, verlor ich immer mehr die Vorbehalte. Aber ich lenkte meine Gedanken auf einen anderen Beweggrund, der mir annehmbarer, wenn auch weltfremd erschien. Dies war ein Abenteuer, eine faszinierende Suche, und ich würde es später bestimmt bedauern, wenn ich sie nicht wenigstens noch ein Stück des Weges mitgegangen wäre. Wir konnten in zwei Tagen zurück sein, und meine Neugier, was Carriscant und Paton Bobby betraf, war brennend. Außerdem war ich noch nie in New Mexico gewesen.
Der Wartesaal in Pasadena war sauber und roch nach Karbol. Die ersten Pendler tauchten auf, und an den Zeitungskiosken stapelten sich noch die unausgepackten neuen Tageszeitungen und Zeitschriften. Carriscant stand an unserem vereinbarten Treffpunkt am Eingang des Coffee Shops. Er sah unsicher und verloren aus. Das Lächeln, das in sein Gesicht trat, kam von Herzen. Er streckte mir zwei Fahrkarten entgegen.
»Ich habe Ihnen eine Fahrkarte gekauft«, sagte er. »Brauchen Sie nicht zu bezahlen.«
»Keine Sorge«, erwiderte ich. »Ich hab’s mir nicht anders überlegt.«
»Ich bin Ihnen sehr dankbar dafür, dass Sie mich begleiten«, sagte er, als wir zum Bahnsteig gingen, von wo der Express nach Santa Fe abfuhr. »Sie werden es vielleicht nicht für möglich halten, aber das letzte Mal bin ich 1897 mit dem Zug gefahren. Von Glasgow nach Liverpool.«
Paton Bobbys Ranch lag südlich von Santa Fe, ein paar Meilen außerhalb von White Lakes auf einem grasbewachsenen Hügel. Im Hintergrund erhoben sich massig und düster die Sangre-de-Cristo-Berge. Wir mieteten uns ein Taxi für den ganzen Tag (für unglaubliche zwanzig Dollar) und machten uns nach dem Frühstück von unserem Hotel in der Nähe des Bahnhofs auf den Weg. Ich fragte Carriscant, ob er Bobby vorsichtshalber telegrafisch von unserem Kommen informiert habe. Er sagte, er habe sich dagegen entschieden.
»Und wenn er nicht da ist?«, fragte ich verärgert.
»Oh, ich habe mich schon überzeugt, dass er da ist. Ich wollte nur nicht, dass er weiß, dass ich komme.« Carriscants englischer Akzent brachte es mit sich, dass er manchmal unerträglich überheblich klang. Dies war so ein Fall.
»Wer ist Paton Bobby?«, fragte ich. »Woher kennen Sie ihn?«
»Wir sind uns vor langer Zeit begegnet. Eine Weile waren wir recht eng befreundet.«
Ich drang absichtlich nicht weiter in ihn. Ich wollte ihm nicht die Befriedigung geben, mich noch weiter mit seinen Andeutungen abspeisen zu können. Was diese Suche betraf, war Carriscant wenig bereit, mir auch nur irgendwas zu erzählen. Informationen über seine Absichten und seine Vergangenheit waren nur spärlich aus ihm herauszubekommen – und wenn, dann eher unabsichtlich. Ab und zu präsentierte er einem einen Goldklumpen Information wie eine als wolle er einem Appetit machen, aber wenn man ausdrücklich um Informationen bat, zog er sich zurück. Ich war mir nicht sicher, ob er nicht ein Spielchen mit mir trieb, ob er völlig ohne Hintergedanken war – ein alter Mann, dessen Erinnerung zuweilen aufleuchtete – oder ob er einer der gewieftesten Lügner war, die mir je begegnet waren. Was sollte zum Beispiel der Hinweis auf eine Zugreise von Glasgow nach Liverpool im Jahr 1897? War es nur seine Unsicherheit, seine Verletzlichkeit, die sich darin zeigte, oder handelte es sich um ein Teilchen aus einem größeren Puzzle? Ich hatte es für den Augenblick aufgegeben, ihm irgendwelche Informationen zu entlocken. Auch ich konnte die Gleichgültige spielen und es mit jedem aufnehmen, wenn es darum ging, nichts rauszulassen.
Wir bogen von der Straße Albuquerque-Las Vegas ab und folgten den Schildern nach Clines Cors und Encino. In White Lakes gerieten wir auf eine weiße unbefestigte Straße, die durch eine weite Salbeibusch-Hochebene führte. Schließlich kamen wir an einen Zaun aus waagerechten Brettern und sahen auch bald das Tor mit der Aufschrift ›Rancho Los Feliz‹, die tief ins Holz gebrannt war.
»Was? ›Ranch der Glücklichen‹?«, sagte Carriscant. »Es ist schon komisch, wie das Spanische...