E-Book, Deutsch, 464 Seiten
Boyd Armadillo
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-311-70081-4
Verlag: Kampa Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 464 Seiten
ISBN: 978-3-311-70081-4
Verlag: Kampa Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
William Boyd, 1952 als Sohn schottischer Eltern in Ghana geboren, ist dort und in Nigeria aufgewachsen, bevor er in Großbritannien zur Schule ging und studierte. Dass er sich in keiner Kultur ganz zu Hause fühlt, sei für einen Schriftsteller eine gute Voraussetzung, sagt Boyd. Seinen ersten Roman veröffentlichte er 1981, heute gilt er als einer der bedeutendsten und erfolgreichsten Erzähler der zeitgenössischen Literatur. William Boyd lebt mit seiner Frau in London und im südfranzösischen Bergerac, wo er auch Wein anbaut. Wo immer er sich gerade aufhält - er geht für sein Leben gern spazieren.
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1. Kapitel
Irgendwann in unserer Zeit – auf das genaue Datum kommt es nicht an; jedenfalls war es noch sehr früh im Jahr – begab sich ein junger Mann knapp über dreißig, um die eins fünfundachtzig groß, mit pechschwarzem Haar und ernsten, feinen, aber bleichen Zügen, zu einem Geschäftstermin und fand einen Erhängten.
Lorimer Black starrte Mr Dupree entgeistert an, von jähem Entsetzen gepackt, zugleich jedoch merkwürdig teilnahmslos – offenbar die widerstreitenden Symptome einer inneren Panik, dachte er. Mr Dupree hatte sich an einem dünn isolierten Wasserrohr erhängt, das an der Decke des kleinen Raums hinter dem Foyer verlief. Ein Aluminiumtreppchen lag umgekippt unter seinen etwas gespreizten Füßen (die hellbraunen Schuhe brauchten dringend Pflege, bemerkte Lorimer). Mr Dupree war der erste Tote in seinem Leben, zugleich der erste Selbstmord und der erste Erhängte; Lorimer fand diese Häufung von Erstmaligkeiten zutiefst beunruhigend.
Sein Blick wanderte zögernd von Mr Duprees abgeschabten Schuhspitzen aufwärts, verweilte kurz am Hosenschlitz, wo er keine Anzeichen einer Spontanerektion entdeckte, wie sie für Erhängte angeblich typisch ist, und erfasste dann das Gesicht des Toten. Mr Duprees Kopf war ein bisschen zu weit vorgebeugt, seine Züge wirkten schlaff und schläfrig – genau wie bei den erschöpften Pendlern, die auf unbequemen Sitzbänken in überheizten Bahnabteilen einnicken. Hätte man Mr Dupree mit dieser verrenkten Kopfhaltung im Achtzehnuhrzwölfzug ab Liverpool Street sitzen und dösen sehen, hätte man vorahnend Mitleid mit ihm haben können, denn er würde mit einem steifen Hals erwachen.
Steifer Hals. Geknickter Hals. Gebrochener Hals. Meine Güte! Lorimer stellte behutsam den Aktenkoffer ab, ging lautlos an Mr Dupree vorbei und öffnete die Tür am anderen Ende des Vorraums. Ein Bild der Verwüstung bot sich ihm. Durch die geschwärzten und verkohlten Dachbalken der Fabrikhalle sah er den bleiernen Regenhimmel, der Boden war noch immer mit den verschmorten und geschmolzenen Leibern der etwa tausend nackten Schaufensterpuppen bedeckt (976 Stück laut Lieferschein, für eine amerikanische Ladenkette). All das verbrannte und verklumpte »Fleisch« jagte ihm einen künstlichen Schauder ein (künstlich deshalb, weil es schließlich nur Kunststoff war und weil niemand wirklich gelitten hatte, wie er sich sagte). Hier und da war der Kopf eines stereotypen Schönlings erhalten, oder ein gebräuntes Model warf ihm einen grotesk verführerischen Blick zu. Die unbeirrte Heiterkeit der Mienen verlieh der Szenerie eine anrührend stoische Note. Hinter der Halle befanden sich, wie Lorimer aus dem Bericht wusste, die niedergebrannten Werkstätten, die Ateliers, der Speicher für die Formen aus Ton und Gips, die Plastikgießerei. Das Feuer, außergewöhnlich bösartig, hatte ganze Arbeit geleistet. Offensichtlich hatte Mr Dupree angeordnet, dass alles unverändert blieb und keine der zerflossenen Schaufensterpuppen angerührt wurde, bevor er sein Geld erhalten hatte. Und Lorimer sah, dass Mr Duprees Anweisungen befolgt worden waren.
Lorimer machte leise ploppende Geräusche mit den Lippen. »Hmmm«, sagte er, dann: »Herr im Himmel!« Dann wieder: »Hmmmm.« Er merkte, dass seine Hände etwas zitterten, und schob sie in die Taschen. Üble Geschichte, dachte er, und immer wieder: Üble Geschichte. Die Redewendung kreiste sinnlos in seinem Kopf wie ein Mantra. Vage und mit Widerstreben stellte er sich vor, wie Hogg auf den Selbstmord Duprees reagieren würde: Hogg hatte ihm schon von anderen »Abgängern« erzählt, und Lorimer fragte sich, wie man in solchen Fällen verfuhr …
Er schloss die Tür und machte sich einen Moment lang Sorgen wegen der Fingerabdrücke. Aber warum sollten sie bei einem Selbstmord Spuren sichern? Erst als er im Foyer nach dem Telefon griff, kam ihm der Gedanke, dass es vielleicht, nur mal angenommen, gar kein Selbstmord war.
Der Kommissar, der auf seinen Anruf hin erschien, Detective Sergeant Rappaport, wirkte nicht viel älter als Lorimer, redete ihn aber ohne erkennbaren Grund durchgängig mit »Sir« an. war auf seinem Ausweis zu lesen.
»Sie sagen, Sie hatten eine Verabredung mit Mr Dupree, Sir.«
»Ja. Vor über einer Woche hab ich den Termin gemacht.« Lorimer zückte seine Visitenkarte. »Ich war pünktlich um zehn Uhr dreißig hier.«
Sie standen jetzt draußen unter dem roten Plastikschild mit dem Schriftzug . Drinnen befassten sich die Polizei und andere Zuständige mit den sterblichen Überresten von Mr Dupree. Ein eifriger Beamter spannte flatternde Absperrbänder und befestigte sie an Laternenpfosten und Geländern, um den Zugang zur Fabrik pro forma zu blockieren und ein halbes Dutzend Gaffer, die frierend und ausdruckslos herumstanden, auf Distanz zu halten. Die warten auf die Leiche, dachte Lorimer. Wie reizend.
Detective Rappaport studierte sorgfältig die Visitenkarte und deutete dann mit einer theatralischen Geste an, dass er sie gern einstecken wollte. »Darf ich, Sir?«
»Aber sicher doch.«
Rappaport zog eine dicke Brieftasche aus seiner Lederjacke und schob Lorimers Karte hinein. »Ist nicht gerade Ihre gewohnte Art, den Tag zu beginnen, würde ich denken, Sir.«
»Nein … sehr bedrückend«, formulierte Lorimer vorsichtig. Rappaport war ein stämmiger Typ, muskulös und blond, mit kornblumenblauen Augen – eigentlich untypisch für einen Kommissar, dachte Lorimer aus irgendwelchen Gründen, eher würde man auf einen Surfer oder Tennisprofi tippen oder auf einen Kellner in Los Angeles. Außerdem wusste Lorimer nicht, ob Rappaports übertriebene Höflichkeit ihn irritieren oder in Sicherheit wiegen sollte – oder ob sie auf hinterhältige Art ironisch gemeint war. Wahrscheinlich Letzteres, entschied Lorimer. Rappaport würde sich später über ihn lustig machen, in der Kantine oder in der Kneipe oder wo immer sich die Kommissare trafen, um zu quatschen und ihren Frust loszuwerden.
»Jetzt wissen wir ja, wo Sie zu finden sind, Sir, und werden Sie nicht länger belästigen. Danke für Ihre Hilfe, Sir.«
Dieses penetrante »Sir«, das ist schon mehr als Ironie, dachte Lorimer. Das war herablassend, ganz ohne Frage, zugleich eine Art Stachel, ein versteckter Hohn, gegen den man sich nicht wehren konnte.
»Dürfen wir Sie irgendwohin zurückbringen, Sir?«
»Nein, vielen Dank, Mr Rappaport. Mein Wagen steht gleich um die Ecke.«
»Das ist stumm, Sir: Ein alter normannischer Name.«
Altes normannisches Arschloch, dachte Lorimer, als er zu seinem Toyota auf dem Bolton Place ging. Wenn du wüsstest, was ich in meinem Aktenkoffer habe, würde dir deine Selbstgefälligkeit vergehen. Der Gedanke besserte seine Laune ein wenig, doch nur vorübergehend. Als er den Wagen aufschloss, legte sich die Bedrückung wie ein schwerer Umhang auf seine Schultern. Was trieb einen Mr Dupree dazu, auf so klägliche Weise abzutreten? Eine Wäscheleine ans Wasserrohr zu binden, sich die Schlinge um den Hals zu legen und die Trittleiter unter den Füßen wegzustoßen? Was Lorimer vor sich sah, war nicht der grotesk verrenkte Kopf, sondern es waren eher diese abgeschabten Schuhe knapp einen Meter über dem Boden. Und dazu dieser elende Januartag, düster und trist, genau wie der Bolton Place. Die nackten Platanen mit ihrem Tarnmuster wie aus dem Golfkrieg, das trübe Tageslicht, die Kälte des schärfer gewordenen Winds und der Regen ließen die rußigen Backsteinfassaden der an sich völlig akzeptablen Jahrhundertwendehäuser fast kohlschwarz erscheinen. Ein Kind in moosgrüner Steppjacke tappte auf dem Rasenviereck in der Mitte des Platzes umher und suchte vergeblich nach Ablenkung, indem es über die matschigen Beete lief, einer kecken Amsel nachrannte, schließlich totes Laub zusammenscharrte und ziellos damit warf. In einer Ecke saß die Kinderfrau oder Aufpasserin oder Mutter auf der Bank, rauchte eine Zigarette und nippte an einer grellfarbenen Getränkedose. Eine Grünfläche in der Stadt, umgeben von ehrwürdigen Gebäuden, ein sorglos spielendes Kleinkind auf gepflegtem Rasen, beaufsichtigt von einer treu sorgenden Pflegeperson – unter anderen Umständen hätten diese Einzelheiten zu einem eher heiteren Gesamtbild beigetragen, aber nicht heute, dachte Lorimer. Heute nicht.
Er bog gerade vom Platz in die Hauptstraße ein, als ein Taxi so dicht vor ihm vorbeifuhr, dass er mit einem Ruck anhalten musste. Das Diorama des Bolton Place geisterte über das glänzende Heck des Taxis, und der Fluch blieb Lorimer im Halse stecken, als er das von der Heckscheibe umrahmte Gesicht sah. Das passierte ihm von Zeit zu Zeit, gelegentlich mehrmals in der Woche – er sah ein Gesicht in der Menge, durch ein Schaufenster oder auf der gegenläufigen Rolltreppe, das von so strahlender, überirdischer Schönheit war, dass er am liebsten vor Glück aufgeschrien und zugleich vor Enttäuschung geweint hätte. Wer hatte gesagt, ein Gesicht in der U-Bahn könne einem den ganzen Tag verderben? Alles lag in diesem einen Blick, in der flüchtigen Wahrnehmung, in der vorschnellen Analyse der verfügbaren optischen Erscheinung. Seine Augen drängten zum Urteil, sie waren zu gierig nach Schönheit. War ihm ein zweiter Blick vergönnt, führte der fast immer zur Enttäuschung; die gründliche Betrachtung war stets der strengere Richter. Und nun war es ihm...