Boyd | All die Wege, die wir nicht gegangen sind | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 176 Seiten

Reihe: Gatsby

Boyd All die Wege, die wir nicht gegangen sind


1. Auflage 2018
ISBN: 978-3-311-70031-9
Verlag: Kampa Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 176 Seiten

Reihe: Gatsby

ISBN: 978-3-311-70031-9
Verlag: Kampa Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Bethany Mellmoth hat sich ein großes Ziel gesetzt. Sie will Schriftstellerin werden. Oder vielleicht doch Fotografin? Oder Schauspielerin? So schnell sie einen Plan fasst, so schnell ist er wieder passé. Irgendetwas kommt eben immer dazwischen. Und auch in der Liebe hat Bethany kein glückliches Händchen. An Verehrern ist kein Mangel, nur taugt leider keiner von ihnen. Und als wäre das alles nicht genug, muss Bethany sich auch noch mit den Liebeswirren ihrer Eltern befassen. So stolpert sie durch ihr Leben in London - von Job zu Job, von Mann zu Mann, von Pleite zu Pleite - und lässt doch nie den Kopf hängen: »Dinge gehen eben schief.« Schwungvoll und mit leichter Hand zeichnet William Boyd das Bild einer jungen Frau, der viele Türen offenstehen, die aber trotzdem ständig mit dem Kopf gegen die Wand rennt, und er erzählt von all den kleinen Entscheidungen und Zufällen, die unser Leben formen - ob wir wollen oder nicht.

William Boyd, 1952 als Sohn schottischer Eltern in Ghana geboren, ist dort und in Nigeria aufgewachsen, bevor er in Großbritannien zur Schule ging und studierte. Dass er sich in keiner Kultur ganz zu Hause fühlt, sei für einen Schriftsteller eine gute Voraussetzung, sagt Boyd. Seinen ersten Roman veröffentlichte er 1981, heute gilt er als einer der bedeutendsten und erfolgreichsten Erzähler der zeitgenössischen Literatur. William Boyd lebt mit seiner Frau in London und im südfranzösischen Bergerac, wo er auch Wein anbaut. Wo immer er sich gerade aufhält - er geht für sein Leben gern spazieren.
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ZWEI . . .


Bethany überquert die Piccadilly Road und at- met tief durch, als sie den Park betritt. Sie verspürt dabei dieselbe Freude und Erleichterung wie jedes Mal, wenn sie die laute, hektische Stadt hinter sich lässt und ihr Blick auf die grüne, wohlgeordnete, in sich geschlossene Landschaft trifft, mit dem sauber getrimmten Rasen und den hochaufragenden, dicht belaubten Platanen, die sich bis hinauf zur Hyde Park Corner erstrecken. Sie macht sich auf den Weg zur »Stierkampfarena« und muss dabei dem Drang widerstehen, ihre Mittagszigarette jetzt gleich zu rauchen. Erst die Arbeit, dann das Vergnügen, sagt sie sich.

Bei der Stierkampfarena handelt es sich um ein großes, asphaltiertes Rondell am östlichen Parkende, mit einem Laternenpfahl in der Mitte und vier Bänken, die gleichmäßig ringsherum angeordnet sind, als markierten sie die Quadranten auf einem Kompass. Sie hatte mit Sholto auf der Bank im Nordwesten gesessen, als er ihr eröffnete, dass ihre Beziehung beendet sei und er auf Reisen gehen werde – nach Namibia, nach Laos und Alaska –, und zwar allein. Jetzt steht sie am Laternenpfahl und kann die Sholto-Schwingungen in der Stierkampfarena am heutigen Tag sehr stark spüren – manchmal sind es gute Schwingungen; und manchmal fühlt sie sich davon so überwältigt, dass sie weinen muss. Sie entscheidet sich für die Bank im Südwesten und nimmt dort ihre Schreibkladde aus der Tasche.

Nach dem Abbruch ihres Studiums (Englische und Amerikanische Literatur) und dem Scheitern ihrer Bemühungen, einen Platz an einer Schauspielschule zu ergattern (insgesamt sechs Vorsprechtermine waren es), ist Bethany zu dem Entschluss gelangt, dass ihr nichts anderes übrigbleibt, als Schriftstellerin zu werden. Wohl wissend, dass sie einen Job braucht, um sich beim Schreiben über Wasser zu halten, hat sie sich widerwillig an ihre Mutter gewandt und sie um Hilfe gebeten. Bethany weiß, dass ihre Mutter fast alles arrangiert, worum man sie bittet – es ist nur eine Frage der Zeit. Folglich arbeitet Bethany nun in einem kleinen, schmalen Lädchen in der Royal Arcade namens Pergamena, in dem es antike Füllfederhalter und erlesene Sorten von Papier zu kaufen gibt. Die Inhaberin Mrs  Donatella Brazzi (die auf rätselhafte Weise um mehrere Ecken mit Bethanys Mutter bekannt ist) schaut hin und wieder mal vorbei und zieht sich dann immer nach hinten in das winzige Büro zurück, um stundenlang lautstark mit ihrer Familie in Italien zu telefonieren. Mitunter kommt es vor, dass sich drei Tage lang kein einziger Kunde in den Laden verirrt. Was Bethany nicht weiter stört, schließlich verdient sie auch so ihr Geld und hat obendrein reichlich Zeit, um über ihren Roman nachzudenken.

Bethany nutzt jede Mittagspause – sofern das Wetter mitspielt –, um im Park an ihrem Roman zu schreiben, da sie das Gefühl hat, dass ihr das Schreiben an der frischen Luft leichter von der Hand geht. Und natürlich ist die Stierkampfarena, in Anbetracht ihres letzten, quälenden Gesprächs mit Sholto, einer der besonderen Orte in ihrer persönlichen Geographie, ein ganz zentraler Punkt auf der Landkarte ihres Lebens. Der Green Park, so viel steht schon jetzt fest, wird für immer eine ganz eigene Saite in ihr zum Klingen bringen. Dieser Park, das weitläufige, asphaltierte Rondell der Stierkampfarena mit der Laterne in der Mitte und jene so harmlos wirkende Holzbank, all das wird ihr bis ins hohe Alter auf einzigartige, unvergessliche Weise präsent bleiben.

Bethany fehlt noch die Inspiration, deshalb gönnt sie sich ihre Mittagszigarette heute früher, wenn auch mit schlechtem Gewissen. Der Tag ist sonnig und windig, mit dicken weißen Wolken hie und da, die schnell am Himmel vorbeiziehen. Sie sieht den alten Mann auf seiner üblichen Bank sitzen, in seinem üblichen Tweedmantel und mit seiner Baskenmütze, das Notizbuch aufgeschlagen auf den Knien, den Kopf hochgereckt, als wollte er die Luft selbst erschnuppern. Es vergeht kaum ein Tag, an dem sie diesem alten Mann nicht hier begegnet. Einmal, an einem sehr verregneten Samstag, als sie über Pfützen hinweg die Piccadilly Road entlanghastete, unterwegs zu einem Coffee-Shop, hat sie ihn von der Straße aus gesehen, hier an seinem Stammplatz in der Stierkampfarena, unter einem aufgespannten Regenschirm.

Sie schlägt ihre Kladde auf, hält bei der Titelseite kurz inne: . Sie genießt jedes Mal den wohligen Schauer, den diese schlichten Worte in ihr auslösen. Weil sie alles so wirklich erscheinen lassen, ein Wunsch ist in Erfüllung gegangen.

Die Protagonistin von trägt den Namen Meredith Crowe. Sie ist ungefähr in Bethanys Alter, und der Roman zeichnet den leichten Nervenzusammenbruch nach, den sie nach der Trennung von ihrem Freund erleidet – Mungo, Cosmo, Aldo (der Name ändert sich laufend). Aldo und Meredith haben sich eines Abends im Green Park getrennt, unter Tränen und bitteren Vorwürfen auf beiden Seiten, nachdem Aldo gestanden hat, dass er zu einer früheren Freundin zurückkehren werde, seiner Sandkastenliebe.

Die unglückliche Meredith zieht es immer wieder in den Park zurück – sie kann einfach nicht anders –, und um sich zu trösten, verwandelt sie den Park in ihrer Phantasie in ein kleines Königreich mitten in London, über das sie selbst als milde Regentin herrscht. Meredith kennt jeden Winkel ihres kleinen, nur wenige Morgen Land umfassenden Reiches, kennt seine Straßen und Monumente (die Kriegerdenkmäler, den Zierbrunnen), die beiden Imbissbuden aus Holz, seine grünen Alleen, die sanften Hügel und Täler, die Tore an seinen verschiedenen Zugängen (manche prächtig-barock, andere schlicht funktional) und seine kleinen, gepflegten Wäldchen. Die Parkwächter mit ihrer Livree in Olive- und Forstgrün sind ihr treues Gefolge. Sie hat nichts gegen fremde Besucher und gewährt ihnen gern sicheres Geleit, während sie kreuz und quer durch ihr Reich ziehen, dessen Grenzen sie frühmorgens um fünf öffnet und um Punkt Mitternacht wieder gut verschließt. Wenn die Kehrfahrzeuge vorüberdröhnen, die mit ihren schnell rotierenden Bürsten zuverlässig für Sauberkeit auf ihren Straßen sorgen, neigt sie in stiller Anerkennung schweigend ihr Haupt, und bisweilen sinnt sie darüber nach, ob ihre Nachbarin, die Königin eines viel größeren Landes, die in ihrem Palast auf der anderen Seite von Constitution Hill residiert, sie wohl eines Tages einmal besuchen kommt.

Mit dem Anfang ihres Romans ist Bethany bislang sehr zufrieden: Der Rahmen ist abgesteckt – der Park und seine Traumexistenz in Königin Merediths Kopf sind so weit eingeführt und anschaulich beschrieben –, und damit ist der Kontext für Merediths Wahnvorstellungen und ihre sich anbahnende psychische Krise klar … Bethany weiß bloß noch nicht so ganz, wie es nun weitergehen soll.

Am Montag darauf setzt Bethany sich an ihren gewohnten Platz auf der Sholto-Bank und schlägt ihren Roman auf. Es ist warm: ein heißer, windstiller Tag. Die Wiese ist voller Leute, Touristen und Büroangestellte; viele liegen ausgestreckt im Gras und sonnen sich, andere lesen oder picknicken. Von ferne hört sie das gleichförmige dumpfe Schlagen von Trommeln, während die Soldaten der Palastgarde, unterwegs zum Wachwechsel am Buckingham Palace, die Mall hinaufmarschieren. Vielleicht sollte Meredith einen Soldaten kennenlernen, überlegt sie, und ihn in ihrem Wahn für einen lange verschollenen Prinzen halten …

Ihr fällt auf, dass die Bank, wo der alte Mann sonst immer zu sitzen pflegt, heute verwaist ist, aber schon wenig später entdeckt sie ihn, drüben im sogenannten Hain – bestehend aus etwa einem Dutzend uralter, kreisförmig angepflanzter Bäume jenseits des breiten, an der östlichen Seite des Parks entlang verlaufenden Hauptwegs, gegenüber der Stierkampfarena. Er steht auf der Lichtung inmitten der Bäume und blickt konzentriert zu den Blättern empor, als hätte er dazwischen irgendetwas entdeckt. Er schreibt etwas in sein Notizbuch.

»Hätten Sie vielleicht Feuer für mich?«

Ganz versunken in ihren Plot, sieht Bethany auf. Meredith Crowe meinte soeben, Aldo in einer Touristengruppe entdeckt zu haben, ist hingelaufen, hat ihm eine Ohrfeige verpasst und damit einen wildfremden Mann erschreckt und verärgert.

Der alte Mann steht direkt vor ihr, zwischen den knochigen Fingern eine nicht angezündete Zigarette in einer kurzen Spitze. Bethany kramt Streichhölzer aus ihrer Tasche und reicht sie ihm.

»Darf ich?« Mit diesen Worten setzt er sich neben sie, zündet sich die Zigarette an und nimmt einen übertrieben tiefen Zug. Beim Ausatmen streckt er die Hand mit der Zigarettenspitze weit von sich weg und beobachtet sehr aufmerksam, wie der ausgestoßene Rauch von einer sanften Brise auseinandergetrieben wird. Er zückt sein Notizbuch und schreibt etwas hinein. Sein hageres Gesicht ist tief gefurcht, er hat weißes Haar, das im Nacken länger ist und auf seinem Hemdkragen aufliegt.

»Mir ist nicht entgangen, dass Sie ständig schreiben«, sagt er, und Bethany erzählt ihm von ihrem Roman.

»Wie außerordentlich«, sagt er. »Ich bin nämlich auch Romanautor. Gestatten, Yves Hill.« Er streckt ihr die Hand entgegen. »Y, V, E, S – französisch. «

Sie geben sich die Hand – sein Händedruck ist fest –, und Bethany stellt sich ihrerseits vor, ganz fasziniert davon, zum ersten Mal im Leben einem anderen Schriftsteller zu begegnen, einem Kollegen...


Thiesmeyer, Ulrike
WILLIAM BOYD, 1952 als Sohn schottischer Eltern in Ghana geboren, ist dort und in Nigeria aufgewachsen, bevor er in Großbritannien zur Schule ging und studierte. Dass er sich in keiner Kultur ganz zu Hause fu¨hle, sei fu¨r einen Schriftsteller eine gute Voraussetzung, sagt Boyd. Seinen ersten Roman vero¨ffentlichte er 1981, heute gilt er als einer der bedeutendsten und erfolgreichsten Erza¨hler der zeitgeno¨ssischen Literatur. Zuletzt erschienen in der Reihe Der kleine Gatsby die Erza¨hlung All die Wege, die wir nicht gegangen sind und im Kampa Verlag sein Roman Blinde Liebe und der Erza¨hlband Der Mann, der gerne Frauen ku¨sste, außerdem Neuausgaben von Eine große Zeit, Die blaue Stunde, Brazzaville Beach, Die neuen Bekenntnisse und Ruhelos. William Boyd lebt mit seiner Frau im Londoner Stadtteil Chelsea und im su¨dfranzo¨- sischen Bergerac, wo er auch Wein anbaut.

Boyd, William
William Boyd, 1952 als Sohn schottischer Eltern in Ghana geboren, ist dort und in Nigeria aufgewachsen, bevor er in Großbritannien zur Schule ging und studierte. Dass er sich in keiner Kultur ganz zu Hause fühlt, sei für einen Schriftsteller eine gute Voraussetzung, sagt Boyd. Seinen ersten Roman veröffentlichte er 1981, heute gilt er als einer der bedeutendsten und erfolgreichsten Erzähler der zeitgenössischen Literatur. William Boyd lebt mit seiner Frau in London und im südfranzösischen Bergerac, wo er auch Wein anbaut. Wo immer er sich gerade aufhält – er geht für sein Leben gern spazieren.



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