E-Book, Deutsch, 416 Seiten
Boëtius Die blaue Galeere
1. Auflage 2013
ISBN: 978-3-641-12197-6
Verlag: btb
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 416 Seiten
ISBN: 978-3-641-12197-6
Verlag: btb
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Der von der Inquisition verfolgte flämische Maler Jan Massys findet 1550 Zuflucht in der Hafenstadt Genua. Er, der Frau und Kinder in Antwerpen zurücklassen musste, scheint alles verloren zu haben – da erhält er völlig überraschend den Auftrag, das Porträt des mächtigsten Mannes der Stadt zu malen. Massys ahnt nicht, dass der Auftrag sein Leben für immer verändern wird …
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Massys stand vor dem Spiegel, der über der Waschschüssel hing, und sah, dass sein Gesicht voller Flecken war. Im ersten Moment dachte er, es seien Verunreinigungen auf dem Spiegelglas. Doch da er am ganzen Körper juckende Stellen spürte, zog er sich nackt aus. Überall auf der Haut zeigten sich Spuren von Insektenbissen. Er kramte aus seinem Leinensack Olivenölseife hervor, wusch sich kalt und betupfte dann die Pusteln mit einer Tinktur aus einem Fläschchen, das er immer bei sich trug, denn er musste häufig in billigen Herbergen übernachten. Es war eine ätherische Lösung aus pulverisierten Blüten von kaukasischen Chrysanthemen, Totenblumen, die aromatisch roch und gegen solche Verletzungen half.
Jetzt erst bemerkte Massys, dass die kleine Katze wieder verschwunden war. Während er sich anzog, öffnete sich die Tür, und ein Mann erschien. Er wartete schweigend, bis Massys mit dem Ankleiden fertig war. Dann sagte er: »Du da, heißt du nicht Massys? Und bist du nicht ein geschickter Maler? Es gibt einen Auftrag für dich. Komm heute in die Kirche San Matteo, und zwar um genau zwei Uhr. Verspäte dich nicht. Es soll nicht zu deinem Schaden sein!« Massys starrte ihn verwundert an. Woher wusste der Kerl seinen Namen und seinen Beruf? Die Kleider des Fremden waren voller Farbflecke, was seine Profession verriet. Er musste ebenfalls Maler sein, aber einer, der sich vermutlich mit niederen Tätigkeiten wie dem Bemalen von Türen und Möbeln durchschlug. Wahrscheinlich wurde Massys wieder einmal mit seinem Vater verwechselt. Oder war es eine Falle? Hatte ihn die Inquisition auch hier im Visier? Auf seine Fragen erhielt er keine Antwort. Statt dessen reichte der Mann ihm eine silberne Münze. »Dies ist ein kleiner Vorschuss«, sagte er. »Du solltest dir ein gutes Mahl leisten und deine Kleidung in Ordnung bringen lassen. Ich komme auf Geheiß des Principe, und der Fürst legt Wert auf ein würdevolles Auftreten seiner Günstlinge.«
Der Mann verschwand. Als die Tür sich hinter ihm schloss, glaubte Massys zu träumen. Er ein Günstling des großen Andrea Doria?! Des Principe, der in den Mauern der Stadt, soviel hatte er schon mitbekommen, wie ein Gott verehrt wurde?
Massys befolgte den Rat des Mannes. Er erstand bei einem Trödler ein hellblaues Wams, grüne Beinkleider und einen schwarzen, breitkrempigen Hut. Dann aß er ein wenig, denn großen Hunger hatte er nicht. Rechtzeitig vor zwei Uhr machte er sich auf den Weg, nachdem ihm der Wirt der Herberge die Richtung gewiesen hatte. Doch bald fand er sich im Gewirr der Gassen nicht mehr zurecht. Hatte er diese kleine Madonna an der Häuserecke nicht schon einmal gesehen? War er diesen finsteren Treppenaufgang voller Kothaufen, auf dessen oberem Absatz eine zertretene, tote Ratte mit aufgeplatztem Körper lag, nicht vorhin bereits emporgestiegen? Zu seinem Schreck schlugen jetzt die Turmuhren mehrerer seinen Blicken verborgener Kirchen zweimal. Er beschleunigte seine Schritte. Panik befiel ihn. Dieser Laden da mit den aufgeschlitzten Fischleibern, den schleimigen Kraken und grünen Meeresspinnen, ihn hatte er jetzt schon bestimmt zum dritten Mal passiert! Aber gab es nicht zahllose solcher Läden hier? Die Genueser waren ganz offenbar verfressene Leute!
Sein Blick fiel wie zufällig auf eine Steinfigur an einer Hausfassade. Rollte sie nicht höhnisch die Augen und drehte, als er vorbeiging, den Kopf, um ihm nachzusehen? Er warf den Beutel auf die andere Schulter und ging zügig weiter. Doch dann erwies sich auch der zuletzt eingeschlagene Weg als Sackgasse. Ein schmales Haus, siebengeschossig wie die anderen, versperrte den Weg. Die Tür stand offen und gewährte ihm einen Blick auf ausgetretene Stufen, die in einem dunklen Schacht steil nach oben führten. Raue Stimmen erklangen von dort. Irgendwo polterte ein Gegenstand zu Boden. Was konnte er anderes tun als umkehren und mit einer neuen Abzweigung sein Glück versuchen.
Am schlimmsten waren die Bettler. Es gab sie überall. Wie Schatten huschten sie über die Pflastersteine, wie Fliegen krochen sie an den Wänden entlang, wie Kröten hockten sie in feuchten, dunklen Ecken. Ihre zahnlosen Münder, ihre verrenkten Glieder, ihre toten Augen verfolgten ihn überall hin. Massys empfand kein Mitleid mit ihnen, zu selbstbewusst, zu mächtig schienen sie ihm, wie sie ihn immer wieder berührten, am Mantel packten und mit drohender Stimme Almosen abforderten. Er empfand nur Scham darüber, dass er selbst im Grunde ein Bettler war.
Er blieb stehen und klappte die Uhr auf. Die Zeit drängte. Seine Zukunft, sein Glück hing davon ab, dass er sich nicht allzu sehr verspätete. Nicht über das Maß hinaus, das man einem Ortsunkundigen würde zubilligen müssen. Er fragte mehrmals nach dem Weg. Doch dies hieß, sich der Spottlust der Einheimischen auszuliefern. Sie machten sich wahrscheinlich einen Spaß daraus, Fremde wie ihn im Kreis herumzuschicken, und leider war sein Italienisch mehr als dürftig. Er verstand kaum, was man ihm erklärte. »San Matteo? Eine sehr schöne Kirche, und gar nicht schwer zu finden. Du musst folgenden Weg gehen!« Und dann kam ein gewaltiges Deuten, Fuchteln mit den Armen, ein Kreisen der Hände, ein Schwirren von zahllosen ›a sinistra‹ und ›a destra‹.
Massys versuchte es mit Latein, aber nur ein Mönch verstand ihn, der ihm schon eine Weile gefolgt war. Eine Kapuze verhüllte sein Gesicht. Gerade noch der Mund war zu erkennen. Ein harter Mund mit festen Lippen, die ein klares Latein sprachen. »Du bist spät, aber es ist noch nicht zu spät für dich. San Matteo ist die Familienkirche der Dorias. Sie liegt an der Piazza San Matteo. Und jetzt rasch, du darfst keine Zeit mehr verlieren. Der Fürst verzeiht es nie, wenn man ihn und die Seinen warten lässt!«
Massys bedankte sich und folgte der Richtung, in die der ausgestreckte Arm des Mönches wies. Dabei schalt er sich einen Hornochsen. Ausgerechnet jetzt musste er sich verspäten! Er würde diesen Auftrag verlieren, der wahrscheinlich Geld und Anerkennung bedeutete, auch wenn es vermutlich wieder nur eine Mätresse war, deren schönen Leib er malen sollte, oder ein Höfling, der der Dame seines Herzens sein Konterfei verehren wollte. Straßenköter verfolgten ihn kläffend. Ebenso die misstrauischen Blicke der Einwohner.
Endlich gelangte er auf einen kleinen Platz. Es musste der richtige sein, denn er wurde von der wundervoll gebildeten Fassade eines Gotteshauses beherrscht. Wahrhaftig, die Kirche San Matteo glich einer kostbaren Schmuckschatulle für heilige Gedanken. Die dreigeteilte Fassade mit ihrer Streifeninkrustation aus schwarzem und weißem Marmor strahlte grazile Harmonie aus. In den weißen Partien erzählten Inschriften von den Taten des großen Doria. Die antiken Spolien waren sehr dekorativ in die Fassade eingearbeitet. Unter dem Dachfirst der nackte Oberkörper eines griechischen Halbgottes ohne Kopf, Arme und Unterleib. Ein Sarkophag unter dem rechten Fenster. Alles würdige Zeichen der Vergänglichkeit.
Kaum hatte Massys das Innere der Kirche betreten, umfing ihn grabeskühle Dämmerung und ein Duft wie von welkenden Rosen, süß, betäubend und faulig. Als seine Augen sich an das Zwielicht gewöhnt hatten, sah er, wie schlicht und bescheiden das Kircheninnere ausgestattet war. Es entsprach einer Frömmigkeit, der jeder weltliche Prunk fremd, ja zuwider war. Die Kirche schien leer; niemand war zu sehen. Vielleicht war er doch zu spät gekommen!
Massys kniete in einer der Bänke nieder, faltete die Hände und senkte den Kopf. Er versuchte, an seine Frau Anna zu denken und an seine Kinder. Wie immer fiel es ihm schwer, sich an ihr Aussehen zu erinnern. Abermals kam es ihm vor, als würde sich das Inkarnat ihrer Gesichter kaum gegen die dunkle Grundierung des Holzes abheben.
Plötzlich riss ihn ein Geräusch aus seiner Versunkenheit. Er wandte den Kopf und bemerkte, dass er doch nicht allein war. An einer der Säulen lehnte ein Mensch. Er trug vornehme Kleidung, deren Goldstickereien in der Dunkelheit funkelten, außerdem einen Degen an der Seite. »Bist du endlich gekommen, Massys«, sagte er mit scharfer, befehlsgewohnter Stimme, die jedoch ein wenig undeutlich war wie bei einem Betrunkenen. Zu Massys’ Erstaunen sprach dieser Mann Flämisch. »Weißt du denn nicht, dass es keineswegs zu den lässlichen Sünden gehört, den Principe warten zu lassen? Für diesmal mag dich noch das komplizierte Fahrwasser dieser Stadt entschuldigen. Auch ein Kolumbus hätte wohl in ihm nicht immer Kurs halten können, wenn er nicht hier geboren wäre. Aber ich warne dich, so etwas darf nie wieder vorkommen, es sei denn, du beabsichtigst, vorzeitig deinen Nachruhm zu genießen.«
Der Mann war inzwischen nähergekommen. Massys, der sich in der Bank erhoben hatte, fand sein Äußeres wenig vertrauenerweckend. Die rechte Gesichtshälfte war eine einzige Narbe von rot gewelltem Fleisch, die sich von der Stirn bis zum Kinn herabzog. Die rechte Mundhälfte wirkte wie zugenäht, vermutlich die Ursache für die unsaubere Artikulation des Mannes, der ihm jetzt die Hand gab. »Mein Name ist Pietro Longhi. Ich bin der persönliche Bote des Fürsten. Ich habe schon befürchtet, dass du dich verlaufen könntest, und dich daher von einem Vertrauten hierher lotsen lassen. Wie du bereits erfahren hast, sollst du deine Fertigkeiten als Maler unter Beweis stellen. Und, wie ich hinzufügen möchte, deine Fähigkeit als Menschenkenner. Denn es geht nicht um irgend ein Bild, es geht um viel mehr. Der Admiral der Christenheit und Principe der Stadt Genua, Andrea Doria, ist es höchstpersönlich, der dir die Gnade zuteil werden lässt, sein erhabenes Antlitz mittels Pinsel und Farbe der Macht des Sensenmannes zu entreißen. Einen solchen Mann zu porträtieren,...