E-Book, Deutsch, 192 Seiten
Both Kleine Ziege – große Liebe
11001. Auflage 2011
ISBN: 978-3-522-65102-8
Verlag: Planet! in der Thienemann-Esslinger Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
aus der Reihe Freche Mädchen – freche Bücher!
E-Book, Deutsch, 192 Seiten
Reihe: Freche Mädchen - freche Bücher
ISBN: 978-3-522-65102-8
Verlag: Planet! in der Thienemann-Esslinger Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Sabine Both, Jahrgang 1970, lebt und arbeitet als freie Autorin in Neuss. Eine rabaukige Kindheit, eine rebellische Pubertät und ein paar turbulente Jahre als Sozialarbeiterin haben genügend Stoff für jede Menge frecher Bücher angehäuft. Wenn Sabine Both gerade nicht mit ihren Zwillingen spielt, beackert sie ihren Garten und kocht für ihre Freunde.
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1.
Während Mama und ich Müsli, das geschmacklich an eingemottete Lumpen erinnert, mampfen, öffnet Papa einen Briefumschlag.
»Was bietet er uns diesmal?«
Ich erkenne an Mamas Frage, Papas Gesichtsausdruck und am Wappen auf dem Briefbogen, von wem der ist. Vom Bürgermeister.
»Er bietet nichts«, erklärt Papa verwundert. »Er … nein … das darf er nicht …« Papa wirft Mama einen vielsagenden Blick zu und verabschiedet sich, den Brief in der Hosentasche, unter fadenscheinigem Grund. »Ich geh in den Stall und guck, ob sie was braucht.«
Papa hastet aus der Küche, um unsere Oberziege, die seit Wochen einen kugelrunden Bauch mit sich herumschleppt, zu begutachten. Wenn das Zicklein kommt, will er unbedingt dabei sein. Und vorher wird das Vieh verwöhnt, als wäre es eine Prinzessin. Ich kann mich nicht erinnern, jemals so eine Vorzugsbehandlung in dieser Familie erhalten zu haben.
»Was darf der Bürgermeister nicht?«, frage ich, aber Mama hat selbst keinen Schimmer.
Sie vertreibt Papas panische Schwingungen mit einer, wie sie glaubt, echt indianisch und schamanisch getauften Adlerfeder und setzt ein entspanntes Lächeln auf. »Es geht wieder um die Mühle.«
Das hab ich mir gerade noch selbst zusammenreimen können. Seit Monaten geht es um nichts anderes als um unsere olle Mühle. Der Bürgermeister will, wie er findet, am idyllischsten Ort der Stadt irgendeinen Wellnesstempel errichten, in dem gestresste Großstädter sich verwöhnen lassen können. Wollte er schon, bevor uns dieses Hutzelmännchen vor eineinhalb Jahren seinen Hof verkauft hat. Für einen absolut lächerlichen Preis, weil er den Wunsch hatte, dass jemand sein Werk weiterführt. Dass er in erster Linie jemanden gesucht hat, der an seiner Stelle dem Bürgermeister die Stirn bietet, das haben meine Eltern beim Kauf noch nicht gewusst.
Jetzt haben sie den Salat. Für den Wellnesstempel sollen wir weg. Und unsere Ziegen. Und unser Selbstversorger-Ökoanbau. Und unsere naturbelassene Wildnis drum herum. All das stört nämlich das Auge von Großstädtern.
Wie gut ich sie verstehen kann. Und wie wenig ich verstehen kann, dass Papa noch auf keins der Angebote eingegangen ist. Ein Vermögen will uns der Bürgermeister für die Bruchbude zahlen. Ein Vermögen, von dem man eine schicke Wohnung mitten im Ort kaufen könnte. Mit Dachterrasse. Und Aufzug. Und chrom-blitzender Küche. Ein Vermögen, das Papa nicht interessiert, weil ihn nur das Prinzip interessiert. Und die Natur. Die will er retten. Mich rettet niemand aus dieser Einöde.
»Was ist das?« Ich halte Mama etwas Hartes, Kantiges hin, das ich gerade in meinem Mund gefunden habe.
»Roggen, Weizen oder Dinkel. Alles frisch geschrotet.« Mama strahlt, als hätte sie das Einmaleins des Müslimachens neu erfunden.
»Das ist steinhart!«
»Hart ist gut für die Verdauung. Es gibt Leute, die essen alle Lebensmittel naturbelassen. Die kochen nichts. Das soll sehr gesund sein. Das …«
»Mama!«
»Heidi!«, verbessert mich Mama. »Mein Name ist Heidi. Du bist Ellen, ich bin Heidi. Wir sind auf Augenhöhe. Du musst mich nicht Mama nennen. Das weißt du doch.«
»Mama!«, versuche ich es noch einmal. »Das ist hundertpro unverdaulich!«
Ich halte ihr den Minifelsen aus meinem Mund wieder unter die Nase. Endlich schaut sie hin.
»Hm.« Sie nimmt das Teil, staunt und runzelt die Stirn. »Mach mal den Mund auf.«
Ich gehorche.
»Da!« Mama schiebt den Zeigefinger zwischen meine Zähne. »Da fehlt was. Abgebrochen.«
»Mein Schahn isch awgebroschen?«, nuschle ich durch Mamas Finger hindurch und füge, wieder Herr über meinen Mund, empört hinzu: »Das hast du nun von deinem blöden Dreikornscheiß, Mama!«
»Heidi!«
»Zahnkillerin!«
Mama seufzt. »Das ist nicht schlimm.« Sie wendet sich prompt der alten Truhe zu. »Da nimmst du einfach …«
»Nein, Mama, da nehme ich ganz sicher keine Globuli. Da geh ich zum Zahnarzt, wie jeder normale Mensch auch!«
»Aber …«
»Im Ernst, Mama. Du glaubst doch wohl nicht, dass deine homöopathischen Dinger da meinen Zahn nachwachsen lassen?«
Mama zuckt mit den Schultern. »Hast du in den letzten Tagen etwas Auffälliges geträumt?«
»Nein!«
»Überleg mal gründlich. Irgendwas mit …«
»Mama! Deine Traumdeuterei interessiert mich kein bisschen! Das hab ich dir schon tausend Mal gesagt! Ich glaub nicht dran, dass Träume irgendwas über die Zukunft, die Vergangenheit, das Innenleben oder sonst was aussagen!«
Mama zuckt wieder mit den Schultern. »Es hatte bestimmt seinen Grund, dass er abgebrochen ist. Die Natur …«
»Jaja.« Ich winke ab. Auch die Leier kenne ich in- und auswendig. Die Natur weiß, was richtig ist. Egal, ob es der fette Mitesser auf meiner Nase am Abend der Schulfete ist. Egal, ob es die schwarzen störrischen Haare unter meinen Achseln sind. Egal, ob es die mit den Jahren entstandene Lücke zwischen meinen Schneidezähnen ist. Alles so gewollt. Von der Natur. Aber nicht von mir!
»Wenn ich zum Zahnarzt gehe, frage ich auch gleich nach einer Klammer wegen der Zahnlücke«, erkläre ich.
Mama macht ein Gesicht, als wollte ich mir die Nase richten lassen. »Die ist so süß, deine Lücke. Die Natur …«
»Hat auch Stechmücken und Giftschlangen produziert. Also bitte, lass mich in Ruhe mit der Natur!«
Wenn das mal nicht der perfekte Start in die Sommerferien ist. Statt mich mit Tine und Bine im Freibad zu treffen, muss ich in den Ort radeln. Fünfzehn Kilometer bis zum Freibad, das ist streckenmäßig schlimm genug, aber immerhin stimmt das Ziel. Bei fünfzehn Kilometern bis zum Zahnarzt sieht die Rechnung anders aus. Ich hasse es, schwitze schon nach wenigen Metern wie verrückt und schimpfe vor mich hin.
Wieso müssen ausgerechnet meine Eltern auf die Idee kommen, dass das Einsiedlerleben gut für ihre und zu allem Überfluss auch noch gut für meine Entwicklung ist? Das ist nicht nur total dämlich, das ist obendrein total peinlich. Wenn ich selbst, mein Internetanschluss und mein Kleiderschrank nicht wären, wir würden eine wunderbare Vorlage für eine von diesen Wir-leben-wie-im-Mittelalter-Dokus abgeben. Mama trägt seit unserem Umzug ständig Kopftuch und weite Röcke. Papa hat sich einen meterlangen Bart wachsen lassen und spielt mit einem Geigenbogen auf einer deformierten Gitarre. Unser Auto ist so klapprig, dass es wirklich nur noch für das taugt, auf das mein Vater nicht verzichten kann: die Ware zum Markt fahren. Wir haben Viecher, die zehn Meilen gegen den Wind stinken und dauernd versuchen, meine Haare zu essen, um noch mehr widerliche Milch zu produzieren, aus der meine Eltern noch mehr widerlichen Käse herstellen können.
Halbzeit. Ein paar Hundert Meter von der Straße entfernt liegt der Grenzhof. Auch so ein Müsliunternehmen. Mutter, Vater, drei Kinder. Hab die mal mit Tine und Bine in der Stadt gesehen. Die sahen aus wie die Kelly Family. Die standen im Pulk im Drogeriemarkt vor den Damenbinden, wahrscheinlich weil die Mutter sich überlegt hat, dass Ziegenhaartampons oder Ähnliches doch nicht so dicht halten. Tine, Bine und ich haben uns gefragt, wo die sich sonst immer rumtreiben. Auf unsere Schule jedenfalls geht keins von den Kindern. Auch in der Sonntagsdisco ist noch keiner aufgetaucht. Und im Freibad nicht. Nicht mal beim Feuerwehrfest. Nur Mama und Papa haben ab und zu Kontakt zu denen. Die treffen sich kollegenmäßig auf dem Markt oder tauschen privat Ziegenkäse gegen Obstallerlei. Und letztens hat Papa zwei Hühner mitgebracht, die er gegen eine Ziegenwolldecke getauscht hatte. Diese ganze Tauscherei ist auch dunkelstes Mittelalter! Dabei haben wir Kohle. Papa schreibt neben seinem Bauerndasein immer noch Artikel für Informatikfachblätter und Mama verdient etwas mit esoterischer Beratung und Traumdeutungen. Ist ihnen aber peinlich, das Geldverdienen. Am liebsten würden sie mit dem schnöden Mammon nichts mehr zu tun haben. Wie ich dann bitte schön Schulhefte, Glitzernagellack und Downloads bezahlen soll, das kommt in ihren Hippiefantasien selten vor.
Ich gebe noch mal alles. Immerhin trainiert man beim Fahrradfahren 300 Kalorien pro Stunde ab. Beim Schwimmen 400. Und beim Küssen 100. Aber wer küsst schon eine ganze Stunde lang. Es kann jedenfalls nicht schaden, ein bisschen abzunehmen. Der Jugendball vom Schützenverein steht an. Wenn ich da eine gute Figur machen will, sollte ich vielleicht noch einen Umweg fahren.
Geschafft! Ich habe so viel in mich hineingeschimpft, dass die fünfzehn Kilometer fast wie im Flug vergangen sind. Ich radle in den Ort und bekomme beim Anblick von Geschäften, Ampeln und jeder Menge Menschen spontane Glücksgefühle. Der Ort ist für eine, die in der Wildnis lebt, die große weite Welt. Zuallererst hole ich aus dem Rucksack die Sandalen mit dem kleinen Absatz und tausche sie gegen die dreckverschmierten Turnschuhe, dann steuere ich den Kiosk an, decke mich mit Zeitschriften über die noch größere, noch weitere Welt ein, mache halt beim Bäcker und genehmige mir trotz bevorstehendem Zahnarztbesuch und Jugendball erst mal drei Teilchen aus Weißmehl, Weißzuckerguss und unglaublich unbiologisch angebautem Apfelmus. Anschließend stürme ich die Boutique und renne wie immer bis zu den hinteren Ständern durch.
Es ist noch da! Glitzernd und strahlend begrüßt es mich, schmiegt sich, als ich es von der Stange nehme, an mich und raschelt verführerisch synthetisch, während ich mich mit ihm in einer der Umkleiden verschanze.
Ich streichle über Pailletten und Stickereien und schlüpfe hinein. Ein vertrautes Gefühl überkommt mich. Das Kleid und ich, wir kennen uns bereits. Es weiß, dass...