Bossong | Rotlicht | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 240 Seiten

Bossong Rotlicht

Die Lust, der Markt und wir
1. Auflage 2017
ISBN: 978-3-446-25619-4
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Die Lust, der Markt und wir

E-Book, Deutsch, 240 Seiten

ISBN: 978-3-446-25619-4
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Alles begann mit dem altmodischen Plüsch eines Sexshops. Als Kind traute sich Nora Bossong nur, ihn aus den Augenwinkeln zu betrachten. Als junge Frau aber wagt sie sich in jene Geheimzone, in der Lust nackte Arbeit ist und unsere Sexualität und der Kapitalismus frontal aufeinanderprallen. Sie trifft harmlose Studenten bei Dildo-Präsentationen und altersweise Pornoproduzenten. Sie steht in schäbigen Sexkinos und am Salat-Buffet eines Swingerclubs. Mit funkelnder Beobachtungsgabe erzählt Nora Bossong von einer Gesellschaft, die das Verruchte immer abwaschbarer gestaltet. Und sie stellt die Frage, warum das Rotlichtmilieu die echte Wollust nur an den Mann bringen will - und niemals an die Frau.

Nora Bossong, 1982 in Bremen geboren, studierte in Berlin, Leipzig und Rom Philosophie und Komparatistik. Im Hanser Verlag erschienen Sommer vor den Mauern (Gedichte, 2011), Gesellschaft mit beschränkter Haftung (Roman, 2012), Schnelle Nummer (Hanser Box, 2014), 36,9 Grad (Roman, 2015) und Rotlicht (2017). Nora Bossong wurde unter anderem mit dem Peter-Huchel-Preis, dem Kunstpreis Berlin, dem Roswitha-Preis und dem Thomas-Mann-Preis ausgezeichnet.
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Lust gibt es nicht geschenkt, auch wenn wir das so gerne glauben wollen. Ich habe das erst spät begriffen, vielleicht bin ich noch immer dabei. Jedes Mal, wenn ich über den Bahnhofsvorplatz meiner Heimatstadt gehe, muss ich daran denken. Noch immer halte ich dort nach einer rot lackierten Tür Ausschau, an der mein Blick früher oft hängen blieb. Sie gehörte zu einem einfachen Sexshop, wie es ihn einmal in jeder mittelgroßen Stadt in Bahnhofsnähe gab, schmuddelig, verrufen und trostlos. Dieser Sexshop faszinierte mich damals. Er faszinierte mich umso mehr, je weniger ich konkret über diesen Ort wusste. Nur manchmal sah ich einen Mann an mir vorbei in den Laden gehen, wie von einem geheimen Ritual in die Geschäftsräume gezogen.

Meine Kindheit endete damit, dass ich nicht mehr jeden Samstag mit meinen Eltern die Stufen zum Überseemuseum hinaufstieg, um mir strohige Hütten aus Papua-Neuguinea und chinesische Totenzüge anzusehen. Meine Pubertät begann, als mir der zweite exotische Ort am Bremer Bahnhofsvorplatz bewusst wurde: der Beate-Uhse-Laden, mir genauso fremd und fern wie eine Insel im Pazifik. Immer wieder warf ich verstohlene Blicke auf die Eingangstür, neben mir eine Freundin, mit der ich kichernd weiterlief. Obwohl wir bei unseren heimlichen Seitenblicken aufgewühlt waren, fast wütend, unsere Entrüstung diffus und konkret zugleich, verloren wir niemals auch nur ein offenes Wort über den Laden. Wir stellten uns wohl nur schweigend dieselben Fragen: Was genau verbarg die rote Tür, die erst ab einem Alter passiert werden durfte, das für uns in weiter Ferne lag, hinter unzähligen Schuljahren, Zeugnissen, Sommerferien? Wer ging dort ein und aus? Und warum wussten wir so genau, dass wir unter keinen Umständen auch nur das Schaufenster betrachten durften?

Wir waren elf Jahre alt. Heute denke ich: Vielleicht erlebten wir noch ein letztes Mal jene vertrauensvolle Neugier, die Kinder empfinden, wenn sie kurz vor dem Einschlafen im Dunkeln die Stimmen der Erwachsenen im Nebenzimmer hören: Signale aus einer Welt, die ihnen allein schon deshalb begehrenswert erscheint, weil sie vor ihnen verborgen ist. Nur die Wärme, die die vertrauten Elternstimmen in ein solches Begehren hineintragen, gab es bei unseren heimlichen Blicken auf die rot lackierte Tür nicht mehr.

Wurden damals, Mitte der neunziger Jahre, Vibratoren in der Auslage präsentiert, oder wäre das noch zu anstößig gewesen? Wurde überhaupt etwas ausgestellt, oder war das Fenster mit roter Plastikfolie abgeklebt? Ich kann mich nicht erinnern. Gut möglich, dass im Beate-Uhse-Laden meiner Schulzeit das Schmuddelige bereits nach außen getragen werden durfte, dass dort hinter der Scheibe Pornomagazine und Strapse auslagen, Jahre bevor Unternehmen wie die Bremer Fun Factory ihre taghellen Shops zu einer Art Apple Stores für das möglichst saubere, stylische Erotikgeschäft machten. Ein Klassenkamerad, mit dem ich vielleicht auch einmal an jenem roten Schaufenster vorbeigegangen bin, arbeitet heute dort. Die Fun Factory stellt ästhetische Dildos und Vibratoren her und passt sie nicht nur den Körpern der Frauen an, sondern auch unserem immer größer werdenden Wunsch, nichts Anrüchiges in der Hand zu halten.

Doch damals ging es uns nicht um die Auslage. Das eigentliche Mysterium lag darin, wer das Innere des Geschäftes betreten durfte und wer nicht, mehr noch: wer auch nur daran denken durfte, und wer sogar in seinen Gefühlen von dieser Welt abzurücken hatte. Die bloße Existenz des Ladens ließ uns spüren, dass uns etwas kategorisch verschlossen war, mir in meinem türkisfarbenen Anorak, meiner Freundin mit ihrem pinken Schulranzen. Einmal schaukelten sich Scham und Neugier bis zur Hysterie hoch, und wir wären an der Ampel beinahe vor Lachen in die Knie gegangen, hasteten dann aber doch Hand in Hand die letzten Schritte hinüber auf die Verkehrsinsel.

Übertreten habe ich die Schwelle des Ladens das erste Mal, als ich fünfzehn oder sechzehn war. Ganz sicher war ich noch nicht volljährig, denn ich wusste genau, dass mir das Betreten des Geschäfts aus Altersgründen nicht gestattet war. Dieses Verbot machte mir meine kurze Expedition seltsamerweise leichter: Die obszönen Geräte und die pornografischen Magazine, die Männer vor den Videoregalen, die mir Blicke zuwarfen, all die Phänomene, die ich bei meinem Streifzug fasziniert registrierte, musste ich nicht zu nah an mich heranlassen, da ich mich zugleich mit meiner kleinen Angst beschäftigen konnte, gleich von jemandem nach meinem Ausweis gefragt zu werden. Kein Besuch von irgendjemandem hier erschien mir statthaft und richtig, für mich aber verbot sich dieser Ort gleich mit doppelter Wucht.

Fast zwanzig Jahre später gehe ich an einem vernieselten Novemberabend wieder über den Bahnhofsvorplatz. Eine Spielhalle und ein Billigdiscounter sind in das Haus gezogen, in dem früher der Beate-Uhse-Laden lag. Grabbelkisten mit kitschigem Weihnachtsnippes stehen vor der Geschäftszeile. Natürlich habe ich mich verändert in all den Jahren, ich trage keine türkisen Anoraks mehr, und Sex erscheint mir nicht bloß als eine bizarre Idee aus der Bravo, die uns damals den Biologieunterricht und das Gerede auf Klassenfahrten belebte. Doch während ich lediglich erwachsen wurde, hat sich die Erotik grundsätzlicher verändert – und vor allem das Geschäft mit ihr. Dieses ist nicht älter geworden, sondern optimiert worden: kaum noch in Seitenstraßen oder Hinterhauswohnungen versteckt, sondern jederzeit von überall online abrufbar und ganz und gar auf die Wünsche der Kunden ausgerichtet. Das Tabu ist heute nur noch ein dünner Schleier, den man stets beiseiteziehen kann. Einen Moment lang sehne ich mich danach, noch einmal jenes späte Kind zu sein, das nach etwas Ausschau hielt, das nur im Augenwinkel existieren durfte.

Das alte Erotikgewerbe stand für das Verruchte. Es verband Scham und Schmutz, es wollte alles sein, bloß kein geradezu hysterisch sauberer und familienfreundlicher Flagshipstore für versteckte Fantasien. Stattdessen war es offensiv geheim und anstößig, angesiedelt auf der Rückseite unseres gesellschaftsfähigen Verlangens, hinter blickdichten Fensterreihen in den Schmuddelecken der Städte.

Was, wenn diese Form des Rotlichts vollständig aus unserer Gesellschaft verschwände? Und das nicht nur partiell, hier ein Sexshop, der nicht zur neuen Shoppingmall passt, dort ein Pornokino, das in Zeiten des Internets niemand mehr besuchen möchte, sondern wenn tatsächlich jene Schattenzone aufhörte zu existieren, die es genauso lange gibt wie unsere Vorstellungen von Moral und Tugend? Was wäre, wenn die verheimlichte Lust sich veränderte und verloren ginge, jene Spielart des Sex, die sich verletzend gegen unsere scheinbar sichere Ordnung stellt und diese Ordnung dabei doch so sicher behauptet – in welcher Welt würden wir fortan leben? Ein ganzer Kontinent der vermeintlichen Lust versänke, von vielen geleugnet, bestritten, weggelächelt.

Heute wird selbst die Bundeswehr von einer Frau geleitet, ebenso wie unsere Republik und der Internationale Währungsfonds. Frauen können fast alles werden – zumindest in der Theorie. Doch die Welt des Rotlichts ist nach wie vor eine geradezu abergläubisch absolute Männlichkeitsdomäne, wie es sie sonst in der westlichen Welt höchstens noch bei Matrosen und katholischen Würdenträgern gibt. So sehr sich die Erotikindustrie auch mit Sexspielzeugen oder neuen Formen der Pornografie gegenüber Frauen öffnet, die Orte der tatsächlich käuflichen Lust bleiben eine Domäne zeitloser Männlichkeit, die eine Frau wie ich immer nur von außen sehen kann. Männer gehen allein ins Bordell oder auch miteinander, zur Verbrüderung nach einem Meeting etwa oder zur Feier eines Junggesellenabschieds, über alle Milieus, Bildungsschichten und Hierarchien hinweg. Allein die Geschlechtergrenze bleibt total. Eine Frau, die sich in dieses Terrain einschleicht, ist kein bloßer Eindringling, sondern ein schlechtes Omen dafür, dass die gesamte stillschweigende Ordnung unumkehrbar ausgehebelt wird.

Als Frau kann man lediglich käuflich sein, sobald es um das Geschäft mit der Lust geht. Andere Rollen sind nicht vorgesehen. Es ist schier unvorstellbar, als Frau aktiv im Rotlicht aufzutauchen. Man wäre ein Fehler im System, eine Art Machttransvestit. Ich aber wollte nicht mehr verschämt am System vorbeigehen, kichernd im Wissen, dass eine ganze Welt mir verschlossen ist, obwohl ich längst nicht mehr elf Jahre alt bin. Ich wollte sehen, was tatsächlich geschieht in Sexkinos und Laufhäusern, wollte mit Frauen vom Straßenstrich sprechen, mit beobachtenden Frauenrechtlerinnen und lustsuchenden Swingerclub-Besuchern. Ich wollte mich unterhalten und vielleicht auch mehr als das, ich wusste es nicht. Ohne meine männlichen Begleiter aber hätte man mich an vielen Orten noch auf der Schwelle abgewiesen, an anderen allenfalls als seltsamen Paradiesvogel unter besondere Beobachtung gestellt. Denn gestattet wird Frauen allenfalls, sich der Sphäre des Rotlichts hingebungsvoll zu unterwerfen. Nicht nur durch gefeierte Filme wie Luis Buñuels Belle de jour von 1967 oder fast fünfzig Jahre später François Ozons Jeune et Jolie spuken von Männern gestaltete Fantasien über bürgerliche Frauen, die in den Sog des Verruchten geraten. Das tatsächliche Tabu jedoch verletzt man als Frau erst, wenn man mehr als ein begehrenswertes Phantasma sein möchte. Wenn man sich unter die Klientel mischt und als zahlende Mitspielerin auftritt, als Sehende und Handelnde statt als Betrachtete und Benutzte. Wenn man sich als Frau einmischt in diesen traurigen, banalen, rätselhaften Tauschprozess, der allein für Männer schon immer akzeptabel schien: Geld gegen Lust und...


Bossong, Nora
Nora Bossong, 1982 in Bremen geboren, studierte in Berlin, Leipzig und Rom Philosophie und Komparatistik. Im Hanser Verlag erschienen Sommer vor den Mauern (Gedichte, 2011), Gesellschaft mit beschränkter Haftung (Roman, 2012), Schnelle Nummer (Hanser Box, 2014), 36,9 Grad (Roman, 2015) und Rotlicht (2017). Nora Bossong wurde unter anderem mit dem Peter-Huchel-Preis, dem Kunstpreis Berlin und dem Roswitha-Preis ausgezeichnet.



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