Boschwitz / Graf | Der Reisende | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 304 Seiten

Boschwitz / Graf Der Reisende

Roman
Die Auflage entspricht der aktuellen Auflage der Print-Ausgabe zum Zeitpunkt des E-Book-Kaufes.
ISBN: 978-3-608-11011-1
Verlag: Klett-Cotta
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 304 Seiten

ISBN: 978-3-608-11011-1
Verlag: Klett-Cotta
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Deutschland im November 1938. Otto Silbermanns Verwandte und Freunde sind verhaftet oder verschwunden. Er selbst versucht, unsichtbar zu bleiben, nimmt Zug um Zug, reist quer durchs Land. Inmitten des Ausnahmezustands. Er beobachtet die Gleichgültigkeit der Masse, das Mitleid einiger Weniger. Und auch die eigene Angst. »Ein wirklich bewegender, aber auch instruktiver Text. Ein großer Gewinn! Für einen Dreiundzwanzigjährigen ein ganz erstaunliches Werk.« Brigitte Kronauer Der jüdische Kaufmann Otto Silbermann, ein angesehenes Mitglied der Gesellschaft, wird in Folge der Novemberpogrome aus seiner Wohnung vertrieben und um sein Geschäft gebracht. Mit einer Aktentasche voll Geld, das er vor den Häschern des Naziregimes retten konnte, reist er ziellos umher. Zunächst glaubt er noch, ins Ausland fliehen zu können. Sein Versuch, illegal die Grenze zu überqueren, scheitert jedoch. Also nimmt er Zuflucht in der Reichsbahn, verbringt seine Tage in Zügen, auf Bahnsteigen, in Bahnhofsrestaurants. Er trifft auf Flüchtlinge und Nazis, auf gute wie auf schlechte Menschen. Noch nie hat man die Atmosphäre im Deutschland dieser Zeit auf so unmittelbare Weise nachempfinden können. Denn in den Gesprächen, die Silbermann führt und mithört, spiegelt sich eindrücklich die schreckenerregende Lebenswirklichkeit jener Tage.

Ulrich Alexander Boschwitz, geboren am 19. April 1915 in Berlin, emigrierte 1935 gemeinsam mit seiner Mutter zunächst nach Skandinavien, wo sein erster Roman, »Menschen neben dem Leben», erschien. Der Erfolg ermöglichte ihm ein Studium an der Pariser Sorbonne. Während längerer Aufenthalte in Belgien und Luxemburg entstand »Der Reisende«, der 1939 in England und wenig später in den USA und in Frankreich veröffentlicht wurde. Kurz vor Kriegsbeginn wurde Boschwitz in England trotz seines jüdischen Hintergrunds als »enemy alien« interniert und nach Australien gebracht, wo er bis 1942 in einem Camp lebte. Auf der Rückreise wurde sein Schiff von einem deutschen U-Boot torpediert und ging unter. Boschwitz starb im Alter von 27 Jahren, sein letztes Manuskript sank wohl mit ihm.
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2.


Silbermann hastete die Hintertreppe hinunter. Unten werden sie wohl stehen und mir auflauern, dachte er. Ach, ich hätte doch bleiben sollen. Was wird nun mit Elfriede geschehen? Schon überlegte er, ob er nicht umkehren solle. Aber Findler ist ja da, beruhigte er sich dann. Wie gut das doch ist. Ein anständiger Kerl, trotz allem. Wäre ich oben geblieben, hätte ich ganz bestimmt etwas Verzweifeltes unternommen. Widerstand geleistet, vielleicht sogar wirklich geschossen, einfach weil man etwas tun muss. Man kann doch nicht alles mit sich geschehen lassen. Genützt hätte es nichts, nein, im Gegenteil. Das war pure Angst. Aus Angst hätte er geschossen, das wusste er jetzt. Er hatte Angst vor dem Konzentrationslager, dem Gefängnis – und vor dem Geprügeltwerden.

Menschenwürde, dachte er, man hat doch Menschenwürde, die darf man sich nicht nehmen lassen.

Sein Schritt stockte, denn unten sah er einen Mann stehen. Silbermann richtete sich auf und ging dann gemessenen Schritts dem Mann entgegen, der am Fuß der Treppe stand und eine Zigarette rauchte. Ruhig ertrug er den Blick des anderen. Als er bei ihm angekommen war, bat er um Feuer.

Der Mann griff in die Tasche, entnahm ihr ein Paket Streichhölzer, zündete eines der Hölzchen an und hielt es ihm hin.

»Bitte«, sagte er, dann erkundigte er sich: »Wohnen hier eigentlich viele Juden?«

»Keine Ahnung«, antwortete Silbermann, und es verwunderte ihn, wie gleichgültig er dabei klang. »Fragen Sie doch den Portier. Ich bin hier fremd.« Er hob den Arm zum Gruß: »Heil Hitler.«

Der andere erwiderte, und ohne aufgehalten zu werden schritt Silbermann an ihm vorbei. Jetzt nicht umdrehen, dachte er. Nicht zu schnell gehen, nicht zu langsam. Denn wer sich zu auffällig unauffällig benimmt, zu verdächtig unverdächtig, der … Ach Gott, was wollen die Leute eigentlich von mir?

Er hatte den Flur schon verlassen und überquerte den Hof. Im Gehen fasste er einmal nach seiner Nase. Wie wichtig du bist, dachte er. Von dir hängt es nun ab, ob man frei ist oder Gefangener, wie man lebt, ob man lebt. Wer Unglück mit dir hatte, den bringst du unter Umständen um.

Vor der Haustür traf er auf einen weiteren ihm verdächtig erscheinenden Mann. »Na«, sagte er forsch, unwillkürlich Theo Findler nachahmend, »worauf warten Sie denn, heh?«

Der Angesprochene fuhr zusammen und nahm unwillkürlich das an, was die Haltlosen Haltung nennen.

»Och«, sagte er dann vertraulich-respektvoll, »kleine Judenhatz.«

»Aha«, nahm Silbermann scheinbar teilnahmslos zur Kenntnis, dann ging er, die Hand lässig zum Gruß erhoben, auch an diesem Posten ohne aufgehalten zu werden vorbei. Auf der Straße angelangt, blieb er abwartend stehen. Was geschieht da oben?, überlegte er angstvoll. Wenn man das nur wüsste. Sie werden doch wohl nicht … Doch sie werden. Aber Findler ist ja da.

Plötzlich überkam ihn große Furcht. Die Leute konnten jeden Augenblick kommen, das Haus verlassen, ihn anhalten, einer der Wachtposten konnte nachträglich misstrauisch geworden sein. Er setzte sich wieder in Bewegung und ging immer schneller.

Eigenartig, dachte er, während er über den Fahrdamm lief, weil er glaubte, auf der anderen Straßenseite sicherer zu sein. Vor zehn Minuten ging es noch um mein Haus, einen Teil meines Vermögens. Jetzt geht es schon um meine Knochen. Wie schnell das geht. Mir ist der Krieg erklärt worden, mir persönlich. Das ist es. Eben ist mir nun endgültig und wirklich der Krieg erklärt worden, und jetzt bin ich allein – in Feindesland.

Wenn wenigstens der Becker hier wäre. Hoffentlich zerschlägt sich das Geschäft nicht. Das fehlte mir noch. Ich muss unbedingt das Geld frei haben. Hoffentlich verspielt es Becker nicht. Ach was, der ist schließlich immer noch der Einzige, auf den man sich verlassen kann. Und wenn er wirklich ein paar hundert Mark verspielt, was macht das schon? Jetzt geht es um Wichtigeres.

Aber Geld muss man haben, Geld ist Leben, besonders im Krieg. Ein Jude ohne Geld in Deutschland, das ist wie ein Tier im Käfig ohne Futter, etwas Hoffnungsloses.

Er kam an einer Telefonzelle vorbei, drehte dann um und ging zurück. Ich werde jetzt einfach anrufen, dachte er, dann weiß ich Bescheid.

Er war sehr froh über seinen Einfall, doch die Zelle war besetzt, und er musste einige Zeit warten. Die laute Stimme der Dame drang aus der Zelle zu ihm nach draußen, und er erfuhr von einem Pelzmantel, der repariert werden musste, von dem Film »Liebe im Süden« und von einem gewissen Hans, der eine Halsentzündung hatte.

Unruhig ging Silbermann auf und ab. Endlich klopfte er mahnend gegen die Glasscheibe. Die Dame wandte ihm ihr Gesicht zu, und es beeindruckte ihn immerhin stark genug, um ihr weitere fünf Minuten Sprechzeit zu gewähren, bevor er sich entschloss, abermals gegen die Scheibe zu klopfen.

Nun endlich stand ihm der Apparat zur Verfügung und er wählte hastig die Nummer seiner Wohnung. Es meldete sich niemand, und er versuchte noch zweimal, die Verbindung herzustellen, ohne aber Erfolg zu haben.

Findler wird noch verhandeln, beruhigte er sich und hängte ein. Diese Burschen sind schwer loszuwerden. Überhaupt war es eine Dummheit anzurufen, denn solange die Leute da sind, kann mir ja doch niemand etwas sagen. Er wählte die Nummer seines Rechtsanwalts.

Eine tränenerstickte weibliche Stimme meldete sich. »Die Herrschaften sind nicht da.«

»Wo ist der Doktor denn?«

»Ich weiß es nicht.« Kurzes Schweigen. »Er ist nicht da …«

»Ja, und wer sind Sie?«

»Ich bin das Dienstmädchen.«

»Dann bestellen Sie doch bitte Herrn Dr. Löwenstein, dass …«

»Rufen Sie lieber noch einmal an«, unterbrach ihn das Mädchen. »Es ist ganz unbestimmt, wann er wiederkommt.«

Silbermann hängte ein.

»Wenn sie den nicht auch abgeholt haben«, murmelte er, »dann weiß ich nicht.«

Er wählte die Nummer eines befreundeten jüdischen Kaufmanns, doch auch da meldete sich niemand.

Silbermanns Bestürzung wurde immer größer. Die Hilde hat recht gehabt, folgerte er, alle Juden sind verhaftet worden, vielleicht bin ich der Einzige, der ihnen entwischt ist.

Er rief bei seiner Schwester an.

»Hier ist Otto«, sagte er. »Ich spreche von einem Automaten aus. Bei mir …«

»Ich will nichts hören, Otto«, wehrte sie ab. »Unsere ganze Wohnung ist ein einziger Trümmerhaufen. Wenn ich nur dagewesen wäre. Meinetwegen hätten sie mich auch mitnehmen können. Jetzt sitz ich hier und denke, was ist aus Günther geworden? Einem sechsundfünfzigjährigen Mann, einem Sechsundfünfzigjährigen. Und er verträgt doch überhaupt keine Aufregungen. Das ist das Ende …«

»Aber man wird ihn doch wieder freilassen«, versuchte er, sie zu beruhigen. »Kann ich dir irgendwie helfen? Zu dir kommen möchte ich allerdings nicht gerne.« Es knackte in der Leitung. »Auf Wiedersehen«, rief er erschreckt. »Lass es dir recht, recht gutgehen. Du hörst von mir.«

Schnell verließ er die Zelle und sah sich um. Man hört die Gespräche ab, dachte er. Gleich werden Beamte kommen. Darf man überhaupt noch telefonieren?

Er stieg in einen Omnibus und fuhr zum Schlesischen Bahnhof. Eingekeilt zwischen vielen anderen stand er auf dem Perron. Neben sich bemerkte er ein junges Mädchen und einen jungen Mann, die sich eng aneinanderpressten. Er beobachtete sie, betrachtete das gelöste Gesicht des Mädchens, dann das des Mannes.

Friede!, dachte er, die haben noch Frieden. Ihre kleine Existenz ist gedeckt von Millionen anderen, gleichen, mit denen sie gemeinsam lieben und hassen, immer in der Mehrheit. Aber am Ende wird es auch ihnen nichts nützen.

Er forderte einen Fahrschein und, nachdem er ihn bezahlt hatte, inspizierte er seine Brieftasche, um festzustellen, wie viel Geld er bei sich trug. Er blätterte in den Scheinen herum.

Einhundertachtzig Mark, stellte er mit einer gewissen Erleichterung fest. Damit könnte man das Land verlassen – wenn man es könnte. Aber auch dann, so dachte er, würde er es nicht tun. Er wollte sein Vermögen retten. So schnell wollte er sich das nicht abjagen lassen, nein.

Wenn alles gutgeht, dachte er hoffnungsvoll, dann bringt Becker morgen achtzigtausend Mark mit. Zehntausend, so rechnete er weiter, bekomme ich in bar für das Haus und wenn ich Glück habe, kann ich die Hypothek mit einem Abgeld verkaufen. Er lächelte schwach. Ich bin immer noch ein recht vermögender Mann, fasste er zusammen. So mancher arme Antisemit – wenn es noch echte, arme Antisemiten...


Boschwitz, Ulrich Alexander
Ulrich Alexander Boschwitz, geboren am 19. April 1915 in Berlin, emigrierte 1935 gemeinsam mit seiner Mutter zunächst nach Skandinavien, wo sein erster Roman, 'Menschen neben dem Leben', erschien. Der Erfolg ermöglichte ihm ein Studium an der Pariser Sorbonne. Während längerer Aufenthalte in Belgien und Luxemburg entstand 'Der Reisende', der 1939 in England und wenig später in den USA und in Frankreich veröffentlicht wurde. Kurz vor Kriegsbeginn wurde Boschwitz in England trotz seines jüdischen Hintergrunds als 'enemy alien' interniert und nach Australien gebracht, wo er bis 1942 in einem Camp lebte. Auf der Rückreise wurde sein Schiff von einem deutschen U-Boot torpediert und ging unter. Boschwitz starb im Alter von 27 Jahren, sein letztes Manuskript sank wohl mit ihm.

Graf, Peter
Peter Graf, geboren 1967, leitet den 'Verlag Das Kulturelle Gedächtnis' und die Verlagsagentur 'Walde + Graf'. Publizistisch begibt er sich vor allem auf die Suche nach vergessenen Texten, um sie heutigen LeserInnen neu zugänglich zu machen.

Ulrich Alexander Boschwitz, geboren am 19. April 1915 in Berlin, emigrierte 1935 gemeinsam mit seiner Mutter zunächst nach Skandinavien, wo sein erster Roman, 'Menschen neben dem Leben', erschien. Der Erfolg ermöglichte ihm ein Studium an der Pariser Sorbonne. Während längerer Aufenthalte in Belgien und Luxemburg entstand 'Der Reisende', der 1939 in England und wenig später in den USA und in Frankreich veröffentlicht wurde. Kurz vor Kriegsbeginn wurde Boschwitz in England trotz seines jüdischen Hintergrunds als 'enemy alien' interniert und nach Australien gebracht, wo er bis 1942 in einem Camp lebte. Auf der Rückreise wurde sein Schiff von einem deutschen U-Boot torpediert und ging unter. Boschwitz starb im Alter von 27 Jahren, sein letztes Manuskript sank wohl mit ihm.

Peter Graf, geboren 1967, leitet den 'Verlag Das Kulturelle Gedächtnis' und die Verlagsagentur 'Walde + Graf'. Publizistisch begibt er sich vor allem auf die Suche nach vergessenen Texten, um sie heutigen LeserInnen neu zugänglich zu machen.

Ulrich Alexander Boschwitz, geboren am 19. April 1915 in Berlin, emigrierte 1935 gemeinsam mit seiner Mutter zunächst nach Skandinavien, wo sein erster Roman, »Menschen neben dem Leben», erschien. Der Erfolg ermöglichte ihm ein Studium an der Pariser Sorbonne. Während längerer Aufenthalte in Belgien und Luxemburg entstand »Der Reisende«, der 1939 in England und wenig später in den USA und in Frankreich veröffentlicht wurde. Kurz vor Kriegsbeginn wurde Boschwitz in England trotz seines jüdischen Hintergrunds als »enemy alien« interniert und nach Australien gebracht, wo er bis 1942 in einem Camp lebte. Auf der Rückreise wurde sein Schiff von einem deutschen U-Boot torpediert und ging unter. Boschwitz starb im Alter von 27 Jahren, sein letztes Manuskript sank wohl mit ihm.

Peter Graf, geboren 1967, leitet den »Verlag Das Kulturelle Gedächtnis« und die Verlagsagentur »Walde + Graf«. Publizistisch begibt er sich vor allem auf die Suche nach vergessenen Texten, um sie heutigen LeserInnen neu zugänglich zu machen.



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