Borrmann | Wenn das Herz im Kopf schlägt | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 237 Seiten

Borrmann Wenn das Herz im Kopf schlägt

Kriminalroman
1. Auflage 2013
ISBN: 978-3-95441-013-2
Verlag: KBV
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Kriminalroman

E-Book, Deutsch, 237 Seiten

ISBN: 978-3-95441-013-2
Verlag: KBV
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Von den Schreien wird sie wach. Von der Stille danach. Sie stolpert barfuß die steile Holztreppe hinunter, stößt sich den Zeh an der Schwelle zur Spülküche, drückt ihr ganzes Gewicht gegen die schwere Tür. Das Neonlicht beißt in ihren Augen. Vom Küchentisch tropft Tee die Wachstuchdecke hinunter und sammelt sich zu einer Pfütze auf dem Linoleumboden. Die dicke Kanne liegt reglos auf Bauch und Tülle. Ein Stuhl ist zerbrochen. Ihr Herz schlägt im Kopf ... Der alte Gietmann ist tot. Sie finden seine Leiche grausam zugerichtet auf einem Feldweg inmitten der endlosen Felder des Niederrheins. Noch am gleichen Tag erscheint in der örtlichen Tageszeitung seine Todesanzeige. "Begrenzt ist das Leben, doch unendlich die Erinnerung." Peter Böhm und seine Kollegen von der Kripo Kleve stoßen bei ihren Nachforschungen überall im Dorf auf Schweigen. Als drei Tage später eine weitere Männerleiche gefunden wird, macht sich unter den Bewohnern des Ortes Angst breit.

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Samstag, 10. März 2001
- 10 -
Draußen empfängt ihn ein diesiger Märzmorgen. Die kalte Luft füllt seine Lungen. Die Feuchtigkeit legt sich auf seinen kahlen Kopf, bildet Tropfen in seinem grauen Haarkranz und kühlt sein Gesicht. Er geht mit zunehmendem Tempo und spürt, wie sein Körper sich von innen her aufheizt und die Wärme bis in seine Muskeln dringt. Er steigt die schmale, in den Deich eingelassene Treppe hinauf. Der Nebel zieht in dichten Schwaden über den alten Rhein. Hier oben auf dem Deich flüstert ein leichter Wind in die Stille. Schon nach einem Kilometer ist die kalte Feuchtigkeit im Gesicht nicht mehr unangenehm, sondern willkommene Abkühlung. Jeder Schritt führt ihn tiefer in den Nebel, weiter weg von menschlicher Geschäftigkeit. Er liebt die morgendliche Ruhe auf diesem Grat zwischen verschlafenen Dörfern auf der einen, und dem behäbigen Fluss auf der anderen Seite. Als er sich vor vier Jahren aus Köln hierher versetzen ließ, war es gerade diese Weite gewesen, die ihn angezogen hatte. Er hatte auf dem Deich gestanden und mehrmals Brigittes und seinen Namen gerufen. Nur so. Nur um zu hören, dass seine Rufe ohne Echo verebbten. Brigitte war das unheimlich gewesen. Sie hatte gesagt: Hier ist man so verloren, Peter. Damals sah er sie verständnislos an. Inzwischen weiß er, was sie meinte. Nur, dass er es nicht »verloren« nennt. Er fühlt sich hier frei. Und immer, wenn er für ein paar Tage fort ist, sehnt er sich nach diesem grenzenlosen Himmel. Brigitte hatte sich gewehrt, aber in Köln wollte sie auch nicht bleiben, und schon gar nicht in dem Haus, in dem alles an Andreas erinnerte. Dann veröde ich eben am Niederrhein, hatte sie gesagt. Es war anders gekommen. Zuerst hatte sie Deutsch für Ausländer an der Volkshochschule unterrichtet, und inzwischen arbeitet sie in ihrem Beruf als Sozialpädagogin bei der Arbeiterwohlfahrt. Manchmal sehen sie sich zwei bis drei Tage nicht, schlafen nur nebeneinander. Sie führten heftige Auseinandersetzungen, und Brigitte warf ihm vor, sich all die Jahre entzogen zu haben. Sie kümmerte sich um ihren geistig behinderten Sohn, und er verdiente Geld. Er gestand ein, dass er die Arbeit gesucht hatte. Dass er die Behinderung seines Sohnes nicht ertragen konnte, oder besser: seine eigene Hilflosigkeit. Sie sagte, sie sei nicht mehr bereit, ein Leben mit dem Titel Warten auf Peter zu führen. Seither ist er sich ihrer nicht mehr so sicher, und das macht ihm Angst. Er liebt Brigitte und will mit ihr alt werden. Vielleicht ist es Phantasielosigkeit, aber ein Leben ohne sie scheint ihm undenkbar. Er stellt fest, das er schneller läuft. Weglaufen! Vor dem Gedanken, sie zu verlieren, weglaufen. Er biegt in den kleinen Feldweg ein und läuft die letzten fünfhundert Meter langsam aus. Plötzlich hört er sie. Seit Tagen kommen sie in großen Gruppen an. Hunderte von Wildgänsen ziehen über seinen Kopf. Er bleibt wie angewurzelt stehen. Ihre Rufe durchbrechen den Nebel, wecken die Felder und den Fluss. Zweihunderttausend hatte man im letzten Jahr geschätzt. Er hüpft auf der Stelle, um in Bewegung zu bleiben. »Guten Morgen«, ruft er ihnen zu, und für die Dauer einiger Herzschläge empfindet er Glück. Im Frühjahr, wenn sie kommen, und im Spätherbst, wenn sie wieder abziehen. Immer wenn er Zeuge ihrer Reisen wird, empfindet er diese Freude, der kein Lachen gerecht werden kann. Als er später nach dem Duschen in die Küche kommt, hat Brigitte bereits gefrühstückt. »Gerade ist wieder ein Schwarm Wildgänse angekommen!« Er nimmt Brigittes Gesicht in beide Hände und küsst sie auf die Stirn. »Sechstausend Kilometer haben sie hinter sich. Ohne Motor!« Er strahlt sie an. »Peter, könntest du heute was einkaufen? Ich bin den ganzen Tag in Düsseldorf.« Sie gießt ihm Kaffee ein und schaut auf die Uhr. Ihr dickes blondes Haar hat sie zusammengesteckt. Trotzdem fährt sie sich mit der rechten Hand hinter ihr rechtes Ohr, so als wolle sie eine lästige Strähne wegschieben. »Ich denke schon. Was brauchen wir denn?« Er greift zum Brot. »Aber was machst du denn in Düsseldorf?« Mit einem Zettel kommt sie zum Tisch zurück. »Hier ist eine Einkaufsliste.« Sie klimpert mit den Autoschlüsseln in ihrer Manteltasche. »Ich bin auf einer Tagung.« Sie beugt sich zu ihm hinunter und küsst ihn auf die Wange. »Bis dann!« Er hört die Tür ins Schloss fallen. »Samstags? Was ist das denn für eine Tagung?«, ruft er hinter ihr her, aber da ist sie schon draußen. Er nimmt die Tageszeitung vom Stuhl und beginnt zu lesen. Die Buchstaben fallen in seinen Kopf, ohne einen Sinn zu ergeben. Eine Tagung an einem Samstag? Der Verdacht frisst sich in sein Hirn wie ein Wurm in einen Apfel. Als das Telefon schellt, ist es bereits elf. Er steht an der Terrassentür und starrt in den Garten, ohne ihn zu sehen. Der Kaffee ist seit Stunden kalt. Auf dem Weg zum Telefon fällt es ihm wieder ein. Er hat die Rufbereitschaft für den Kollegen Steeg übernommen. - 11 -
Er fährt die schmale Asphaltstraße entlang. Der graue Himmel hängt tief. In der Ferne beugt er sich noch ein Stück tiefer und schluckt die Kronen der Pappeln am Horizont. Die Autos sieht er von Weitem: den alten Strich-Achter-Mercedes von Joop van Oss, zwei Einsatzwagen und den Bulli der Spurensicherung. Der Volvo von Bongartz ist auch da. Als er aussteigt, kommt Joop ihm entgegen. »Hey! Ich hasse das.« Er schiebt seine Hände noch tiefer in die Taschen seiner roten Windjacke. »Ich kann das nicht haben, wenn die Toten im Freien liegen.« Er tritt mit der Fußspitze gegen den Reifen von Böhms Auto. »Wenn sie im Freien liegen, sehen sie immer aus wie weggeworfen.« Wieder tritt er gegen den Vorderreifen. Böhm zieht den jungen Holländer am Ärmel von seinem Auto weg. »Komm, wir stellen uns an dein Auto und reden da weiter, ja?« Van Oss stutzt einen Augenblick, dann grinst er breit. »Ach nee, lieber nicht! Außerdem ist das hier kein Auto, sondern eine Reisschüssel mit Deckel.« Sie gehen die schmale Straße entlang zum Feldrand. »Die Spurensicherung hat eine Brieftasche mit Ausweis in seinem Mantel gefunden. Der Mann heißt Gietmann. Manfred Gietmann, achtundsechzig Jahre alt, verheiratet, Bauunternehmer und Landwirt. Der Hof da vorne gehört ihm.« Van Oss streckt seinen Arm und zeigt auf einen roten, länglichen Backsteinbau. An den Seiten und nach hinter heraus kesseln helle Neubauten das Gebäude ein, als müssten sie es vor Angriffen aus dem Hinterland schützen. »Achim ist rüber und spricht mit seiner Frau.« Böhm hebt die Augenbrauen. Auf seiner Stirn erscheinen lange, schnurgerade Querfalten. Van Oss kaut verlegen auf seiner Unterlippe. »Joop!« Böhm sieht ihn über das Gestell seiner Nickelbrille hinweg an. »Du wärst dran gewesen!« »Er hat sofort gesagt, dass er es macht.« Joop schiebt seine Hände tief in die Seitentaschen seiner Windjacke. »Ich kann so was nicht! Außerdem sind wir doch ein gutes Team. Achim hält sich nicht gerne bei den Toten auf und ich mich nicht gerne bei den Verwandten.« Er blickt angestrengt über die Felder. »Sonst wissen wir noch nichts. Raubüberfall war es jedenfalls nicht. Mynheer Gietmann hat vierhundert D-Mark in seinem Portefeuille.« Sie steigen über das weiß-rote Absperrband. Der lehmige Boden des Ackers ist feucht, und die obere Schicht aufgeweicht. »Der Doc wollte nichts machen, bevor du ihn gesehen hast.« Böhm grüßt die beiden Wachtmeister per Handschlag. »Wer hat ihn gefunden?«, wendet er sich wieder an van Oss. »Ein Ehepaar aus der Stadt. Sie waren auf dem Weg nach Nimwegen.« Böhm bleibt stehen und sieht ihn mit großen Augen an. »Zu Fuß?« »Nee, mit dem Auto!« Er dreht sich um und geht zurück zur Straße. Van Oss starrt ihm ungläubig hinterher. »Was ist denn jetzt?« Böhm winkt ihn zu sich. »Joop, komm mal her und erklär mir was!« Sie stehen nebeneinander auf der schmalen Landstraße. »Ich kann von hier aus nicht sehen, dass da irgendetwas auf dem Feldweg liegt. Und ich stehe hier! Wieso sieht das jemand, der hier mit dem Auto vorbeifährt?« Joop nickt zufrieden. »Kann ich erklären!« Kurt Bongartz kommt auf sie zu. »Mach hin, Peter! Es ist Samstag. Ich will wieder nach Hause, aufs Sofa.« Das Wort Sofa verliert sich in einem Hustenanfall. Sein rundes Gesicht und sein kahler Kopf laufen rot an, während er fiepend nach Luft...


Mechtild Bormann wuchs am Niederrhein auf und lebt seit 1983 in Bielefeld. Sie arbeitete zunächst 15 Jahre im verschiedensten pädagogischen Bereichen und ging dann für eineinhalb Jahre nach Korsika. Anschließend wechselte sie beruflich in die Gastronomie und führte ein Restaurant in der Bielefelder Altstadt.
Seit 2011 arbeitet sie als freie Schriftstellerin. Ihr Kriminalroman "Wer das Schweigen bricht" wurde mit den Deutschen Krimipreis 2012 aufgezeichnet und für den Friedrich Glauser Preis nominiert.



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