Borner Professor Zamorra - Folge 1060
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-7325-0813-6
Verlag: Bastei Lübbe
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Die Geburt der Erinnerung
E-Book, Deutsch, Band 1060, 64 Seiten
Reihe: Professor Zamorra
ISBN: 978-3-7325-0813-6
Verlag: Bastei Lübbe
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Läuft es wirklich endlich auf den großen Showdown in New York hinaus? Es sieht ganz so aus, als hätte Rathuul - derzeit Finn Cranston - endlich seinen Schöpfer gefunden. Doch wie der Kampf ausgeht, ist völlig offen ...
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
»Im Abschied ist die Geburt der Erinnerung.«
Salvador Dalí
»Zu New York gehört man augenblicklich, nach fünf Minuten schon so sehr wie nach fünf Jahren.«
Tom Wolfe
Kapitel 1
Letzte Bestellung
Das Diner lag in Poughkeepsie, in einer ruhigen und angenehmen Nachbarschaft fernab von allem Trubel. Shelley Michaels arbeitete erst seit wenigen Wochen dort, hatte den Laden und seine beinahe schon ländliche Umgebung in Upstate New York aber bereits ins Herz geschlossen. Nach zwanzig Jahren im Zentrum der Metropole namens Big Apple und Seite an Seite mit einem äußerst launischen Ehemann war sie froh um die Abwechslung, froh um die Ruhe. Manhattan fraß einen auf, wenn man nicht achtgab – in den Straßenschluchten, den U-Bahn-Schächten, im Gedränge der Passanten. Und schlechte Ehen taten ihr Übriges, einen fertigzumachen. Nun aber, frisch geschieden und bereit für ein neues Leben, genoss Shelley jeden Tag.
Bis der Typ in der Biker-Jacke das Diner betrat. Shelley hatte gerade den bis dahin letzten Gast des Abends abgefertigt und bereits anfangen wollen, die Stühle hochzustellen und den Boden zu wischen – Routine vor jedem Ladenschluss; sie war heute die Letzte, also blieb das Reinemachen an ihr hängen –, doch offiziell hatte das Diner noch eine halbe Stunde geöffnet und der Biker jedes Recht der Welt, sich hier aufzuhalten. Sofern er sich benahm, hieß das.
»Was darf’s sein?«, fragte sie ihn, als sie auf ihn zutrat. Ihr war ein wenig mulmig dabei, und das fand sie selbst albern.
Er hatte sich im hintersten Winkel des Lokals niedergelassen, in einer der bequemen Nischen, die aus mit rotem Plastik bezogenen Polsterbänken und einem Tisch bestanden. Merklich desinteressiert studierte er die in durchsichtiges Plastik eingeschweißte Karte mit den Speisen und Getränken. Vor dem Fenster wehte der Nachtwind das herbstliche Laub über den leeren, dunklen Parkplatz.
»Sir?«, hakte Shelley nach, da ihr unheimlicher Gast nicht antwortete. Sie stellte die Karaffe Wasser vor ihm ab, die sie stets mitbrachte, wenn neue Gäste kamen. Wasser ging aufs Haus. »Einen Kaffee vielleicht?«
Dann hob er den Blick, sah sie an. Und Shelley Michaels zog ein eiskalter Schauer über den Rücken. Dieser Blick … Sie kannte ihn. Oh, sogar sehr gut. Das war der Blick eines Mannes, der sich nichts sagen ließ. Der nicht zuhörte, sondern zuschlug, wenn ihm danach war. Der keinen Widerspruch duldete. Zwanzig Jahre lang hatte sie sich vor diesem Blick gefürchtet – und ausgerechnet hier, in ihrem neuen, besseren Leben und im Gesicht eines ihr völlig Fremden – sah sie ihn wieder.
Shelley wich zurück, nur einen winzig kleinen Schritt. Sie schluckte. Das mulmige Gefühl wurde zu echter, substanzieller Angst. Auch die kannte sie gut.
Bleib cool, Mädchen, hörte sie die Stimme der Überlebenskünstlerin wieder in ihrem Innern. Die imaginäre Stimme hatte ihr zwei Jahrzehnte lang geholfen, die Hölle ihrer Ehe zu überstehen. Shelley hatte gehofft, sie hinter sich gelassen zu haben, als sie ihren Mann hinter sich ließ, doch alte Gewohnheiten vergingen ganz offensichtlich nie. Scheiße. Ganz ruhig. Vielleicht hat er nicht gemerkt, dass du Schiss vor ihm hast. Vielleicht reagiert er gar nicht darauf, wenn er es nicht merkt. Spiel ihm was vor. Du kannst das, das weißt du. Du hast es immer gekonnt.
Doch der Biker war echt groß. Mindestens zwei Meter. Er hatte militärisch kurzes blondes Haar. Ein verschlagenes Gesicht; kaltblaue Augen, markante Züge, Stoppelbart. Ein Kinn, an dem man Flaschen öffnen konnte. Seine Schultern, Arme und sein Oberkörper waren breit wie die eines Preisboxers. Sie steckten in der schwarzen Nietenjacke. Ein schwarz-weißes Emblem zierte den Rücken dieses Kleidungsstücks, und Shelley vermutete, es kennzeichne seinen Club. Der Mann trug dunkle Jeans und schwere Stiefel. Narben zierten seine Stirn und die linke Wange. Sie sahen uralt aus.
Shelley leckte sich nervös über die Lippen. »Sir?«
»Wir sind kein Wartesaal. Sie müssen schon was bestellen, wenn Sie hier sitzen wollen.« Na los, sag ihm das. Das sagst du doch sonst immer, wenn einer nicht spurt.
Da hatte die Stimme recht, aber sonst saß ihr auch nie jemand mit dem Blick gegenüber.
»Steak«, kam es plötzlich über die Lippen des Blonden. Seine Stimme war tief wie der Meeresboden und grimmig wie der Wald in einer gottverlassenen Winternacht.
Shelley brauchte einen Moment, bis sie begriff, dass er ihr geantwortet hatte. Einsilbig, aber immerhin. »S-steak, kein Problem«, mühte sie sich erneut um ein joviales Auftreten, doch ihre Knie waren weich wie Butter. »Mit Pommes, Zwiebeln, Ketchup …?«
»Roh.«
Sie blinzelte. Fast hätte sie aufgelacht, so nervös war sie. So absurd schien ihr die Bestellung. »Verzeihung, sagten Sie roh?«
»Roh«, wiederholte der Biker. Er klang mehr als genervt ob ihrer Fragerei. Wie ein Vulkan kurz vor dem Ausbruch. Seine Lippen wurden schmal. Der Blick kehrte zurück.
Roh. Kein Problem. Spart dir die lästige Kocherei, so spät am Abend.
Doch die Stimme der Überlebenskünstlerin war keine große Hilfe, und Shelley hasste sie. Die Überlebenskünstlerin war nicht stark, auch wenn ihr Name das suggerieren mochte. Sie hatte im Gegenteil nur überlebt, weil sie schwach war und sich duckte. Weil sie aufgab, wenn es darauf ankam. Die neue Shelley Michaels war anders. Das war es doch, worum es der neuen Shelley Michaels überhaupt ging!
»Roh«, murmelte sie leise. Für einen Moment wusste sie nicht, was sie tun sollte, und blieb einfach stehen. Dann wandte sie sich zur Küche um, gab auf. Alte Gewohnheiten.
»Hey, anmachen!«, rief ihr der Biker nach. Ein Befehl, keine Bitte.
Shelley blieb fragend stehen, sah zu ihm zurück. Er hatte den Arm ausgestreckt und deutete auf den Flachbildschirm unter der Decke des Schankraumes, gleich oberhalb des Ausgangs. An den Wochenenden liefen dort immer die Sportübertragungen, sonst ließen die Angestellten das lärmende Ding meist aus.
»Sir?«
Er sah zu ihr – der Blick, oh, dieser elende, entsetzliche, bis ins Mark fahrende Blick voller schrecklicher Erinnerungen, die doch nicht hierher nach Poughkeepsie gehörten! – und knurrte. Kein Scherz, und ganz, ganz wirklich: Er knurrte. Laut, wie ein Löwe, kurz bevor er die Gazelle reißt.
Und Shelley spurte. Nahezu hektisch schnell eilte sie hinter den Tresen. Zitternde Hände suchten und fanden die Fernbedienung, schalteten das Gerät ein. Erst dann, als es flackernd und plärrend zu neuem Leben erwachte, begriff Shelley, dass sie instinktiv getan hatte, was der Fremde von ihr verlangte. Noch so eine alte Gewohnheit: Erst gehorchen, dann nachdenken. Denn wer spurte, bekam weniger Prügel ab.
Willkommen in Upstate New York, spottete die Stimme der Überlebenskünstlerin. Häme und Tadel troffen aus jedem Wort, ja, sogar Abscheu. Wo du genauso klein und schwach bist wie in der großen Stadt.
Shelleys Unterlippe zitterte, als sie die Fernbedienung wieder sinken ließ. Für einen Moment blieb ihr Blick an dem Baseballschläger unterhalb der Theke hängen. Am Notfallwerkzeug, wie ihr Boss ihn nannte. Dann am Telefon. Das NYPD war im Kurzwahlspeicher.
Aber was sollte sie den Cops sagen, hm? Dass ihr der Typ nicht gefiel? Das war kein Verbrechen. Dass er rohes Fleisch haben wollte? Höchst unüblich für einen Besucher eines Diners, aber bestimmt ebenfalls nicht verboten. Dass er darauf bestand, fernzusehen, während er aß? Kinderkram.
Und wozu den Baseballschläger zücken? Was hatte der Kerl ihr denn groß getan, hm? Er war schroff und ungepflegt, hatte keine Manieren. Okay. Aber sonst?
Er gefällt mir nicht, dachte Shelley. Ein Satz, wie aus Trotz geboren. Ein Satz voller übler Vorahnung.
Das muss er auch nicht, erwiderte die Stimme der Überlebenskünstlerin in ihrem Kopf. Geduldig, nüchtern, defensiv. Mach, was er will. Mehr ist gar nicht nötig. Gehorche und überlebe.
Also ging Shelley in die Küche. Nahm ein rohes, drei Handteller großes Stück Rindfleisch aus dem Kühlschrank. Legte es auf einen Teller. Sollte sie es würzen? Garnieren? Und war es nicht absolut lächerlich, dass sie sich diese Fragen tatsächlich stellte? Himmel, was geschah hier mit ihr? So war sie doch gar nicht, so klein und duckmäuserisch! So verschüchtert. Nicht mehr! Dies war doch Poughkeepsie, verdammt. Dies war die Zukunft, ihre Zukunft, nicht die Vergangenheit.
Sie atmete tief durch, schloss kurz die Augen.
Schmeiß ihn raus, sagte sie sich. Sei die neue Shelley und schmeiß das Arschloch einfach raus. Das kannst du. Das musst du.
Er wird dir wehtun, warnte die Stimme der Überlebenskünstlerin. Sie klang beinahe schon überheblich. Als spräche sie zu einem absoluten Dummerchen, das einfach nicht hören wollte. Wenn du nicht gehorchst, wird er dich das spüren lassen.
Nein, dachte Shelley. Nicht er mich. Ich ihn!
Sie ließ das Steak Steak sein. Stattdessen griff sie sich ein Messer, bevor sie zurück zur Schwingtür ging, die die Küche vom Schankraum trennte. Doch kaum wollte sie sie öffnen, schlug die Tür ihr auch schon ruckartig ins Gesicht!
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