E-Book, Deutsch, 320 Seiten
Borgeldt Schnulzenroman
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-95575-613-0
Verlag: Ventil Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Die Autobiografie des Heinrich Fraunhofer aka Danny Silver
E-Book, Deutsch, 320 Seiten
ISBN: 978-3-95575-613-0
Verlag: Ventil Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Was macht ein Schlagerstar, wenn er alt geworden ist und es hasst, immer die gleichen Songs zu singen? Heinrich Fraunhofer ist mittlerweile 72 und hatte in den Siebzigern unter dem Namen Danny Silver eine einzigartige Schlagerkarriere hingelegt. Mittlerweile hat die Welt ihn vergessen und eigentlich wollte er auch nie Schlager machen, sondern ernsthafte Musik. Nach einem gescheiterten Suizidversuch organisiert er nun sein Leben neu, beginnt seine Autobiografie zu schreiben und überhaupt noch einmal von vorne anzufangen. Dabei behilflich sind ihm eine junge Punksängerin, ein misanthropischer Maler und ein Schriftsteller, der nie auftaucht.
In Rückblicken berichtet Fraunhofer von seinem Leben, seinen Bemühungen, sich in den Sechzigern einen Namen als Komponist von Avantgarde-Musik zu machen, um gegen die Kulturindustrie zu rebellieren und seinem Vorhaben, ein elektronisches Instrument zu bauen, nur um letztlich von der Geschichte überholt zu werden. Verfolgt wird er dabei von seiner autoritären Mutter, die davon träumt, aus ihm einen einzigartigen Schubert-Interpreten zu machen. Er berichtet von seinem Scheitern als Avantgardist, wie er in West-Berlin untertaucht, wo er schließlich für den Schlager entdeckt wird, von seinen zwei gescheiterten Ehen und seiner Tochter, die alles andere als Künstlerin werden will. Und am Ende muss Fraunhofer sich fragen, ob er denn wirklich anders ist als sein Vater, der bei den Nazis Karriere gemacht hatte.
"Schnulzenroman" erzählt von gescheiterten und erfolgreichen Künstlerexistenzen, den Problemen der 68er, die nie so wie ihre Eltern werden wollten und es eben doch geworden sind, fragt nach der gesellschaftlichen Relevanz von Musik, stellt Thesen über den deutschen Schlager auf und hält am Ende fest, dass alles andere wichtig ist, nur nicht die Kunst – oder doch?
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»Also, erzähl mir was über deine Eltern. Damit könnten wir anfangen«, sagte Jessy neben mir auf dem Beifahrersitz. Wir waren bereits auf der Autobahn und hatten unsere Verfolger abgehängt. Zumindest schien es so. Als wir nämlich an der Pforte des Lerchenhofs meinen Arztbrief abholten und uns von Johann, dem Pförtner, verabschiedeten, sagte dieser, dass zwei Herren nach mir gefragt hätten und deutete auf den Parkplatz der Klinik. Dort stand ein ziemlich auffälliger schwarzer Oldtimer, ein Sportwagen und darin zwei Männer, ein älterer mit Vollbart und ein jüngerer, der, wie ich flüchtig schätzte, in den Dreißigern war. Beide beobachteten die Pforte und gerieten, als sie uns sahen, in Bewegung. Der Ältere wollte die Beifahrertür öffnen, aber sie schien zu klemmen. Daraufhin versuchte er, bei dem jüngeren Mann auszusteigen, der aber zu spät reagierte, weil er mit seinem Smartphone beschäftigt war. Der Alte wollte sich an ihm vorbeiquetschen, aber da er ein wenig übergewichtig war, dauerte das alles sehr lange, sodass ich Zeit hatte, schnell zu dem wartenden Taxi zu laufen, das Gepäck einzuladen, einzusteigen und davonzufahren. Im Vorbeirennen fiel mir auf, dass das Auto der beiden ein Facel Vega war, das gleiche Modell, in dem Camus vom Sohn seines Verlegers Gallimard zu Tode gefahren worden war. Jessy blieb die ganze Zeit an meiner Seite, sprang wortlos ebenfalls ins Taxi und fuhr mit mir zusammen zu dem Parkplatz, auf dem mein Mercedes 200 auf mich wartete. Als wir den Parkplatz in meinem Wagen verließen, stellten wir fest, dass der schwarze Facel Vega es geschafft hatte, uns aufzuspüren. Auf der Autobahn schienen wir ihn allerdings abgehängt zu haben. Ich hielt unsere Verfolger für Presseleute, die nach meinem Suizidversuch an einer Titelstory mit mir für irgendein Boulevardblatt interessiert waren. »Also gut«, seufzte ich. »Ich mache dir einen Vorschlag. Wenn wir diese Fahrt schon zusammen machen, was du einfach so beschlossen hast, dann können wir uns auch unterhalten. Aber unterhalten bedeutet, dass beide sprechen. Ich erzähle dir etwas aus meinem Leben und du mir etwas aus deinem. Einverstanden?« »Okay, einverstanden. Also, das Wichtigste von mir zuerst: Ich bin schwanger.« Diese Nachricht brachte mich völlig aus dem Konzept, wie man sich vorstellen kann, und ich war froh, dass ich keinen Unfall baute. Ich stellte ihr einige Fragen dazu, besonders was sie denn jetzt weiter vorhabe. Aber sie winkte ab. »Nein, nein, nein. Jetzt bist du erst mal dran. Das musst du erst mal einholen. Also: Wer und wie waren deine Eltern?« Die Geschichte kennt Gewinner und Verlierer. Möchte man manchmal glauben. Aber es gibt natürlich auch Gewinner, die Verlierer waren und umgekehrt. Als ich jung war, war Heinrich Lübke Bundespräsident. Man möchte meinen, ein Gewinner. Aber Lübke kennt man heutzutage nur noch durch seinen Spruch: »Meine Damen und Herren, liebe Neger!« Also was für ein Gewinner ist ein Bundespräsident, den man nur noch durch den rassistischen Anfang einer Rede kennt? Oder man denke an den Fürsten von Pückler, ein seinerzeit sehr erfolgreicher und gebildeter Literat, der auch berühmte Landschaftsgärten entwarf und baute. Heute sieht man seinen Namen ziemlich häufig in Gefriertruhen im Supermarkt. Meinen Vater kennt kaum noch jemand, obwohl er früher sehr berühmt war. Und das ist wahrscheinlich auch besser so. Mein Gesangstalent liegt nämlich in der Familie. Georg Fraunhofer war Schlagersänger, aber in erster Linie Schauspieler. Er war auch der Grund, warum ich einen Künstlernamen annahm. Er muss ein träumerisches Kind gewesen sein, 1910 im Rhein-Main-Gebiet als Sohn eines Winzers geboren, begeisterte er sich als junger Mann für die Romantik, träumte davon, Künstler zu werden und nach Italien auszuwandern. Er zitierte immer Gedichte aus Des Knaben Wunderhorn von Wackenroder und Tieck. Als ich vierzehn war, schenkte er mir die Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders. Ich wusste eigentlich nicht genau, was ich damit sollte, habe sie auch nie gelesen, besitze das Buch aber noch heute. Während der älteste Bruder das elterliche Weingut übernehmen sollte, wurde mein Vater nach der Schule nach Frankfurt geschickt, um eine Lehrstelle in einer Bank anzutreten. Aber die Arbeit langweilte ihn. Er interessierte sich mehr für Theater und Oper und nahm privat Schauspielunterricht. Es gelang ihm, mit zwanzig Jahren Komparse am Frankfurter Schauspielhaus zu werden. Einer der Regisseure bemerkte, dass mein Vater ein gewisses Charisma besaß und ließ ihn einmal eine Nebenrolle übernehmen. Von da an ging es bergauf mit seiner Karriere. Er kündigte in der Bank, nachdem er seine erste Hauptrolle in einer Komödie namens Die Kommunionsfeier bekommen hatte. Nebenbei feierte er große Erfolge im rheinischen Karneval, wo er regelmäßig bei Sitzungen auftrat. Aber die lokale Berühmtheit, die er geworden war, reichte ihm nicht. Als 1933 alle Theater gleichgeschaltet wurden, witterte Georg Fraunhofer seine große Chance. Er biederte sich bei dem neuen Intendanten Hans Meissner an und wurde der Star des völkischen Theaters in Frankfurt. Ungefähr zu diesem Zeitpunkt muss Joseph Goebbels, der immer auf der Suche nach neuen deutschen Talenten war, auf ihn aufmerksam geworden sein. Kann sein, dass er ihn einmal bei den Römerberg-Festspielen auf der Bühne gesehen hatte, jedenfalls holte er meinen Vater nach Berlin und brachte ihn bei der UFA unter. Dort stieg Georg Fraunhofer als Gesangstalent und Schauspieler in der Propaganda-Maschinerie kometenhaft zu einer Berühmtheit auf. Er betörte die Reichsdeutschen über den Volksempfänger mit einer Mischung aus Heimatkitsch und melancholischen Sehnsuchtsliedern nach Liebe und Vaterland, aber sein Hauptgeschäft wurde der Film. Ab 1934 spielte er in vielen schnulzigen Liebesfilmen mit, in denen er immer den jungen Liebhaber mimte. Seichte Unterhaltung ist also gewissermaßen bei uns eine Familientradition. Meine Mutter, Margarete Hammerstein, sang in einem Berliner Varieté, als mein Vater sie 1938 kennenlernte. Sie war fünf Jahre jünger als er und stammte aus einer Textilfabrikantenfamilie. Ihr Vater hatte sie vor dem Ersten Weltkrieg in Berlin gegründet und war schnell zu Wohlstand gelangt. Die Gesinnung in der Familie meiner Mutter war deutsch-national. Mein Großvater empfand den Vertrag von Versailles als großes Unrecht und sympathisierte mit den sogenannten Freikorps, die einen Bürgerkrieg gegen die Regierung in Weimar führten. Er muss schon sehr früh ein Anhänger Hitlers gewesen sein, jedenfalls weiß ich, dass er ein Exemplar von Mein Kampf in erster Auflage besaß. Diese politische Haltung übertrug sich auf meine Mutter. Da ihr Vater mit den Nazis sympathisierte, tat sie es eben auch. Wie sie als Bürgerstochter aus gutem Hause auf den Gedanken gekommen war, in einem etwas zwielichtigen Amüsierlokal zu arbeiten, weiß ich nicht. Aber sie tat es, sang Chansons, tanzte dazu und träumte von einer Karriere in einem großen Varieté in Paris. Mein Vater zerstörte diese Träume meiner Mutter auf seine Art: Er heiratete sie. Bis zu seinem Tod war sie lediglich seine Ehefrau und begann eine Karriere als Alkoholikerin. Ich wurde 1945 geboren, knapp vier Wochen nach Kriegsende, nachdem die Deutschen es geschafft hatten, dass ihr eigenes Land in Trümmern lag. Man könnte meinen, der verlorene Krieg hätte für meinen Vater das Ende seiner Karriere bedeutet. Er war einer jener Unterhaltungskünstler, die im Dritten Reich ein behagliches Leben geführt hatten und von ihrem Übervater Goebbels wie kleine Kinder, denen jeder Wunsch erfüllt wird, gehätschelt worden waren. Georg Fraunhofer wirkte zusammen mit Stars wie Willy Birgel, Johannes Heesters, Marika Röck oder Willy Fritsch besser als die ausgefeilteste Propaganda-Rede. Joseph Goebbels, Doktor der Germanistik und den Künsten zugewandt, war sich dieser Leistung seiner Schützlinge bewusst und förderte sie, wo er nur konnte, wenn ihm nicht Hermann Göring, der zweite Mann in Hitlers Reich und ein weiterer bedeutender Kunstexperte der Nazis, dazwischen funkte. Aber meistens gab es keine Probleme. Mein Vater jedenfalls lebte wie ein Fürst und wie alle anderen Stars dieses Staates, ohne sich darum zu kümmern, dass er durch seinen raschen Aufstieg nur die Lücke gefüllt hatte, die durch die verschleppten, exilierten und verhafteten Regimegegner und jüdischen Künstler entstanden war. Er sagte später, dass er sich nie sonderlich für Politik interessiert habe, sondern für Kunst und schöne Frauen. Letzteres ist wörtlich zu nehmen. Er hatte bei jedem seiner Filme eine andere Geliebte vor und hinter der Kamera. Meine Mutter schwieg stets dazu und trank. Goebbels, der ebenfalls an Schauspielerinnen interessiert war und deshalb hinter vorgehaltener Hand »der Bock von Babelsberg« genannt...