Bordeleau Das Common des Kommunismus
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-96317-746-0
Verlag: Büchner-Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Eine Kartographie
E-Book, Deutsch, 178 Seiten, Format (B × H): 128 mm x 180 mm
ISBN: 978-3-96317-746-0
Verlag: Büchner-Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Mag sein, dass der »real existierende Sozialismus« tot ist, aber es lohnt, aus seinen Trümmern das zu bergen, worum es ihm ging: eine bestimmte Form des Miteinander-Seins oder – in der Begrifflichkeit des kanadischen Philosophen Érik Bordeleaus – das »Common«. Bordeleaus Essay schafft ein Verständnis für ebendieses Common, für die transindividuelle und gemeinschaftsstiftende Macht des politisch-kulturellen Projekts des Kommunismus, den er so aus den Klauen eines verkürzten und interessegeleiteten Geschichtsbildes löst. Bordeleau entwickelt sein Konzept des Common im Dialog mit Ansätzen der zeitgenössischen politischen Philosophie (darunter Texte von Badiou, Agamben, Deleuze & Guattari, Latour, Stengers, Groys, Bifo, Aspe, Nancy und dem Unsichtbaren Komitee) sowie in einer Beschäftigung mit Chinas Kulturrevolution, wie sie sich durch die Linse der chinesischen Gegenwartskunst darstellt. Ins Zentrum rückt für Bordeleau dabei die Frage nach der Rolle von Abstraktionen – ästhetischen wie politischen – im Wirken einer revolutionären Politik. Denn: Wie lässt sich widerständiges, veränderndes Handeln denken, wenn den wirkmächtigen Finanzabstraktionen, die unsere Gegenwart bestimmen, nichts entgegengesetzt werden kann? Bordeleaus Kartographie des Common mündet in einer Reihe von Vorschlägen zur Erneuerung radikaler Politik, die für transindividuelle, lokal und ökologisch abgestimmte Praktiken plädieren – einen Kommunismus der Resonanz für eine Zukunft, die Mehr-als-Menschliches ins Auge fasst.
Weitere Infos & Material
Das sinnliche Common und
seine Abstraktionen: eine Kartographie
Einleitung
Welche Lehren können wir aus den Erfahrungen des Kommunismus ziehen? Inwiefern sind sie für unser heutiges Leben noch von Belang? Seit dem Fall der Berliner Mauer und der Einbindung Chinas und der postsowjetischen Staaten in das Welthandelssystem wird die kommunistische Ära häufig als Anomalie oder als historischer Zwischenfall betrachtet, als eine Art Rückschritt oder Aufschub in einer vom unaufhaltsamen Vormarsch des Kapitalismus bestimmten Geschichte. Die Konformisten geben sich meist damit zufrieden, von Zeit zu Zeit das Schreckgespenst des stalinistischen Terrors oder die Katastrophe der maoistischen Umerziehungslager heraufzubeschwören (welche sie mit den Gräueltaten der Nationalsozialist:innen gleichsetzen) und sich dabei als Verteidiger der Freiheit und unserer wohlmeinenden Demokratien zu gerieren. Wenn wir aber jegliche strukturelle Verbindung oder in ihrem Wesen begründete Mitschuld der westlichen Demokratien am Siegeszug des Totalitarismus im 20. Jahrhundert leugnen, sind wir der Gefahr einer sich wiederholenden Geschichte schutzlos ausgeliefert. Der derzeit tonangebende liberale Moralismus und seine Teleologie vom Ende der Geschichte – welche auf der befremdlichen Ansicht beruht, es sei einfacher, sich das Ende der Welt vorzustellen als das Ende des Kapitalismus – gehen von einem vollendeten und befriedeten politischen System aus und festigen so die etablierten Machtverhältnisse: Das Feld des in der demokratischen Debatte Sagbaren wird begrenzt und das Spiel der politischen Kräfte dadurch von vornherein eingehegt. Der hinkende Vergleich von Faschismus und Kommunismus, ihre Verdichtung zu einer einzigen totalitären und antiliberalen Figur, untermauert den Status quo und diskreditiert die Erkundung eines dritten politischen Weges, der sowohl progressiv als auch radikal ist – ein Begriff, den die Massenmedien bekanntermaßen kategorisch ächten und der als eine Art Abschreckungsmantra fungiert. Auf diese Weise wird laut dem slowenischen Philosophen Slavoj Žižek, der das kommunistische Regime Titos selbst erlebt hat, »die Spezifität des Subjekts des radikalen Emanzipationskampfes ausgelöscht, dieses Subjekt bleibt ›unsichtbar‹, es hat keinen Platz in der ›kognitiven Kartographie‹ des Liberalen«.1 Eine Spezifität, die getilgt oder auf plumpe Weise dämonisiert wird, wie im letzten Teil von Christopher Nolans Batman-Trilogie The Dark Knight Rises (2012), in dem eine revolutionäre »Armee der Schatten« von einem blutrünstigen Psychopathen angeführt wird. Mit seiner Erzählung einer herbeifantasierten Apokalypse – die spätestens seit dem Erscheinen von Independence Day im Jahr 1996 das Grundgerüst eines jeden Sommer-Blockbusters bildet – ist dieser Film nur eines von zahllosen Beispielen dafür, wie unsere kollektiven politischen Vorstellungen geprägt werden und die Möglichkeit eines emanzipatorischen Kampfes, der nicht ipso facto in einer Diktatur oder in der »Anarchie« mündet, ausgeschlossen wird. Es geht mir keinesfalls darum, die im Namen des kommunistischen Ideals begangenen Gräueltaten herunterzuspielen oder nachträglich zu rechtfertigen. Ganz im Gegenteil: Um die zerstörerischen Kräfte, die das 20. Jahrhundert geprägt haben, vollkommen erfassen und ihr Vermächtnis kollektiv annehmen zu können, müssen wir sie meines Erachtens zuerst von der gegenwärtigen moralischen Inflation befreien und dadurch das eigentlich Politische an ihnen zum Vorschein bringen.2 Durch das fortwährende Argumentieren mit der Zahl der Todesopfer rückt das moralisierende Disqualifizieren diese tragischen Ereignisse in ein unwirkliches Licht. Das schadet uns allen – der Boden der Erinnerungskultur wird zwangsläufig unfruchtbar, wenn man ihn immer und immer wieder mit der oberflächlichen Heraufbeschwörung eines seiner Geschichte beraubten und dadurch »absoluten« Bösen beackert. Es ist sehr schwer geworden, den lebendigen Lauf der Geschichte zurückzuverfolgen und das Bejahende und Emanzipatorische der revolutionären Gewalt nachzuempfinden, die das 20. Jahrhundert erfasste. Vor diesem Hintergrund ist ein Nachdenken über die kommunistische Erfahrung, insbesondere über ihre subjektive und ästhetische Dimension, unverzichtbar, wenn wir unserem Wunsch nach Miteinander-Sein (être-en-commun, im Englischen: being-in-common) Konsistenz verleihen und die Defizite der neoliberalen Ordnung aufzeigen wollen. Selbstverständlich erweisen sich das sowjetische und das maoistische Modell mit ihren diktatorischen, freiheitsbedrohenden Praktiken und ihren Plänen zur Homogenisierung der Subjektivitäten als äußerst kontraproduktiv, wenn es darum geht, kollektive Existenzweisen zu ersinnen, die fähig sind, in Resonanz mit dem zu treten, was ich als sinnliches Common (commun sensible) bezeichnen werde. Denn während das Common singulär oder einzig in seiner Art ist, wie Fernand Deligny nahelegt – etwas Ungezähmtes, das uns durchdringt, ohne dass wir uns seiner je bemächtigen können – bleibt der Kommunismus als Doktrin unweigerlich eine Abstraktion. Die Frage, ob es sich bei dieser Abstraktion um eine rettende handelt oder um eine, vor der man sich retten muss, ist komplex und vielschichtig. Im Rahmen dieses Essays werde ich mich ihr widmen, indem ich auf die Entstehung des Projekts zur Schaffung des »Neuen Menschen« eingehe – das Modell einer revolutionären, von den Konditionierungen der »alten« bürgerlichen Welt befreiten Subjektivität, welche jene »Begeisterung für ein Abstraktes« bis hin zum Terror verkörpert, die laut Hegel der eigentlichen Definition von Fanatismus entspricht. Alberto Toscano, Autor des Buches Fanaticism: On the Uses of an Idea (2010) und Shootingstar des historischen Materialismus, stellt hierzu unumwunden fest: Vom Standpunkt seiner verbissensten Gegner ist der Kommunismus eine politische Pathologie oder Abstraktion, eine gewalttätige Leugnung irdischer Unterschiede und Gewohnheiten, die der Beschränktheit der Geschichte und der Trägheit der Natur keine Beachtung schenkt.3 In Anbetracht der ideokratischen Gewalt des kommunistischen Projekts könnten sich wohl nur Intellektuelle, die in die allumfassende Macht dieses Konzepts vernarrt sind, dem gesunden Menschenverstand des Konkreten und Bewahrenden verschließen. Ein Verdacht, den der originelle Denker und Ikonoklast Boris Groys4, mit dem wir uns in Kapitel II in Zusammenhang mit der Analyse der Kunstproduktion im Sowjetregime noch ausführlicher befassen werden, durch seine provokanten Ausführungen bestätigt. Im Gegensatz zu zahlreichen linken Denker:innen, die die Idee des Kommunismus gerne vor dem retten würden, was man unter Verwendung der üblichen prophylaktischen Anführungszeichen als »real existierenden Sozialismus« bezeichnet, betont Groys, der Kommunismus vollziehe die »totale Versprachlichung des menschlichen Schicksals«, was wiederum der Grund dafür sei, dass »jeder, der mit kritischem Bewußtsein ausgestattet ist«, eine »instinktive Vorliebe« für den Kommunismus empfinde.5 Groys betrachtet den Kommunismus in diesem Sinne als moderne Umsetzung des Platonismus: »Die Sowjetunion hat sich in der Tat als ein Staat verstanden, in dem allein die Philosophie regiert.«6 Aus diesem Streben danach, mit den Mitteln der Sprache das gesamte Leben zu beherrschen, ergibt sich eine wirkmächtige Konzeption der Einheit von Gegensätzen, der sich nicht einmal die wissenschaftliche Rationalität, so wie wir sie üblicherweise begreifen, entziehen kann. Groys’ Beweisführung folgt einer messerscharfen Logik: Wenn das Leben von Natur aus widersprüchlich ist, kann man es nur beherrschen, indem man seine Paradoxien immer weiter vertieft. Die formale Logik aber, erklärt uns Groys – und das ist das Bürgerliche an ihr –, schließt alles Paradoxe aus. Wohingegen der dialektische Materialismus das Paradox zu seinem Hauptgegenstand macht und bis in seine politischen Diskurse hinein historisiert. All das deutet darauf hin, dass sich Groys der erbitterten antiplatonischen Totalitarismuskritik entgegenstellt, die der äußerst liberale Karl Popper in seinem 1945 in London veröffentlichten Werk Die offene Gesellschaft und ihre Feinde ausgeführt hat. Die von Popper geforderte demokratische Öffnung beruht auf der erkenntnistheoretischen Annahme, dass es unmöglich ist, Gesetzmäßigkeiten zu bestimmen, die den Gesamtverlauf der Geschichte lenken. Poppers Behauptung, sein berühmtes »Prinzip der Falsifizierbarkeit« stelle das Abgrenzungskriterium für Wissenschaftlichkeit dar, steht im Widerspruch zum umfassenden Anspruch des dialektischen Materialismus und erlangt dadurch eine ungeahnt politische Tragweite. Angesichts der schwindelerregenden Wirkung von Groys’ unweigerlich paranoiden Deutungen des Kommunismus möchte man sich eher auf der Seite der Vernunft wissen – so wie eine britische Besprechung von Alain Badious Pamphlet Wofür steht der Name...