E-Book, Deutsch, 384 Seiten
Reihe: Wissenschaftsgeschichte
Borck Hirnströme
1. Auflage 2011
ISBN: 978-3-8353-2074-1
Verlag: Wallstein Verlag
Format: PDF
Kopierschutz: 0 - No protection
Eine Kulturgeschichte der Elektroenzephalographie
E-Book, Deutsch, 384 Seiten
Reihe: Wissenschaftsgeschichte
ISBN: 978-3-8353-2074-1
Verlag: Wallstein Verlag
Format: PDF
Kopierschutz: 0 - No protection
Cornelius Borck schildert die spannende Geschichte der Forschung auf dem Weg zum »elektrischen Gehirn«.
Die Visualisierung von Gehirnprozessen hat in der Geschichte der Hirnforschung regelmäßig große Erwartungen geweckt. Cornelius Borck stellt mit der Registrierung elektrischer Hirnströme eine Aufzeichnungstechnik ins Zentrum seiner Untersuchung, mit der sich seinerzeit die Hoffnung verknüpfte, das Gehirn in seiner eigenen Sprache schreiben zu lassen und so seine Funktionsweise lesbar zu machen. Er verfolgt die vielfach widersprüchlichen Deutungen zur Elektroenzephalographie von den Versuchen des deutschen Psychiaters Hans Berger und seiner Veröffentlichung eines menschlichen EEG im Jahr 1929 bis zu ihrer internationalen Ausbreitung und Konsolidierung als klinische Diagnosemethode in der Mitte des 20sten Jahrhunderts. Borcks These lautet, daß die Schrift des Gehirns in lokalen Forschungskulturen je spezifische Konturen annahm, aus deren Widerstreit ein neues wissenschaftliches Objekt, das elektrische Gehirn hervortrat.
Wenn sich in Borcks Analyse Differenzen und Divergenzen in der Hirnforschung als Effekte lokaler Interaktionen verschiedener Akteure erschließen, liefert er damit zugleich einen Beleg für die kulturelle Formbarkeit des Gehirns. Das elektrische Gehirn ist in einem historisch präzisierbaren Sinne erst das Produkt seiner elektrotechnischen Erforschung. Das Wissen vom Gehirn und Theorien über dessen Funktionieren sind von den Maschinen geprägt, denen sich dieses Wissen verdankt. Es stellt sich deshalb vielmehr die Frage, was sich eigentlich darin manifestiert, daß sich die erhobenen EEG-Befunde immer wieder den vorgelegten Theorien und Deutungen entzogen.
Zur Reihe:
Die Wissenschaftsgeschichte verstand sich lange Zeit als eine Art Gedächtnis der Wissenschaften. Heute sucht sie ihren Platz in der Kulturgeschichte und sieht ihre Aufgabe nicht zuletzt darin, Brücken zwischen den Naturwissenschaften und den Geisteswissenschaften zu bauen. Die Formen, in denen dies geschieht, sind keineswegs ausgemacht. Sie sind Gegenstand eines großen, gegenwärtig im Gange befindlichen Experiments. Die historische Einbettung der wissenschaftlichen Erkenntnis, der Blick auf die materielle Kultur der Wissenschaften, auf ihre Objekte und auf die Räume ihrer Darstellung verlangt nach neuen Formen der Reflexion, des Erzählens und der Präsentation. Die von Michael Hagner und Hans-Jörg Rheinberger herausgegebene Reihe »Wissenschaftsgeschichte« versteht sich als ein Forum, auf dem solche Versuche vorgestellt werden.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
1;Inhalt;6
2;ELEKTRISIERENDE HIRNBILDER;8
3;HANS BERGERS LANGER WEG ZUM EEG;24
3.1;Strom im Kopf;24
3.2;Forschungsstrategien eines konservativen Psychiaters;29
3.3;Das Maß der Psychischen Energie;37
3.4;Die Spur zum Strom;44
3.5;Verstärkte Schwankungen;56
3.6;Artefakte und Störungen;65
3.7;Einladung nach Stockholm;74
4;ELEKTROTECHNIKEN DES SEELENLEBENS;86
4.1;Kulturströme;86
4.2;Der Bioingenieur und die Psychodiagnostik;92
4.3;Nerven-Apparate und psychische Schaltkreise;103
4.4;Gedankenstrahlen und Radio-Telepathie;113
4.5;Konfigurationen der Elektrotherapie im Radiozeitalter;119
4.6;Die neusachliche Poesie der Hirnschrift;128
4.7;Die Experimentalisierung des Alltagslebens;136
5;TERRA NOVA: KONTEXTE ELEKTROENZEPHALOGRAPHISCHER EXPLORATIONEN;142
5.1;Epistemische Resonanzen und materiale Kulturen;142
5.2;Bergers weitere Fahrt durch die Hirnwellen;144
5.3;Lokaltermin in Berlin-Buch;164
5.4;Anerkennung mit britischem Understatement;177
5.5;Der Sprung über den Teich;191
5.6;Die Matrix der Ströme;211
6;VORWÄRTS UND VIEL VERMESSEN!;214
6.1;Zur kulturellen Praxis einer neuen Technik;214
6.2;Dynamiken der Standardisierung;216
6.3;Ein diagnostisches Panoptikum;231
6.4;Im Bann des Schocks;244
6.5;Das elektrische Gehirn in Auschwitz;258
7;BAUEN BASTELN DENKEN;264
7.1;Was verbirgt das EEG?;264
7.2;Die schnellen Schwingungen des Denkens;267
7.3;Das Konzert der Hirnströme;276
7.4;Höhenflüge eines deutschen Physiologen;283
7.5;Das Gehirn als kybernetische Maschine;291
7.6;Hirntheorien aus dem Modellbaukasten;302
8;PLÄDOYER FÜR EINE OFFENE EPISTEMOLOGIE;314
9;Literatur;328
10;Abbildungsnachweise;374
11;DANK;376
12;PERSONENREGISTER;378
VORWÄRTS UND VIEL VERMESSEN! (S. 213-218)
Zur kulturellen Praxis einer neuen Technik Anfang der 1950er Jahre nutzte ein junger Absolvent der Pariser École normale supérieur – mit seinen Interessen zwischen Philosophie und Psychologie schwankend, aber offenbar von einer Tutorenstelle an der École und einer Assistentenstelle am Philosophischen Institut der Universität Lille intellektuell unausgelastet – seine persönlichen Kontakte, um Alltag und Forschungsarbeit der Psychiatrie kennenzulernen. Im neuropsychiatrischen Hôpital Sainte-Anne in Paris, wo er während seines Studiums selbst einmal wegen depressiver Zustände als Patient gewesen war, hospitierte er eine Zeitlang bei Jacqueline und Georges Verdeaux in der EEGAbteilung.
Er wurde als Kontrollproband buchstäblich teilnehmender Beobachter ihrer Studien und begleitete sie auch bei ihren EEG-Untersuchungen in der zentralen französischen Untersuchungsstelle zur medizinisch- psychologischen Begutachtung von Strafgefangenen in Fresnes. In der Verschränkung der beiden EEG-Einsatzorte manifestierte sich ein Nexus von therapeutischer und disziplinierender Praxis, der den Intellektuellen immer wieder neu als Verschränkung von Wissen und Macht beschäftigen sollte.
Auch wenn Michel Foucault sich selbst nicht dezidiert zu seinen Erfahrungen in der EEG-Forschung geäußert hat, stehen sie in einer mehr als nur zufälligen Koinzidenz mit seinem ersten Buch Psychologie und Geisteskrankheit. Dort formulierte er 1954 eine irritierende epistemologische Perspektive auf die Entwicklung der Psychologie: Man darf nicht vergessen, daß die »objektive« oder »positive« oder »wissenschaftliche« Psychologie ihren historischen Ursprung und ihren Grund in einer pathologischen Erfahrung gefunden hat. […]
Der Mensch ist eine psychologisierbare Gattung erst geworden, seit sein Verhältnis zum Wahnsinn eine Psychologie ermöglicht hat, d.h. seit sein Verhältnis zum Wahnsinn äußerlich durch Ausschluß und Bestrafung und innerlich durch Einordnung in die Moral und durch Schuld definiert worden ist. Was hier noch mit dem Ziel geschrieben war, den Wahnsinn wieder in sein Eigenrecht einzusetzen, um ihn so von Entstellungen durch moralische oder wissenschaftliche Pathologisierungen zu befreien, radikalisierte Foucault bekanntlich schon bald zu einer grundsätzlichen Kritik der Rationalität.
Foucault analysierte die Ausschlußmechanismen an den sozialen Rändern der Gesellschaft als Konstituierungsbedingungen der modernen Humanwissenschaften und der damit verbundenen Rationalitäts typen. Diese These zum Operationsmodus wissenschaftlicher Diskurse läßt sich ohne weiteres von Foucaults Beobachtungen im neuropsychiatrischen EEG-Labor auf die Phase der Etablierung und Standardisierung der Elektroenzephalographie zurückbeziehen.
Denn die Regulierung des Wissens in der sich als Disziplin formierenden Elektroenzephalographie ging unweigerlich mit einer Perfektionierung von Ausschluß- und Überwachungstechniken durch die neuen hirnelektrischen Diagnosetechniken einher. Die Registrierung und Auswertung von Hirnströmen produzierte neue klassifizierende Praktiken in bezug auf die verschiedensten gesellschaftlichen Gruppen wie Kinder, Frauen, Wahnsinnige, Epileptiker, Genies oder Schwachsinnige. Der disziplinierende Effekt quantifizierender Verfahren in den Lebenswissenschaften ist mittlerweile zum Topos einer Biopolitik geronnen.