Boralevi Glück à la carte
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-641-16734-9
Verlag: carl's books
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 192 Seiten
ISBN: 978-3-641-16734-9
Verlag: carl's books
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Am Abend vor ihrem 47. Geburtstag reist Mirella nach Paris und betritt ein geheimnisvolles Restaurant. Dort erhält jeder Gast eine magische Speisekarte, die nur für ihn bestimmt ist: Anstelle von Gerichten sind dort die Schlüsselmomente des eigenen Lebens aufgelistet. Mirella durchlebt diese ganz besonderen, oft aber auch schmerzhaften Situationen erneut. Und am Ende - so lautet die Regel - darf sie an einer Stelle ihrem Leben eine neue Wendung geben. Doch welche der vielen nicht gelebten Möglichkeiten soll Mirella ergreifen? Oder soll sie einfach neugierig und gelassen abwarten, was die Zukunft für sie bereithält?
Ein charmanter, kluger Roman über verpasste Chancen und die Suche nach dem Lebensglück.
Antonella Boralevi ist Fernsehmoderatorin und hat schon zahlreiche höchst erfolgreiche Romane und Essays geschrieben. Ihr Roman 'Glück à la Carte' wurde sowohl von den Medien als auch beim Publikum mit großer Begeisterung aufgenommen.
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Die Speisekarte
»Ich würde gerne die Speisekarte sehen«, sagte ich.
Der Alte schaute mich an, ohne zu erkennen zu geben, ob er mich gehört hatte. Und doch hatte ich kurz das Gefühl, tief hinten in seinen Augen einen Funken Mitleid zu entdecken. Er trat einen Schritt auf mich zu und zwang mich, zur Tür zurückzuweichen. Dabei durchbohrte er mich mit seinem Blick und sagte schließlich, ohne sich umzudrehen: »Tut mir leid, aber wie Sie sehen, ist das Restaurant voll.«
Von dem Alten ging eine intensive, geradezu magnetische Kraft aus. Ich hatte den Eindruck, dass er mich allein durch seinen Blick in eine Statue verwandeln könnte. Statt mich abzuschrecken, verlieh mir dieser Gedanke aber eher Mut: den Mut, der sich unser bemächtigt, wenn alle Hoffnung verloren ist.
Ich schaute wieder über seine Schulter. Sämtliche Stühle waren leer.
Mit einem Seufzer breitete ich die Arme aus und reckte das Kinn vor.
»Aber das stimmt doch gar nicht«, flüsterte ich.
»Natürlich stimmt das.« Er schaute mich misstrauisch an. »Sie sehen doch selbst, dass kein Platz frei ist.«
Mit einer herrischen Geste schob er mich beiseite und griff nach dem Messingknauf. »Bitte gehen Sie.«
Er öffnete die Tür.
Eine eisige Böe fuhr herein. Die Rue Thérèse war ein finsteres Loch, schwarz glänzend im Regen.
Mich fröstelte.
Was dann geschah, ist mir schleierhaft. Keine Ahnung, was ihn zum Einlenken bewegt hat.
Der Alte hatte den Kopf zur Tür hinausgestreckt und schaute in alle Richtungen, als würde er jemanden erwarten. Dann zog er ihn wieder ein und fuhr sich mit seinen klobigen Fingern über den Schädel, um die Regentropfen abzuwischen. Mit einem energischen Ruck schloss er die Tür, immer noch den Kopf schüttelnd.
Dann warf er mir einen unergründlichen Blick zu.
»Haben Sie einen Schirm?«
Ich stand mit den Schultern am Fenster. Plötzlich merkte ich, dass ich zitterte. Ich wurde von unbekannten, unkontrollierbaren Empfindungen ergriffen, so als seien alle meine Sinne plötzlich überempfindlich. Doch gleichzeitig schien ich wie in dicke Watte gepackt zu sein, die jede Gefühlsregung dämpfte. Ich schüttelte den Kopf.
»Nein.«
»Die Menschen denken, dass man einen Schirm nur braucht, wenn es regnet«, sagte er nachdenklich. Dann erkundigte er sich mit plötzlich erwachtem Interesse: »Hat es heute Morgen geregnet, als Sie aufgebrochen sind?«
Er kannte mich also.
»Woher wissen Sie, dass ich heute Morgen aufgebrochen bin?«
Seinen Lippen entwich ein spöttisches Lachen.
»Wir wissen alles.«
Eine leise Angst befiel mich. Vielleicht war es doch ein Fehler gewesen, ins Restaurant in der Rue Thérèse zu kommen. Vielleicht war ich, wie immer, leichtsinnig, dumm und gedankenlos gewesen. Mit bestimmten Dingen spaßt man nicht. Wovon man nicht reden kann, das sollte besser ungesagt bleiben. Was man nicht ändern kann, sollte man vergessen.
Oder vielleicht doch nicht?
Vielleicht kann man ja gar nicht vergessen.
Vielleicht sind es ja die Erinnerungen, die sich an uns erinnern und wie Wesen in finsteren Abgründen in uns weiterleben. Und am Ende stirbt man wie Funes – Borges’ Junge mit dem unerbittlichen Gedächtnis – an der Hartnäckigkeit, mit der einen die Erinnerungen in Beschlag nehmen und verhindern, dass man sie auslöscht.
Sämtliche Leben, die wir nicht gelebt haben, weil sie nicht die unseren sind, klammern sich an uns, spinnen uns mit ihren unsichtbaren Fäden ein, ersticken uns mit dem Geifer des Neids, des Bedauerns, der Schuldgefühle und verfolgen uns mit dem ewigen Schmerz verpasster Gelegenheiten. Unweigerlich kommt dann die Nacht, in der du nicht schlafen kannst, weil all die Leben, die du nicht hattest, als wirbelnde Schatten auf dich einstürmen, bis dir in deinem Spinnennetz die Luft wegbleibt.
Das ist der Moment, in dem sich das Schicksal deiner annimmt. Das ist der Moment, in dem du von dem Restaurant in der Rue Thérèse erfährst.
»Ich könnte die Herrschaften fragen, ob sie so freundlich wären, sich ins Nebenzimmer zurückzuziehen«, sagte der Alte ungehalten und fixierte mich.
»Es gibt noch einen Raum?«, fragte ich unbedacht.
Das war ein Fehler.
Der Alte meinte, ich wolle mich über ihn lustig machen, und kehrte mir verärgert den Rücken zu.
Ich hob die Hand und tippte ihm auf die Schulter.
»Entschuldigung. Ich bin etwas durcheinander.«
Der Fußboden mit den schwarz-weißen Rauten schien zu wanken.
»Von der Reise«, sagte ich, als ich das Gleichgewicht wiederfand.
»Verstehe«, sagte der Alte nach einem kurzen Moment des Schweigens. Er wirkte besänftigt.
»Entschuldigung«, wiederholte ich. Sein Verhalten mir gegenüber schien sich allmählich zu ändern. Aber noch einen Fehler konnte ich mir nicht leisten. Das würde alles verderben.
Schnell senkte ich den Kopf und beschloss, aufrichtig zu sein.
»Es ist nicht leicht für mich, hier zu sein.«
»Das ist es für niemanden«, antwortete der Alte trocken. »Aber es zwingt Sie ja niemand.«
»Allons, allons, gehen Sie schon«, sagte er dann etwas lauter in Richtung der leeren Stühle.
Schließlich wandte er sich wieder an mich und bedeutete mir, ihm zu folgen.
»Den Mantel überlassen Sie besser mir, den brauchen Sie nicht.«
Er half mir wie ein Gentleman heraus.
An einem Tisch an einem dunklen Holzparavent zog er einen Stuhl zurück.
»Bitte sehr.«
Mit klopfendem Herzen schlüpfte ich hinter den Tisch.
Ich habe nie an Gespenster geglaubt, und doch habe ich schon einmal eins gesehen. Eine Marquise. Der Ehemann hatte ihr aus dem üblichen Grund die Kehle durchgeschnitten – er hatte sie mit ihrem Liebhaber in dem Bett erwischt, das eigentlich ihm gebührte. Trotzdem hatte man sie in einem monumentalen Grab in der Kapelle der Villa, wo der Mord stattgefunden hatte, zur letzten Ruhe gebettet – ob der reuige Ehemann oder ein Erbe, weiß ich nicht mehr. Die Marquise suchte mich in Gestalt eines flackernden Lichts auf einem Vorhang heim. Ich kann bestätigen, dass sich Gespenster in jeder Hinsicht so verhalten, wie es in den Büchern steht: Ihr Atem ist laut und keuchend und erinnert eher an ein Tier als an ein Wesen, das einst ein Mensch war. Sie sind weiß und kegelförmig und sehen aus wie eine Person, die sich ein Bettlaken über den Kopf gezogen hat, genau wie im Comic. Ich war für ein Wochenende in dieser Villa zu Gast, einem majestätischen Gebäude in den Hügeln von Turin, und schlief alleine. Der Hausherr hatte mir in einem abgelegenen Flügel zwei aneinander angrenzende Zimmer mit Blick auf den italienischen Garten gezeigt. Tief unten grub sich das Tal auf der Fährte eines geheimnisvollen esoterischen Kraftfelds in die Berge, aber das wusste ich damals nicht. Als ich die beiden leeren Kammern mit ihren Einzelbetten betrat, beschlich mich ein unangenehmes Gefühl. Tief im Innern wusste ich sofort, dass ich in keinem von ihnen schlafen wollte, insbesondere nicht allein. Aber als wohlerzogene Person (was nicht mit »gut erzogen« gleichzusetzen ist) sagte ich nichts, sondern lächelte nur und zeigte auf das geringfügig weniger düstere Zimmer.
»Ich nehme das hier.«
Den Abend verbrachten wir, die anderen Gäste und ich, in einem mit goldgelber französischer Seide tapezierten Salon. Irgendwann stiegen wir mit unserem Gute-Nacht-Tee die Treppe aus rosafarbenem Carrara-Marmor hinauf und gingen zu den uns zugewiesenen Zimmern. Ich betrat mein trauriges Kämmerlein und zog mich aus. Eine gewisse Unruhe hatte sich meiner bemächtigt. Im nächsten Moment vernahm ich ein merkwürdiges Geräusch. Ein Atmen, fast schon ein Röcheln.
Das Atmen hatte auf mich gewartet, auch wenn ich es nicht wusste.
Ich tat so, als hörte ich nichts, aber das Geräusch wurde lauter. Irgendwann zwang ich mich dazu, der Sache nachzugehen. Die Unruhe schlug mir mittlerweile auf den Magen, aber ich achtete nicht weiter darauf. Das wird ein Tier sein, dachte ich. Und dann, energischer: Bestimmt ist es ein Tier. Ich schaute unter dem Bett nach und hinter dem dunklen Eichenschrank und war überzeugt davon, eine Kröte oder eine riesige Eidechse zu entdecken. Oder einen Dinosaurier.
Nichts.
Pflichtbewusst wusch ich mich und las ein paar Seiten in einem staubigen Büchlein, das ich auf dem Schreibtisch gefunden hatte. Dann schaltete ich das Licht aus.
Das Atmen wurde lauter. Es bekam etwas Keuchendes.
Ich knipste das Licht wieder an.
Erneut machte ich mich auf die Suche. Irgendwann beschloss ich, das Badezimmerlicht anzuschalten und die Tür aufzulassen, um so vielleicht einschlafen zu können. Im nächsten Moment war ich hellwach, weil ich das Gefühl hatte, dass jemand im Zimmer war. Ich tastete nach dem Schalter meiner Nachttischlampe, fand ihn aber nicht. Ich setzte mich in meinem Bett auf.
Über die Gardine am Fenster huschte ein kegelförmiges Licht, pulsierend und quicklebendig.
Das konnten nur die aufgeblendeten Scheinwerfer eines Wagens sein, der durch die Nacht fuhr, dachte ich. Schließlich fand ich den Schalter, und das Zimmer wurde in schwaches Licht getaucht. Ich ging zum Fenster, schob die Gardine beiseite und sah, was ich längst wusste: Die Straße verlief viel zu tief und viel zu weit weg von der Villa, und die gewundene Zufahrt lag verlassen da.
Weit und breit kein Wagen zu sehen.
Das Atmen wurde immer lauter und keuchender.
Ich gab mir alle Mühe, ruhig zu sein,...