E-Book, Deutsch, 320 Seiten
Reihe: Ein Fall für Michel de Palma
Bonnot Im Sumpf der Camargue
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-293-30939-5
Verlag: Unionsverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Kriminalroman. Ein Fall für Michel de Palma
E-Book, Deutsch, 320 Seiten
Reihe: Ein Fall für Michel de Palma
ISBN: 978-3-293-30939-5
Verlag: Unionsverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Der Marseiller Polizeikommandant Michel de Palma müsste sich eigentlich von seinen Verletzungen erholen, die er sich im letzten Fall zugezogen hat. Ingrid Steinert, Ehefrau des milliardenschweren deutschen Industriellen William Steinert, braucht aber seine Hilfe: Ihr Mann ist seit einigen Tagen verschwunden. Obwohl am Anfang nicht besonders interessiert, weckt der Fall doch de Palmas Neugier, als die Leiche von Steinert in den schlammigen Sümpfen der Camargue gefunden wird. Die Polizei meint, die Lösung schnell zu kennen: ertrunken, ein Unfall. Dann überschlagen sich die Geschehnisse, als immer mehr Leichen auftauchen, alle auf bestialische Weise verstümmelt. Ist die Tarasque, das Ungeheuer aus den Sümpfen, mehr als ein Mythos?
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In der städtischen Oper von Marsiho, wie jeder Provenzale seine Stadt nannte, klingelte es zur Vorstellung, und das zarte Rrring, Rrring verbreitete sich über die Treppenaufgänge von den obersten Rängen bis in den marmornen Ehrensaal. Es verstummte just in dem Moment, als Michel de Palma in das Reyer-Foyer stürzte. Félix Merlino, der Methusalem der Garderoben, strich die letzten Strähnen lockiger Haare glatt, die seinen glänzenden Schädel schmückten. »Oh, Michel, wir warten nur noch auf dich!« Merlino verzog das Gesicht zu einem Grinsen, das sein mächtiges Kinn anhob und die weißen Lippen herunterfallen ließ. »Salut, Féli, hats schon angefangen?« »Allerdings! Es geht los! Die letzte Vorstellung für diese Spielzeit. Los, Herr Baron, Beeilung …« Der Baron. So lautete der Spitzname von Kommissar Michel de Palma. Die Idee stammte von Jean-Louis Maistre, dem mehr als Bruder von der Mordkommission, dem Unzertrennlichen vom Quai des Orfèvres, der an einem alkoholreichen Abend in Blödellaune angefangen hatte, ihn so zu nennen; er fand, das passe gut zu dem Adelsprädikat seines Namens, seiner hochaufgeschossenen Gestalt und seinen Umgangsformen eines traurigen Lehnsherrn. Der Baron stieß die gepolsterten Flügeltüren zum Rang auf, hielt kurz inne und ließ den Blick über das Publikum schweifen, wie er es immer tat, seit sein Vater ihn als kleiner Junge zum ersten Mal ins große Theater geführt hatte. Der in Samt gehüllte Zuschauerraum war brechend voll, von den ersten Reihen im Parkett bis zur Galerie. In der Luft lag der Geruch von säuerlichem Atem, Moschusparfum und Schminke. Vom Orchestergraben stieg eine unmögliche Kakofonie herauf: Triller, Tonleitern, Melodiebögen, die sich ineinander verfingen wie wahnsinnig gewordene Achtelnoten. De Palma entdeckte Anne Moracchini, Inspektorin bei der Mordkommission; sie nickte ihm unauffällig zu: Er hatte sich um mindestens eine Stunde verspätet. In über zehn Jahren, die sie nun gemeinsam bei der Kripo ackerten, hatte er sie zum ersten Mal in die Oper eingeladen, und zwar in allerletzter Minute: Es war die letzte Vorstellung von La Bohème in dieser Spielzeit. Schließlich setzte er sich in völliger Dunkelheit neben Anne Moracchini. Die ersten Minuten verstrichen. Anne schien vollständig in die Musik versunken, die das Theater erfüllte. Plötzlich verstummte der Alte auf der Galerie, der seit Jahren regelmäßig zu Beginn jeder Vorstellung hustete. Der Saal war wie elektrisiert, und es herrschte absolute Stille. Rodolphe trat an die Rampe. Che gelida manina Se la lasci riscaldar Cercar che giova? Al buio non si trova. Anstatt Mimi anzusehen, wandte Rodolphe kein Auge vom Dirigenten und streckte sich jedes Mal, wenn er sich über die Mittellage erhob und sein Zwerchfell malträtierte, auf die Zehenspitzen. Chi son? Sono un poeta. Che cosa faccio? Scrivo … Alles in allem stellte Rodolphe sich für die Ansprüche eines Spielzeitende-Publikums nicht allzu schlecht an. Doch de Palma war enttäuscht und nutzte den Applaus, um sich aus dem Zuschauerraum zu stehlen. Im Reyer-Foyer ging Félix Merlino auf und ab, langsam und vorsichtig, um das Parkett nicht knarzen zu lassen. De Palma schaltete sein Handy ein: Er hatte zwei Nachrichten, beide von heute, Samstag, dem 5. Juli. Die erste war um 19 Uhr 58 aufgezeichnet worden, unmittelbar bevor er die Oper betreten hatte, die zweite um 20 Uhr 37, sicherlich zu dem Zeitpunkt, als Rodolphe sich in seiner Bruchbude auf Montmartre gerade die Seele aus dem Leib sang. »Guten Tag, Monsieur de Palma. Hier ist Rechtsanwalt Chandeler. Die Person, die mir Ihre Handynummer gegeben hat, möchte lieber ungenannt bleiben, aber ich erlaube mir, Sie anzurufen. Wir kennen uns nicht, dennoch möchte ich Sie dringend treffen, um etwas mit Ihnen zu besprechen … Am liebsten so früh wie möglich, wenn Sie das nicht stört; zum Beispiel Montag, den 6. Bis bald, hoffe ich.« Es war eine Männerstimme, die leicht die Nasalkonsonanten sang und dunkel und sanft zugleich war. Die zweite Nachricht stammte erneut von Rechtsanwalt Chandeler. Er hinterließ eine weitere Handynummer und bat inständig, sie niemandem weiterzugeben. Félix Merlino näherte sich dem Baron und deutete mit dem Zeigefinger auf das Telefon. »Mach mir sofort dieses Drecksding aus. Wenn ich dein Unglücksgerät jemals klingeln höre …« »Keine Angst, Féli, bei deren Ziegengemecker heute Abend ist das kein großes Risiko.« »Du hättest zu der anderen Besetzung kommen sollen. Da hättest du was erlebt …« »Tja! Die heute klingen eher, wie wenn der Mistral bei meiner Ex-Schwiegermutter durch die Klappläden pfeift.« »Ha, natürlich! Heute Abend ist es eine Katastrophe.« »Aber sie applaudieren …« »Die applaudieren heutzutage bei allem. Es ist nicht mehr wie früher … Erinnerst du dich?« De Palma hob den Blick zur Decke des Foyers und machte eine wegwerfende Handbewegung wie zum Zeichen der Zustimmung zu Merlinos Verklärung. »Wenn es so schlecht war wie heute Abend, haben sie manchmal sogar die Polizei rufen müssen, um sie zu beruhigen!« Félix Merlino nickte und fegte ein Stückchen Spitze, das von einem Abendkleid abgerissen worden sein musste, mit dem Fuß beiseite. »Man hat dich ja lange nicht mehr gesehen, Michel. Letztes Mal habe ich mich mit Jean-Yves unterhalten, dem Pianisten, dem Repetitor, du kennst ihn, und er hat sich nach dir erkundigt …« »Weißt du, dass ich einen schweren Unfall hatte?« »Ich habs in der Zeitung gelesen. Aber jetzt scheint es ja zu gehen.« De Palma antwortete nicht, er ließ den Blick über das Quadratmuster des Parketts schweifen. Durch die gepolsterte Tür drang gedämpft Applaus aus dem Zuschauerraum; Félix näherte sich andächtig den lackierten Türen des ersten Rangs und öffnete sie mit den Gesten eines Kirchendieners, der das Portal einer Kathedrale aufstößt. Anne Moracchini klopfte Michel auf die Schulter. »Wirklich geglückt, dieser gemeinsame Opernabend, mein Lieber!« »Tut mir leid, Anne, ich hab einen Parkplatz gesucht …« Sie sah auf sein Handy und verzog die Mundwinkel. Inspektorin Moracchini von der Mordkommission trug einen gerade geschnittenen schwarzen Rock, der oberhalb der Knie endete, und ein purpurrotes Seidentop, auf das ihr schwarzes Haar fiel. Hauchdünne Strümpfe hüllten ihre Beine ein, wie luxuriöse Schleier zogen sie sich in einer sanften, harmonischen Kurve von ihren zierlichen Fesseln zu den Knien. Als de Palma ihre Wange streifte, erkannte er die pfefferigen Noten ihres Parfums, es war Gicky. »Du bist vor dem Ende rausgegangen! Hats dir nicht gefallen? Ich fand es gut«, sagte sie und legte ihm die Hand auf den Unterarm. Er wollte sie nicht gleich bei ihrem ersten Opernabend enttäuschen und sagen, was er von den Sängern hielt. »Es war nicht schlecht«, erwiderte er und blinzelte Merlino zu. Noch nie hatte er sie so schön und so elegant gesehen. Gewöhnlich trug Anne Turnschuhe oder Straßenschuhe mit flachen Absätzen, Jeans und eine Fliegerjacke über einem T-Shirt oder einem Pulli, je nach Jahreszeit, mal abgesehen von der Dienstwaffe, die sie weit oben in der Rückenwölbung trug, damit sie möglichst gut versteckt war. »Komm, trinken wir was«, sagte de Palma schließlich, um nicht völlig in Bewunderung zu versinken. Er bestellte zwei Glas Champagner, und sie gingen in das große Foyer zurück. »Es ist herrlich hier! Alles Art déco. Was ist das für ein Deckengemälde?« »Ein Werk von Augustin Carrera: Orpheus verzaubert die Welt …« »Manchmal frage ich mich, was du bei den Bullen machst«, bemerkte sie und zwinkerte ihm zu. »Ich mich auch. Aber ich habe gute Gründe.« »Das hoffe ich doch.« Anne Moracchini ließ den Blick über das gewaltige Deckengemälde von Carrera schweifen, dann betrachtete sie die Einzelheiten der schmiedeeisernen Brüstungen und der blattgoldverzierten Masken an den Rängen. Das Handy des Barons klingelte. »Änder mal den Klingelton, Michel, du machst dich ja lächerlich!« »Monsieur de Palma?« Er erkannte die Stimme sofort. »Ja. Einen Augenblick bitte.« Der Baron setzte sich etwas abseits auf eine dunkelrote Bank. »Yves Chandeler am Apparat. Ich bin Anwalt.« Michel schwieg kurz, um ihn einzuschüchtern. »Guten Tag.« »Haben … ähm… Sie haben meine Nachricht erhalten?« »Ja, absolut.« »Ich hoffe, ich störe Sie nicht?« Die Art, wie der Anrufer jeden auch nur halbwegs offenen Vokal dehnte, der ihm beim Reden unterkam, war de Palma unsympathisch. Sie klang nach einer in den besten Schulen von Marseille verbrachten Kindheit, in einer Gesellschaft, von der der Bulle nicht das Geringste wusste und die er tendenziell verachtete. Wieder schwieg er einen Augenblick. »Nicht im...