E-Book, Deutsch, 496 Seiten
Bonnevie Zwischen Himmel und Erde
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-649-64090-5
Verlag: Coppenrath
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 496 Seiten
ISBN: 978-3-649-64090-5
Verlag: Coppenrath
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
"Er ist absolut traumhaft", flüsterte Amanda. "Das ist er", sagte Ylva stolz und lächelte Amanda zum ersten Mal an. Dann wisperte sie Ægir etwas auf Isländisch ins Ohr und streifte ihm das Zaumzeug ab. Augenblicklich warf sich der Hengst herum, durchquerte den reißenden Fluss und galoppierte auf die offene Ebene hinaus. Amanda blickte ihm nach, bis er am Horizont verschwunden war, und ihr wurde klar: Sie musste Ægir haben!
Um jeden Preis will Amanda mit Ægir die Meisterschaft im Islandpferderennen gewinnen. Auf sie läuft eine Wette, von der das Schicksal ihrer Familie abhängt. Doch schnell stößt Amanda bei dem wilden Hengst an ihre Grenzen. Nach und nach verliert sie sein Vertrauen ... und sich selbst. Wird Amanda es schaffen, ihrer inneren Stimme zu folgen und einen Weg in Ægirs Herz zu finden?
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Zwei Jahre später
Sonntag
Noch 90 Tage Es ist später Nachmittag auf dem Reiterhof Vestre Engelsrud und die Sonne ist hinter den waldigen Bergketten der Oslomark verschwunden. Die Bäume unterhalb des Hofs sind tief verschneit, aber winzige Löcher in der Schneedecke verraten, dass es zu tauen begonnen hat. Ein Mann kommt aus dem Wohnhaus. Er atmet tief ein und bläst die Luft langsam wieder aus. Im schwachen Licht der Hoflampen umhüllt der Atemnebel ihn wie eine Wolke. Es ist ungewöhnlich kalt für April. Der Mann verschafft sich einen schnellen Überblick über das Treiben vor der Reithalle und zieht sich dabei die Arbeitshandschuhe an. Danach überquert er den Hofplatz und verschwindet im Stall. Die Reithalle auf Vestre Engelsrud ist an diesem Wochenende für eine große Meisterschaft im Springreiten vermietet. Überall sind Leute. Pferdetransporter parken in Reih und Glied. Verschwitzte Pferde mit Decken werden zum Abdampfen herumgeführt. Der Beifall in der Reithalle dringt bis auf den Hofplatz hinaus, ebenso wie die Lautsprecherstimme des Ansagers. Die Tribünen der Reithalle sind voll besetzt. Es knistert vor Spannung. Gerade sind Pferd und Reiter im Parcours. Ein Zeitstechen. Am Eingang zur Bahn sitzt ein blondes Mädchen auf einem Schimmel und wartet auf den Start. Es sieht aus wie jemand, der auf dem Pferderücken zu Hause ist. Niemand weiß, dass ihr gleich ein schlimmer Sturz passieren wird. Ein Sturz, der jeden Zuschauer erschüttert. Es handelt sich um Amanda Fivel, 17 Jahre. Und dies ist ihre Geschichte. Amanda saß ruhig im Sattel und versuchte, die Konzentration zu finden, die sie brauchte, um fehlerfrei und mit Tagesbestzeit durch den Parcours zu kommen. In drei Minuten ist alles vorbei. Sie schloss die Augen und blendete die Fahnen und Wimpel aus, die vom Hallendach hingen. Sie blendete die Tribünen aus, auf denen sicher viele darüber diskutierten, wie gut sie wirklich war. Sie saß ganz still auf ihrem Pferd und konzentrierte sich darauf, wie schnell sie reiten musste, um klar zu gewinnen. Sie zog die Zügel ein wenig an, und Monty antwortete sofort darauf, indem er zwei Schritte rückwärtsging. Åke Karlsson hatte seine Sache gut gemacht, als er sie auf diesen Moment vorbereitete. Amanda wiederholte im Stillen die letzten Anweisungen, die er ihr während des Aufwärmens gegeben hatte, und öffnete die Augen erst wieder, als Applaus in der Halle aufbrandete. Ihre größte Konkurrentin, Susanne auf Zulu Warrior, hatte einen fehlerfreien Ritt in einer extrem guten Zeit hingelegt. Amanda holte tief Luft. Wenn sie die beiden schlagen wollte, musste sie noch schneller reiten als geplant. »Jetzt bloß nicht kneifen«, sagte Åke Karlsson, der plötzlich neben ihr stand. »Du reitest, als ginge es um dein Leben, klar?« »Ich werde es versuchen«, sagte sie leise. »Nein, du wirst es schaffen«, sagte er. Sein schwedischer Akzent kam jetzt deutlich durch. Das bedeutete, dass er nervös war. Na, bravo. Monty schüttelte ungeduldig den Kopf, aber Amanda gab die Zügel nicht hin. Dies war ihre erste Meisterschaft und der Sieg lag in Reichweite. Aus den Augenwinkeln sah sie, dass Anja ihr die erhobenen Daumen zeigte. Vor Anja stiegen Karoline und Sara auf die Reitertribüne, beide mit einem Becher Kakao in der Hand. Mit unterdrücktem Kichern fegten sie den Schnee von ihren Jacken und ließen ihn auf den Hausarzt rieseln, der in der Reihe unter ihnen saß und fest schlief. Der Hausarzt hatte ein kleines Haus auf Østre Engelsrud gemietet, nur ein paar Steinwürfe von der Reithalle entfernt. Nun schwebte der feine Schnee sacht auf ihn herab und setzte sich in seinem weißen buschigen Schnurrbart und seinem schütteren Haar fest, aber er wachte nicht auf. Sara und Karoline lachten laut. Dann sahen sie zu Amanda und sagten etwas zueinander, aber Amanda war zu weit weg, um es hören zu können. Egal. Amanda blickte zur Tribüne hinauf, wo ihr Vater saß. Sie war jetzt so alt wie er damals, als er seinen ersten Titel holte, und er hatte wirklich viel getan, um ihr diese Chance zu ermöglichen. Sie wollte ihn nicht enttäuschen. Wilhelm Fivel beobachtete seine Tochter durch ein kleines Fernglas. Er suchte nach Anzeichen von Nervosität, fand aber keine. Das ist mein Mädchen! Er setzte das Fernglas ab und angelte sein klingelndes Handy aus der Tasche. »Ist sie geritten?«, fragte die Männerstimme am anderen Ende. »Sie steht am Start«, sagte Wilhelm Fivel. »Ruf mich an, wenn das Ergebnis feststeht«, antwortete der Mann und legte auf. Im selben Moment kündigte der Ansager Amanda Fivel auf Mount Kadett als letztes Paar des Tages an. Das Tor öffnete sich und Amanda und Monty galoppierten in die Bahn. Amanda ritt genauso, wie Åke Karlsson es ihr geraten hatte, und als sie merkte, dass Monty sich am Wassergraben verspannte, drückte sie ihm die Schenkel fest in die Seiten, genau nach Anweisung. Monty reagierte darauf, indem er das Tempo erhöhte – und ungefähr da passierte es. Amanda wollte Monty gerade auf einen kurzen Galopp verlangsamen, als der Schimmel ohne Vorwarnung unter ihr verschwand. Amanda fiel vom Pferd. Aber sie ließ die Zügel nicht los. Nicht einmal, als ihre Schulter auf den Boden knallte. Sie spürte den Luftdruck und hörte das Dröhnen, als Montys schwerer Körper direkt neben ihr auf die Erde schlug. Für einen kurzen Moment lag sie zwischen strampelnden Pferdebeinen. Dann rappelte Monty sich wieder auf und zog Amanda mit sich hoch. Mit einem Bein immer noch im Steigbügel. Amanda umklammerte die Zügel noch fester. Ihr Kopf und der halbe Oberkörper schleiften über den Boden, während sie sich verzweifelt bemühte, das Bein freizubekommen. Gleichzeitig versuchte sie, Montys Kopf zur Seite zu ziehen. Wenn sie ihn fest genug hielt, würde er vielleicht stehen bleiben. Aber Monty blieb nicht stehen. Er machte ein paar unsichere Schritte vorwärts und bekam Panik, als Amandas Körper mitgeschleift wurde. In gestrecktem Galopp raste er los. Bei jedem Galoppsprung dröhnten neben ihr die Hufe auf den Boden, und sie hielt sich instinktiv die Hände vors Gesicht, um sich zu schützen. Åke Karlsson versuchte mit zwei Helfern, Monty den Weg abzuschneiden, aber das gelang erst beim dritten Versuch. Da warf Monty sich so abrupt herum, dass die Steigbügelriemen vom Sattel abrissen. Amanda blieb bewegungslos im Sand liegen, während Monty weiterraste. Åke lief zu ihr. Irgendjemand musste inzwischen den Hausarzt wach gerüttelt haben, der sich jetzt über sie beugte. »Wie viele Finger siehst du?«, fragte der Doktor ruhig und hielt ihr die Hand vors Gesicht. Amanda meinte, es könnten vier sein, aber sie ließ es drauf ankommen und sagte zwei. Der Hausarzt drückte vorsichtig an ihr herum und redete dabei die ganze Zeit auf sie ein. Erst als er ihre linke Schulter betastete, zuckte sie zusammen. »Tut das weh?«, fragte er. »Nicht besonders«, log sie, aber ihre Stimme zitterte. Wilhelm Fivel verfolgte durch sein Fernglas, was in der Bahn vor sich ging, und sah, dass Amanda versuchte aufzustehen. Sie wusste, dass sie aufstehen musste. Das ist mein Mädchen! Der Hausarzt stützte sie, und als sie auf die Beine kam, blieb sie allein stehen. Monty war inzwischen eingefangen und wurde auf der anderen Seite der Bahn herumgeführt. »Ich will reiten«, flüsterte Amanda. »Ich muss dich erst noch ein paar Minuten beobachten«, erwiderte der Hausarzt. »Dann sehen wir weiter.« Der Veranstalter stand neben ihm, nickte kurz und gab dem Ansager dann ein Handsignal. Über die Lautsprecher wurden fünf Minuten Pause verkündet. Viele auf der Tribüne nutzten die Gelegenheit, sich die Beine zu vertreten. Amandas Vater blieb sitzen. Wilhelm Fivel hatte vor ziemlich genau vier Jahren und zehn Monaten aufgehört, sich die Beine zu vertreten. Er löste die Bremsen und ließ den Rollstuhl zurückrollen, stieß jedoch gegen die Treppe. Wenn er weiterwollte, brauchte er Hilfe. Er versuchte, so zu tun, als gefiele es ihm dort, wo er saß. Denn er war gut darin geworden, so zu tun als ob. Plötzlich bemerkte er einen Mann, der ihn ansah. Es dauerte einen Moment, bis er ihn erkannte. »Anker!«, rief er überrascht aus. »Lange nicht gesehen.« Sie gaben sich zögernd die Hand und Anker wirkte ein bisschen unsicher. Die Leute wussten oft nicht, ob sie etwas über den Rollstuhl sagen sollten. Wilhelm Fivel hoffte, dass Anker es ebenso hielt wie die meisten anderen und sich bemühen würde, so zu tun, als gäbe es keinen. Und genau das tat er. »Wirklich spannend«, sagte Anker und blickte zur gegenüberliegenden Seite der Bahn, wo Amanda immer noch...