Bonhomme | Eingesperrt und ausgegrenzt | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 352 Seiten

Bonhomme Eingesperrt und ausgegrenzt

Armut, Ausbeutung und Rassismus - eine andere Geschichte der Medizin | Wie Diskriminierung die Verbreitung von Infektionskrankheiten beeinflusst
25001. Auflage 2025
ISBN: 978-3-8437-3195-9
Verlag: Ullstein Taschenbuchvlg.
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Armut, Ausbeutung und Rassismus - eine andere Geschichte der Medizin | Wie Diskriminierung die Verbreitung von Infektionskrankheiten beeinflusst

E-Book, Deutsch, 352 Seiten

ISBN: 978-3-8437-3195-9
Verlag: Ullstein Taschenbuchvlg.
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Warum Krankheiten, Seuchen und Pandemien nicht alle gleich treffen - eine Reise durch die Weltgeschichte  AIDS, Cholera, die Spanische Grippe - die Folgen von Epidemien werden auch durch menschliches Handeln bestimmt. Nicht weiße Menschen sind schwerer von solchen Ereignissen betroffen und haben ein höheres Sterberisiko. Kolonialismus, Ausgrenzung und Rassismus potenzieren Krankheitsausbrüche und vergrößern das Leid. Diese fatalen Unterschiede zeigt Edna Bonhomme in ihrem Buch, in dem sie eine spannende Reise durch die Zeit der Krankheiten und Seuchen unternimmt: vom Ausbruch der Cholera auf einer Plantage in den 1830er-Jahren über die Verbreitung der Malaria im Zuge des Vietnam-Kriegs, die Rolle von Tuberkulose in New Yorker Gefängnissen bis zu den jüngsten Folgen der Covid-Pandemie. Ihre erschütternde Analyse zeigt: Krankheiten haben schon immer mit politischen Voraussetzungen interagiert - nicht immer zum Wohle der Menschen.

Edna Bonhomme ist Wissenschaftshistorikerin, Journalistin und schreibt über Kultur. Sie promovierte in Geschichte an der Princeton University und hat einen Bachelor-Abschluss in Biologie und einen Master-Abschluss in Public Health. Edna Bonhomme erhielt Preise und Stipendien vom Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte, der Robert Silvers Foundation und der Andy Warhol Foundation. Ihre Artikel sind in The Atlantic, Frieze, London Review of Books und The Nation erschienen. Sie ist Mitherausgeberin von After Sex, einer literarischen Anthologie über Abtreibung und reproduktive Gerechtigkeit. Seit 2017 lebt sie in Berlin.
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PROLOG


Jeder, der geboren wird, besitzt zwei Staatsbürgerschaften, eine im Reich der Gesunden und eine im Reich der Kranken. Und wenn wir alle es auch vorziehen, nur den guten Ruf zu benutzen, früher oder später ist doch jeder von uns gezwungen, wenigstens für eine Weile, sich als Bürger jenes anderen Ortes auszuweisen.Susan Sontag, 1Die Geschichte der Krankheiten ist nicht die Geschichte der Medizin – es ist die Geschichte der Welt –; und die Geschichte davon, einen Körper zu haben, könnte gut auch die Geschichte davon sein, was den meisten von uns im Interesse weniger zugemutet wird.Anne Boyer, 2

Nur selten ist es mir vergönnt, nachts durchzuschlafen. Ich fokussiere mich auf die Kupferwindungen der Lampe oder eine summende Fliege, die sich in mein Zimmer verirrt hat. Ich schwanke zwischen Erschöpfung und Sorge. Wie bei allen Menschen, die unter Schlafstörungen leiden, hat meine Angst eine Vorgeschichte – ich kenne diesen Zustand seit meiner Kindheit, und er brennt in meiner Erinnerung wie eine eitrige Wunde.

Im Sommer 1988 brachten mich meine Eltern – beide Anfang zwanzig – nach fast einer Woche mit hohem Fieber und andauerndem Durchfall verzweifelt ins Jackson Memorial Hospital, das öffentliche Krankenhaus, in dem meine Mutter später als Reinigungskraft arbeitete. Die Untersuchungen ergaben, dass ich Typhus hatte. Ich war vier Jahre alt und verbrachte einen Monat in dem Krankenhaus, allein, ängstlich und klein zusammengerollt in einem riesigen Bett. Die abgestandene Luft stieg mir in die Nase, während das EKG-Gerät die ganze Nacht hindurch ratterte. Ich hörte das Sirren der Leuchtstoffröhren, während das harte Bett gegen meinen Rücken drückte. Ich konnte nicht schlucken, ohne dass mir übel wurde, und deshalb kaum etwas essen.

Meinen Eltern und Tanten zufolge wäre ich fast gestorben. Die älteren Generationen meiner Familie übertreiben gern und sorgen mit ihren dramatischen Geschichten immer für gute Unterhaltung bei Familientreffen, aber in diesem Fall behielten sie recht mit ihrer Besorgnis über mein Mattsein und meine gerötete Haut. Ich war ernsthaft krank. Mein Kopf schmerzte, mein Hals brannte, und mein Husten hallte durch das Krankenhauszimmer. Wenn meine Verwandten mich besuchten, schlich ich durch die Stationsflure und schleppte meine kurzen Beine zum Spielzimmer. Es war so schlimm, dass ich den Teller mit Mangos, den mir das Pflegepersonal brachte, kaum anrührte. Stattdessen löste mein Lieblingsobst wie auch jedes andere Nahrungsmittel Ekel in mir aus, und ich versank in der Erschöpfung. Was als Fieber begonnen hatte, wurde zu einem Fluch, den mein kleiner Körper, mein Geist und meine Seele nicht mehr ertragen konnten.

Mein Krankenhausaufenthalt zog sich in die Länge und diente in erster Linie dazu, mich wieder gesund zu machen. Er sollte aber auch sicherstellen, dass ich niemanden ansteckte. Ich verlor Gewicht. Während die Tage in Nächte übergingen, hörte ich die gedämpften Geräusche des erschütterten Pflegepersonals, das die Verantwortung für meinen sich verschlechternden Zustand, mein hohes Fieber und letztendlich meine Genesung trug. Die meiste Zeit sollte ich in meinem Bett und in meinem Zimmer bleiben. Ich konnte mich also nicht frei bewegen oder mit meinen Freund:innen spielen, die ich vor meinem inneren Auge auf dem Spielplatz sehen konnte. Ich fühlte mich eingesperrt, als wäre ich nicht mehr in meinem eigenen Körper.

Dieser Monat im Krankenhaus entwickelte in späteren Jahren ein Eigenleben. In den frühen Morgenstunden, wenn ich im Bett liege, kehrt die Erinnerung an das Eingesperrtsein zurück. Ich erinnere mich an die Tränen, die über meine runden Wangen liefen, wenn meine Eltern wieder gingen, und an das Gefühl, in der Falle zu sitzen. Bettlägerige Personen mit einer lebensbedrohlichen (oder chronischen) Krankheit entwickeln manchmal eine Besessenheit mit dem Tod. Ich war zu klein, um die Bedeutung meiner Erkrankung zu verstehen, hatte aber eine Vorahnung vom Tod, von etwas Dunklem, das über mir hing. Unruhig sehnte ich mich danach, auf die Kokospalme in unserem Garten zu klettern oder mit meinen Cousins und Cousinen Marienkäfer zu suchen. Der Gedanke, ich würde nicht mehr aufwachen, wenn ich das nächste Mal meine Augen schloss, befeuerte meine Angst. Mehr noch als an die Umarmungen meiner Eltern, die mir auf Kreolisch versprachen, dass alles gut werden würde, oder die kühle Kugel des Thermometers einer Pflegeperson erinnere ich mich an mein Krankenbett.

Die Einzelheiten meines Krankenhausaufenthalts sind weniger wichtig als die Auswirkungen, die er hatte – drei Jahrzehnte später fühle ich mich unwiderruflich fehl am Platz, wenn ich ein Krankenhaus betrete. Ich nahm die gedämpften Stimmen, die Pastelltöne der Wände und die schlichten Krankenhauskittel in mich auf. Ich konnte die Stimmen der Ärzt:innen hören, aber ich konnte nicht verstehen, was sie sagten. Die Silben schwirrten durch die Luft und blieben bedeutungslose Geräusche. Ich war ein kleines Kind und noch kaum in der Lage, meine Gedanken auf Kreolisch oder auf Englisch zu äußern. Ich fühlte mich wie ein Spielball zwischen den Schläuchen und hellen Lichtern und war besessen von meinen Fluchtplänen. Mein Horizont ging nicht hinaus über das Krankenzimmer, meine Mutter und das unangenehme Gefühl, dass meine Festsetzung eine Strafe dafür war, dass ich – so erinnerte ich mich – kurz vorher ein Kind auf dem Spielplatz von der Rutsche geschubst hatte. Ich konnte nur zählen, wie häufig meine Eltern mich besuchten, oder wie viele Mahlzeiten mir das Pflegepersonal brachte. Ich hatte über nichts Kontrolle – was ich aß, wo ich hinging, wann ich mich bewegte. Sogar wenn ich versuchte mir vorzustellen, wie ich mit anderen Kindern am Strand oder zwischen dem Zuckerrohr in unserem Garten spielte, dämpfte die bedrückende Atmosphäre des Krankenhauses meine Stimmung. Wenn andere das Zimmer betraten, hatte ich das Gefühl, dass sie mich begutachteten und das Bett, die Geräte und meinen Körper unter die Lupe nahmen. Sogar bei meiner Familie ging es mir so.

Viele Jahre später sind Betten für mich immer noch Orte des Unbehagens, selbst wenn ich neben einer Freund:in oder einer Liebhaber:in liege. Wird dieser Mensch mitten in der Nacht verschwinden, wenn ich schlafe, oder wird seine Anwesenheit mich trösten? Noch Monate nach meiner Typhusinfektion musste ich drinnen bleiben und konnte mir nicht den schwülen, trägen Wind von Miami ins Gesicht wehen lassen oder den luxuriösen Segelbooten mit ihren sonnenverbrannten Passagieren auf der Biscayne Bay dabei zusehen, wie sie über das ruhige Wasser glitten. Ich empfand das als zutiefst ungerecht, lernte zu dieser Zeit aber, mich in meine Gedanken zu versenken. Auch heute fühle ich mich in Krankenhäusern noch unwohl, nicht wegen der unbequemen Stühle, der geschmacklosen Wandfarben oder der nichtssagenden Gemälde, sondern wegen meiner Furcht. Medizinische Einrichtungen erinnern mich an meinen tiefsten Neid – auf Menschen, die eine ganze Nacht unbeschadet und ohne Unterbrechung schlafen können.

Im späten 19. Jahrhundert war Typhus eine der am weitesten verbreiteten Krankheiten in den USA. Als Mary Mallon, im Volksmund als »Typhus-Mary« bekannt, als asymptomatische Überträgerin der Krankheit identifiziert wurde, glaubten die Ärzte, dass sie die Familien in New York, für die sie kochte, durch eine Verunreinigung des Trinkwassers mit dem Bakterium infiziert hatte. Es war dieselbe Angst vor einer Ansteckung durch Lebensmittel oder Wasser, die meine Ärzt:innen im Jackson Memorial Hospital zu dem Schluss kommen ließ, dass ich von meiner Familie isoliert werden müsste. Die Behandlung war nicht nur eine Frage von Medikamenten, sondern hatte auch eine Entfremdung von meinen Eltern, meinen Freund:innen und meiner Community zur Folge.

Zu dieser Zeit und an diesem Ort war es ungewöhnlich, dass ich mich mit infiziert hatte – dem Bakterium, das das typhoide Fieber hervorruft. Kurz nach der Jahrhundertwende war Typhus die vierthäufigste Todesursache in den USA gewesen: Von 1000 Menschen starb einer an dieser Krankheit.3 Zwischen 1985 und 1994 gab es in den Vereinigten Staaten 2445 Typhus-Fälle. 80 Prozent davon traten in nur sechs Staaten auf, darunter Florida.4 In den meisten Fällen waren die Betroffenen zuvor ins Ausland gereist, aber meine weiteste Reise hatte mich zu diesem Zeitpunkt nur ins Umland von Miami geführt. Die Ursache meiner Infektion war unklar, aber ich hatte Zugang zu Antibiotika, und das war das Wichtigste. Ohne Behandlung hätte mein Sterberisiko bei bis zu 20 Prozent liegen können. Derzeit ist Typhus in Asien, Afrika, Lateinamerika und der Karibik endemisch.

»Die meiste Unlust, die wir verspüren, ist ja Wahrnehmungsunlust, entweder Wahrnehmung des Drängens unbefriedigter Triebe oder äußere Wahrnehmung, sei es, daß diese an sich peinlich ist, oder daß sie unlustvolle Erwartungen im seelischen Apparat erregt, von ihm als ›Gefahr‹ erkannt wird.«5 Was Freud hier als Unlust beschreibt, ist Angst. Eingesperrt zu sein beschwört für mich das Gefühl von Gefahr herauf. Mittlerweile habe ich gelernt, dieses Gefühl...



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