Bon | Das Mädchen auf dem Eisfeld | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 256 Seiten

Bon Das Mädchen auf dem Eisfeld


1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-446-26309-3
Verlag: Hanser Berlin in Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 256 Seiten

ISBN: 978-3-446-26309-3
Verlag: Hanser Berlin in Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Als sie neun ist, spricht ein Mann sie im Hauseingang an und missbraucht sie. Sie schafft es, ihren Eltern davon zu erzählen, sie gehen zur Polizei. Sie lächelt weiterhin, was ist schon passiert, sie wächst in einer privilegierten Familie auf – doch nichts kann die Leere füllen, den Selbsthass betäuben, den sie in sich spürt und mit enormer Energie zu verbergen versucht. Erst als erwachsene Frau bringt sie den Begriff Vergewaltigung mit dem Erlebnis in Verbindung, das sie so perfekt von sich abgekapselt hat und das doch ihr Leben so radikal bestimmt. Und erst jetzt kann der Prozess der Heilung wirklich einsetzen. Hochreflektiert und mit starken Bildern macht Adélaïde Bon die Unermesslichkeit einer solchen Verletzung erfahrbar.

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Eines Abends im Winter, sie ist im fünften Monat und auf einen Sprung bei sich zu Hause. Da klingelt das Festnetztelefon und sie, die den Vertretern von Sicherheitstüren und Doppelfenstern sonst nie antwortet, nimmt ausnahmsweise den Hörer ab.

Hallo, könnte ich bitte mit Adélaïde Bon sprechen?

Am Apparat.

Sie sind am 1. März 1981 in Paris geboren?

Ja. Warum?

Guten Abend, Madame Bon. Hier Polizeihauptmeister Vidocq.

Nein, das ist kein Witz, hier ist die Abteilung für Jugendschutz der Pariser Polizei.

Entschuldigung, ich hatte Sie nicht richtig verstanden, ich dachte, mein Mann erlaubt sich einen Scherz …

Das macht nichts. Stimmt es, dass Sie 1990 Anzeige wegen sexueller Aggression erstattet haben?

Äh … Ja.

Dann möchte ich Ihnen mitteilen, dass in dieser Angelegenheit ein Tatverdächtiger festgenommen wurde. Ich melde mich bald wieder, wir möchten Sie auffordern, erneut Klage zu erheben.

Vielleicht hat er noch was anderes gesagt, aber mehr konnte sie nicht behalten. Sie zittert, presst die Stirn, die Wangen, die Hände an die Fensterscheibe, sie brennt, ihr ist nach Lachen zumute, nach Weinen, sie könnte Luftsprünge machen und ist kurz davor zusammenzubrechen. So viele Jahre ist es her, und auch die Polizei hat die Sache nicht vergessen, so viele Jahre, und die Polizei hat sie nicht im Stich gelassen?

Sie ruft ihre Eltern an, ihren Bruder, beide Schwestern, ihren Mann. Sie habe gerade das schönste Weihnachtsgeschenk ihres Lebens bekommen, sagt sie und weint vor Freude. Ihre ältere Schwester, du bist ja sensibel, Mensch, das ist doch schon ewig her.

Über zwanzig Jahre wurde nicht darüber geredet. Im Lauf dieser Zeit hat sie zweimal das neue Wort ausgesprochen, Vergewaltigung, einmal bei einer Autofahrt mit ihren Eltern, das zweite Mal im Restaurant, mit ihren Schwestern. Da hatte ihre jüngere Schwester erzählt, als Jugendliche habe ihre große Sommerliebe gegen ihren Willen Sex mit ihr gehabt. Damals habe sie nichts gesagt, weil sie mit sechzehn nicht wusste, wie sie das benennen sollte. Wer hätte ihr zugehört, ihr geglaubt? Auch sie brauchte Jahre, um den desaströsen Akt als Vergewaltigung zu bezeichnen.

Ihre Schwester, ihre geliebte Schwester. Sie hatten sich nicht einmal in die Arme genommen; jahrelange Scham und Einsamkeit lassen sich nicht mit wenigen gemeinsamen Worten auslöschen. Und dann hatte ihre Schwester noch hinzugefügt, ein Sexologe habe ihr vor kurzem gesagt, das sei gar nicht die Ursache ihrer Probleme. Sie habe sich aufgeregt, kurz angebunden erwidert, er hätte keine Ahnung, und dann eben weiter geschwiegen.

Zwei Monate nach dem Anruf hat sie einen Termin bei der Abteilung für Jugendschutz, um erneut Klage zu erheben. In einem Café wartet sie auf ihre Freundin, mit der sie sich auf das Gespräch vorbereiten wollte, aber die hat ihre Verabredung verbaselt und schafft es nur noch, sie hinzufahren. Der Polizeihauptmeister hatte um ein Bild von ihr mit neun Jahren gebeten, also hat sie zwei große Porträts vom Schulfotografen mitgenommen. Um sich abzulenken, um keine Angst zu bekommen, holt sie die Fotos raus und legt sie nebeneinander auf den Tisch. Auf dem ersten, vier Monate danach, sieht sie ein keckes kleines Mädchen mit fröhlichen Augen, Sommersprossen auf der Nase. Auf dem zweiten, sechzehn Monate später, ein ganz anderes Mädchen, der Blick ist erloschen, die Wangen hängen, das Lächeln ist gezwungen. Weg sind die Grübchen, sie hat zugenommen und sieht furchtbar lieb aus.

Sie betrachtet das kecke kleine Mädchen, erkennt es nicht. Sie streicht mit den Fingerspitzen übers Foto, folgt den Konturen des Gesichts, wagt es nicht, Augen und Mund zu berühren. Sie zittert. Dieses Kind, das ihr da entgegenblickt, ist ihr völlig fremd.

Im Büro des Hauptmeisters klammert sie sich an ihren schwangeren Bauch, an das neue Leben in ihr, den wohlwollenden Blick des Polizisten, an die Details des Schreibtischs, die Armlehnen, die Wände, sie hat Angst wegzudriften. Der Hauptmeister, Sie haben in Ihrem Wohnhaus eine sexuelle Aggression erlebt, woran können Sie sich noch erinnern? Ihr bleibt die Luft weg.

Es war Sonntag, in der Schule fand ein Fest statt, damals ging ich in die vierte Klasse. Es war ein wunderschöner sonniger Tag im Mai, ich trug eine ärmellose weiße Bluse mit Rundkragen und ein hübsches rot-weiß gepunktetes Trägerkleid, das meine Mutter mir genäht hatte, meine Beine waren nackt, ich hatte Spitzensöckchen an und weiße Sandalen.

Am Vormittag, nach der Messe, hatte ich beim Büchsenwerfen einen Goldfisch gewonnen. Stolz hatte ich ihn mit ausgestreckten Armen in einem Wasserbeutel nach Hause getragen. Mein Bruder, meine beiden Schwestern, meine Eltern, alle waren bei mir, wir trennten uns nur selten. Unter der Woche war immer ein Au-pair-Mädchen bei uns, wenn wir aus dem Haus gingen.

Am Nachmittag bettelte ich darum, zurück in die Schule zu dürfen, weil ich Goldfischfutter kaufen wollte. Bitte, bitte, ausnahmsweise (da sehen Sie mal, das ist wirklich verrückt, genau dieses eine Mal), bitte, Mama, bitte, Papa, ich bin neun, ich kann allein hingehen, ich bin doch schon neun.

Ich durfte allein los und habe mir vom Restgeld heimlich drei Karamellbonbons gekauft. Dafür habe ich mich ein bisschen geschämt und gehofft, dass das Jesuskind mir deswegen keinen Ärger machen würde.

Auf dem Rückweg ist mir ein Mann gefolgt, er fragte mich, wie viel Uhr es ist, ich zeigte ihm meine nackten Arme, ich hatte keine Uhr. Mit melodischer Stimme bat er mich, ein bisschen bei ihm zu bleiben, meine Mama hat mir verboten, mit Unbekannten zu reden, antwortete ich, da standen wir schon vor meinem Haus, er ging mit mir rein, damit ihm nicht so heiß wird. Er sagte, dass er einem Mädchen, das genauso groß ist wie ich und im selben Haus wohnt, ein Fahrrad bringen soll. Er war nett, ich habe ihm geglaubt. Ich bildete mir ein, das Jesuskind hätte ihn zu mir geschickt, wegen meiner Schummelei mit den Karamellbonbons. Er ist mit mir in den Aufzug rein und hat auf den Knopf gedrückt. Oben angekommen, packte er mich beim Handgelenk und zwang mich, mit ihm auszusteigen. Es hat wehgetan. Zeig mir, wo das Mädchen wohnt, sei so nett, ich hatte Angst, traute mich nicht, abzulehnen, und bin eine Stufe nach der anderen vor ihm hergegangen, aber in Zeitlupe. Zwischen zwei Stockwerken ist er stehen geblieben. Ihr seid gleich groß, nicht? Ja. Dann wäre es doch einfacher, wenn ich die Sattelhöhe an dir abmesse, statt sie an einem Sonntag zu stören, stimmt’s? Ja. Du musst dein Kleid hochheben, damit ich messen kann. Ja. Oder vielleicht habe ich auch kein Wort mehr rausgebracht.

Sie versucht weiterzureden, aber da sind nur noch unzusammenhängende Fragmente, sie weiß nicht mehr, wer das Kleid hochgehoben hat, er oder sie, sie sagt, er hat seine Hand in meine Unterhose gesteckt, doch dann fällt ihr ein, dass sie gar keine mehr anhatte. Wann hat er die runtergezogen?

Sie sagt, ich erinnere mich, dass er einen Krokogürtel mit goldener Schnalle hatte, dass er ihn aufgemacht hat, als er seinen Penis rausgeholt hat, aber an seinen Penis erinnert sie sich nicht.

Sie sagt, er hat mich gezwungen, sein Geschlecht in die Hand zu nehmen, dann musste ich meine Hand bewegen. Der Hauptmeister, ihn streicheln? Nein, überhaupt nicht, so was kann man nicht streicheln nennen. Aber weil es kein adäquates Wort gibt, das die enorme Scheußlichkeit des Hin-und-Hers einer kleinen Kinderhand über den erigierten Penis eines Erwachsenen ausdrückt, muss man dieses benutzen.

Sie sagt, er hat seine Finger in mich gesteckt, ich erinnere mich daran, wie sein Finger sich in mir bewegt hat. Sie wagt nicht, das Wort Vergewaltigung auszusprechen, wartet darauf, dass er, der Polizist, es verwendet. Doch der protokolliert nur sorgfältig ihre Aussage, ohne ein Wort.

Sie sagt, ich war eine Stufe über ihm, er stand mir gegenüber.

Sie sagt, dann gab es unten im Haus ein Geräusch, jemand ist reingekommen oder die Concierge ist aus ihrer Loge raus. Er hat aufgehört. Heute weiß ich, dass da kein Geräusch war. Dass er nicht aufgehört hat. Diese Geschichte hatte sie sich vor langer Zeit zurechtgelegt, um sich vor dem zu schützen, was er ihr dann angetan hat, danach.

Sie sagt, Er hat meine Hand genommen und an seiner Hose abgewischt.

Der Polizeihauptmeister vergleicht ihre heutige Aussage mit der von damals. Sie hatte gesagt, er hat sich hinter mich gestellt, jetzt sagt sie das Gegenteil. Ich weiß nicht, wahrscheinlich hat er sich irgendwann anders hingestellt. Wann? Sie weiß es nicht mehr. Sie hatte gesagt, er hat meine Mumu angefasst, vorne und hinten. Hinten? Sie kann sich nicht erinnern. Er hat mir gesagt, dass ich einen dicken Po habe. Er hat sein Glied zwischen meine Beine geschoben. Ich hatte große Angst. Das Geschlecht dieses Mannes zwischen ihren Beinen? Sie kann sich nicht erinnern.

Der Polizeihauptmeister bittet sie, den Mann zu beschreiben, sie sieht sein kurzärmliges hellblaues Hemd genau vor sich, den auffälligen Krokogürtel, die leicht altmodische graue Stoffhose, aber an sein Geschlecht, seine Hände, seine Augen kann sie sich nicht erinnern, nicht an seinen Blick, der auf ihr lag, seinen Gesichtsausdruck. Stellenweise ist das...


Bach, Bettina
Bettina Bach, 1965 in Heilbronn geboren, wuchs in Deutschland und Frankreich auf. Nach einer Ausbildung an der Pariser Verlagsfachschule studierte sie Germanistik in Berlin und Kulturwissenschaften in Amsterdam. Seit 2000 übersetzt sie Belletristik und Kinder- und Jugendbücher aus dem Niederländischen und Französischen. 2014 wurde sie dafür mit dem Else-Otten-Preis ausgezeichnet. Für Hanser hat sie u. a. Philippe Pozzo di Borgo, Tommy Wieringa, Jowi Schmitz, Toon Tellegen und Bart Moeyaert übersetzt. Bettina Bach lebt mit ihrer Familie in Jena.



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