E-Book, Deutsch, 320 Seiten
Boltz Sieben beste Tage
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-492-96928-4
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 320 Seiten
ISBN: 978-3-492-96928-4
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Tim Boltz, geboren 1974, absolvierte ein Sprachstudium, nahm Schauspielunterricht und arbeitete anschließend als Redakteur. Er hat mehrere erfolgreiche Comedyromane veröffentlicht und tourt mit einem Bühnenprogramm durch Deutschland, Österreich und die Schweiz. Er lebt und arbeitet in Frankfurt am Main.
Autoren/Hrsg.
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KAPITEL 2
Trautes Heim, scheiß allein!
Zu Hause angekommen, kicke ich die Schuhe genervt in die Ecke. Heute ist einer der Tage, an denen ich lieber allein wohnen würde. Doch ich lebe hier zusammen mit meinem Bruder Tobias und meinem kiffenden Kumpel Ferdinand Krüger, den jedoch alle wegen des Films Nightmare on Elmstreet nur Freddie nennen. Im vierten Stock eines Mehrfamilienhauses mit schlecht isolierten Fenstern und einem klapprigen Aufzug. Da mein Bruder im Rollstuhl sitzt, war der für ihn allerdings ein überzeugendes Argument für den Einzug.
Die Wohnung selbst ist nicht direkt hässlich, doch geht es bei uns sauberkeitstechnisch oftmals zu wie im Tourbus der Doors. Nur mit weniger Heroin auf dem Frühstückstisch. Dass unsere Behausung etwas gewöhnungsbedürftig daherkommt, liegt aber nicht nur an uns, sondern auch an der Tatsache, dass einige Räume nur als Schlafplatz nutzbar sind, da sie sich mit einer lichten Deckenhöhe von gerade einmal einem Meter fünfzig kaum höher darstellen als ein handelsüblicher Hamsterkäfig. Dafür bezahlen wir nur einen Mindestmietzins, und wenn ich schlafe, tue ich dies meist liegend, sodass mich die Raumhöhe nicht wirklich stört. Dennoch könnte das erklären, warum der Architekt in den Sechzigerjahren angeblich zu einer Haftstrafe verurteilt worden war.
Es gibt allerdings ein paar andere Details, die mich dann doch etwas stören. Zum Beispiel wurde die Wohnung in den frühen Siebzigerjahren mit strukturierten Landhausdielen in Bucheoptik ausgelegt. Das klingt nicht schlimm, ist es eigentlich auch nicht. Doch die Trittschalldämmung ist darunter in den letzten zwanzig Jahren auf die Stärke eines Löschblatts zusammengepresst worden und fördert die nachbarschaftlichen Beziehungen nun auf sehr unkonventionelle Weise. So weiß ich, dass das junge Pärchen unter uns gerne lautstark Lieder ihrer Lieblingsstars mitsingt. Sie bevorzugt Kylie Minogues »I Should Be So Lucky«, wohingegen er ein Verfechter der Neuen Deutschen Welle ist. Besonders bei Joachim Witts »Goldenem Reiter« ringt er seinen Stimmbändern regelmäßig das Äußerste ab. Außerdem ist der weibliche Teil des Paares besonders empfänglich für Cunnilingus und Rollenspiele, in denen Sie dominant sein darf und Er in die Rolle eines Austauschstudenten aus Paris schlüpfen muss, der ständig »Oh là là, isch bin verruckt nach disch« ruft.
Ansonsten ist unser Haus ein Haus wie so viele in Deutschland. Laut Hausordnung ist zwischen elf Uhr vormittags und siebzehn Uhr nachmittags Klavierspielen für zwei Stunden erlaubt, Fußballspielen auf dem gepflasterten Innenhof hingegen nicht. Ich zähle keines von beidem zu meinen Hobbys. Eigentlich habe ich gar keine Hobbys. Früher habe ich viel gearbeitet. Ich war Zerspanungsmechaniker und zerspante Metall für die verarbeitende Fahrzeugindustrie. Mein Chef meinte vor vier Jahren, ich solle mich spezialisieren und mich zum Feinmechaniker weiterbilden lassen, da meine Monofachkenntnisse keine Zukunft hätten. Ich antwortete lediglich, dass ich es mir überlegen würde, und zerspante weiter an fünf Tagen in der Woche Motorenteile und Turbinen. Er behielt recht, und ich bin seit zwei Jahren arbeitslos. Wobei das so gar nicht stimmt. Ich habe ja einen Job, der meine körperlichen und künstlerischen Fähigkeiten sogar perfekt kombiniert: Ich bin Kunstschwitzer!
Doch nach dem Fiasko bei Monchhichi Marscha und ihrer verschminkten Mutter Ronaldine McDonald liege ich nun erst mal mit einem Sechserpack Bier in meinem Lieblings-T-Shirt und Sporthose vor dem Fernseher im Wohnzimmer und warte darauf, dass es endlich losgeht. Heute ist nämlich ein verdammt wichtiger Tag. Es ist nicht mehr lange bis zum Anpfiff des Eröffnungsspiels der Fußballeuropameisterschaft, und Deutschland trifft dabei in Düsseldorf auf Italien. Doch bis die Vorberichte beginnen, muss ich mich wohl noch von der geballten Seichtheit des deutschen Fernsehprogramms berieseln lassen. Nur bedingt interessiert verfolge ich eine Dokumentation über eine Auswandererfamilie im Dritten Programm. Dabei filmt das Kamerateam des Hessischen Rundfunks die sechsundzwanzigjährige vollschlanke Petra Heysel und ihren zweiten Ehemann Maik Heysel, einen zweiundfünfzigjährigen Estrichleger aus der Pfalz, bei ihrem Neuanfang in Griechenland. Sechs ihrer neun Kinder begleiten sie bei diesem Auswanderungsabenteuer. Der Rest der Horde bleibt bei Petras Exmann Hans-Peter in Landau. Dass Petra, die menschliche Legebatterie, trotz umfangreicher Ich-schenke-gerne-Leben-Beteuerungen nicht glücklich aussieht, weckt den WWF-Sympathisanten in mir. Nach all den Geburten und angesichts der fortdauernden Aufzucht ihrer Brut wirkt Petra psychisch leicht ausgezehrt. Die Erfolgsprognose der Auswanderung betrachte ich entsprechend kritisch. Zehn Minuten später ist der Versuch, zumindest die erste Sturmreihe der Heysel-Kinder in Athen einzuschulen, gescheitert. Petra beschwert sich darüber, dass diese ignoranten Griechen kein einziges Wort Deutsch verstehen und man in diesem Land darüber hinaus sowieso nichts lesen könne.
Kleiner Tipp unter Freunden, Petra: Vermutlich hätte ein ALDI-Reiseführer für neunundneunzig Pfennig schon genügt, um zu erfahren, dass man in Griechenland ein etwas anderes Alphabet benutzt und Deutsch nicht in jedem Land auf diesem Planeten Amtssprache ist.
Ich trinke einen großen Schluck Bier und empfinde zu meinem eigenen Erstaunen langsam eine perverse Schadenfreude an der Sendung. Auch der wortkarge und auf mich leicht autistisch wirkende Maik Heysel scheint nicht gerade die hellste Kerze auf der Torte zu sein, und so nimmt das Schicksal des Pfälzer Himmelfahrtskommandos seinen Lauf. Lord Dümmlich gibt dem Kamerateam bereitwillig Auskunft über sein bemitleidenswertes Seelenleben. In seinem neuen Job als Aufzugmonteur findet er laut eigener Aussage nämlich nun doch nicht so wirklich seine Bestimmung. Tja, Maik, könnte es vielleicht daran liegen, dass du kein einziges Wort der Kollegen verstehst und zudem überrascht feststellen musstest, dass man recht wenig Estrich in griechischen Aufzügen verbaut?
Ich muss zugeben, dass mich das Scheitern der Heysels irgendwie entspannt. Es gibt mir das Gefühl, dass mein Leben trotz der heutigen Pleite eigentlich ziemlich super verläuft und ich ein absoluter Gewinnertyp bin. Weder muss ich Aufzüge in Griechenland reparieren noch mit Petra und ihrer Horde eine Einschulung in Athen planen.
Ich führe eigentlich ein Traumleben.
Vielleicht sollte man sogar mal eine komplette Sendereihe über gescheiterte Auswanderer machen.
Ha, ja, das wär's doch!
Nur: Wer außer mir schaut sich so einen Hirnfurz noch an? So bescheuert ist unsere Gesellschaft anscheinend doch noch nicht.
Das Geräusch eines Schlüssels in der Wohnungstür reißt mich aus meiner Gedankenwelt. Ein Blick auf die Uhr verrät mir, dass es mein älterer Zwillingsbruder Tobi sein muss. Tobi ist zwei Minuten älter als ich und erhielt als Siegermedaille für den Erstgeborenen eine Wirbelsäulenschädigung inklusive Lähmung der Beine gratis dazu. Er bekam einen Rollstuhl, ich den kleineren Penis. Jeder soll für sich entscheiden, wer besser weggekommen ist.
Die Tür knallt lautstark ins Schloss, und ein verschwitzter Tobi rollt genau zwischen mich und den Fernseher. Mit verschränkten Armen und einer mit Fell bespannten Trommel um den Hals schaut er mich vorwurfsvoll an.
»Wo warst du?«
Verständnislos mustere ich ihn und schüttele den Kopf. »Wie, wo war ich? Wo soll ich denn gewesen sein?«
»Du wolltest mich abholen! Wir hatten ausgemacht, dass du mich um halb fünf vor der Caritas-Werkstatt abholst.«
Im ersten Moment will ich anhand einer schlüssigen Argumentationskette darlegen, dass das ja überhaupt nicht sein kann, bis mir einfällt, dass es sehr wohl sein kann. Sogar ganz sicher so ist, doch im Mohrenkopfhagel von Marschas Mutter von mir ganz einfach vergessen wurde.
»Scheiße, Tobi, tut mir leid. Das habe ich echt ähhh … verschwitzt.«
»Selber scheiße, Berti. Ich musste bei der Hitze im voll besetzten Behindertenbus zurück fahren. Du weißt, dass ich das nicht mag.«
»Ja, ich weiß.«
Seit ein Zivildienstleistender vor einigen Jahren den Motor des orangefarbenen VW-Busses ausreizen wollte und dabei die Karre in einer abschüssigen Kurve aufs Dach legte, ist Tobis Lust auf Fahrten mit Caritas-Bussen signifikant gesunken. Zumal im Bus immer Wichs-Kläuschen vor ihm sitzt, und dieser macht seinem Spitznamen auch stets alle Ehre. Klaus hat nämlich nicht nur das Downsyndrom und eine übermäßige Libido, sondern darüber hinaus auch ein erstaunlich lockeres Handgelenk.
»Ich sagte ja, tut mir leid. Ich hatte so einen beschissenen Auftritt heute, und da habe ich es glatt vergessen. Komm, setz dich, nimm dir ein Bier und einen Schokokuss und beruhig dich. Die Vorberichte zum Eröffnungsspiel gehen gleich los. Du hast da übrigens 'ne Trommel um den Hals.«
»Weiß ich selber. Die hat mir Wichs-Kläuschen geschenkt, weil er mich so mag. Sie haben in seiner Gruppe heute afrikanische Trommeln gebaut.« Tobi rollt aus dem Bild und legt die Trommel zur Seite. »Ich mag Trommeln. Da kann man so schön draufhauen. Schade, dass du keine Trommel bist, Berti.«
»Mensch, jetzt beruhig dich«, stöhne ich auf. »Wie oft soll ich mich denn noch entschuldigen?«
Tobi schnaubt noch ein paarmal böse, dann rollt er neben mich und öffnet sich ein Bier.
»Nur weil du keinen richtigen Beruf hast, musste ich fast 'ne halbe Stunde neben Wichs-Kläuschen im Bus sitzen. Und er war heute so richtig gut drauf, wenn du verstehst, was ich meine.« Mein Bruder ahmt die...




