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E-Book

E-Book, Deutsch, 256 Seiten

Boltz Fernverkehr

Roman
1. Auflage 2017
ISBN: 978-3-641-19605-9
Verlag: Goldmann
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 256 Seiten

ISBN: 978-3-641-19605-9
Verlag: Goldmann
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Der letzte Tag vor den Sommerferien: Sibel Akman ist kurz davor durchzudrehen. Ihre Lehrerkollegen und Schüler tanzen ihr auf der Nase herum, ihre türkische Familie hält sie für eine Versagerin, weil sie immer noch nicht verheiratet ist, und ihr Freund betrügt sie. Grund genug, endlich allen zu zeigen, was in ihr steckt – am meisten sich selbst. Als sich ihr Bruder ein Bein bricht, sieht sie das als Zeichen und übernimmt spontan seine Kurierfahrt von Berlin nach Istanbul – allerdings ohne zu ahnen, wie sehr dieser Trip ihr Leben verändern wird. Und das nicht nur, weil sie ihre pikante Lieferung sicher ans Ziel bringen muss: eine Europalette voller Sexspielzeug ...

Tim Boltz, Jahrgang 1974, schaffte mit seiner Comedyroman-Trilogie »Weichei«, »Nasenduscher« und »Linksträger« um den »ulkigen und urkomischen« (BILD) Antihelden Robert Süßemilch auf Anhieb den Sprung in die Topriege der deutschen Comedy-Autoren. Seine Romane sind Angriffe auf die Lachmuskeln.
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Kapitel 1

Es ist Juli. Kein außergewöhnlich guter Juli. Nicht einmal ein durchschnittlicher. Doch der Juli passt zu mir. Die Erwartungen an ihn sind stets hoch, man mag ihn, doch eigentlich wartet nur jeder darauf, dass der noch heißere August endlich kommt, um dem Juli die Show zu stehlen. Mein Leben ist genau wie der Rhythmus dieser Monate. Ja, ich bin Juli. Niemand hat was gegen mich, aber irgendwie wartet man doch stets nur auf was Besseres. Ich bin der Juli. Und manchmal sogar nur der April.

Heute ist der letzte Tag vor den langen Schulferien. Wie schön, denn ich gehe bereits seit Februar auf dem pädagogischen Zahnfleisch. Immerhin, es sind nur noch wenige Augenblicke bis zu den langersehnten Sommerferien. Es existiert ein Licht am Ende meines Tunnels, und ich bete, dass es kein Zug ist, der auf mich zurollt. Wenigstens ein paar Wochen Erholung, bevor es dann wieder hierher zurückgeht – in die Kupfermine von Steglitz. Um zu buckeln und meine Seele zu verkaufen. Aber heute ist mir das noch egal. Ich bin ganz ruhig. Selbst die Tatsache, dass mir in der großen Pause Orhan hinter einer Säule aufgelauert hat, um dann mit einem gezielten Tritt auf sein Kakao-Trinktütchen das Ganze zum Platzen zu bringen, sodass mein heller Leinenrock nun aussieht, als ob ich einen aggressiven Magen-Darm-Virus hätte, bringt mich nicht aus meinem Yin-und-Yang-Takt. Ich bin ganz ruhig. Ich bin schließlich der Juli.

Seit Beginn der letzten Schulstunde habe ich meinen Kopf nur sehr selten gehoben, denn ich will gar nicht sehen, mit welchem Schwachsinn die Bande heute meinen Unterricht boykottiert. Eigentlich weiß ich es auch so, ohne aufzuschauen, da es ein immer wiederkehrendes Phänomen in einer Endlosschleife ist. In der ersten Reihe spielen Igor und Lennox Schiffe versenken und denken, dass ich es nicht bemerken würde. Doch der kleine Russe und sein halbamerikanischer Tischnachbar versenken ihre Schiffe so dermaßen auffällig, dass es mich wundert, wie ihre Urgroßväter jemals den Zweiten Weltkrieg gegen die Deutschen gewinnen konnten. Dahinter daddelt Emily auf ihrem Handy herum, das sie von ihrem schnöseligen Vater geschenkt bekommen hat, damit Prinzesschen auf den hundertfünfzig Metern zwischen Bushaltestelle und Haustür nicht im Großstadtdschungel verloren geht. Karla bohrt mit einer erstaunlichen Ausdauer in ihrer Nase, während ganz hinten in der letzten Reihe Mo und Orhan versuchen, sich gegenseitig in die Hoden zu schlagen. Nur Swenna, die einzige Streberin in der Klasse und Tochter des Abteilungsleiters beim Dänischen Bettenlager in Neukölln, sitzt allein an ihrem Tisch neben den Heizkörpern und schreibt fleißig in ihr einwandfrei geführtes Schulheft. Der Rest tut ebenfalls so, als ob er tatsächlich meiner gestellten Arbeitsaufgabe nachgehen würde: einen Aufsatz über ihre Wünsche für die Ferien niederzuschreiben.

Sie tun es nicht.

Ich weiß es.

Allerdings sollte ich mich nicht allzu weit aus dem Fenster lehnen. Viel besser bin ich ehrlich gesagt auch nicht. Ich tue so, als ob ich Arbeiten korrigieren würde, tatsächlich schreibe ich aber die Einkaufsliste für meinen Neffen Cem, der morgen seinen achten Geburtstag feiert.

Ein Blick auf die Uhr bedeutet mir, dass es auf die Zielgerade geht. Endlich! Ich richte mich auf, rücke mir die Brille auf der Nase zurecht und schweiße mir das realistischste Grinsen ins Gesicht, welches ich in diesem Schuljahr noch hervorbringen kann. Dann hebe ich den Kopf und klatsche wichtigtuerisch in die Hände.

»Also gut, Kinder. Die Zeit ist um. Wer will beginnen?«

Von rechts zuckt eine einzige Hand neben den Heizkörpern empor. Swenna! War ja klar. Ihr Schleimen ist mir fast noch unangenehmer als die Ignoranz ihrer Mitschüler. Ach, was soll’s, denke ich mir. Soll sie sich halt wieder um Kopf und Kragen reden und sich ein für alle Mal aus der Klassengemeinschaft heraus ins Abseits schießen.

»Möchtest du beginnen, Swenna?«

Das blonde Mädchen nickt aufgeregt, sodass links und rechts an ihrem Schädel die beiden wie festgetackerten Zöpfe wie zwei Lianen zu schwingen anfangen. Sofort beugt sie sich über ihr Heft.

»In meinen Ferien möchte ich meiner Mutter bei der Hausarbeit helfen. Ich habe ihr auch ein Gedicht geschrieben mit dem Titel ›Die beste Mutter der Welt‹ …«

Die anderen stöhnen genervt auf oder kichern. Man kann es ihnen nicht verdenken. Manche Schüler schreien geradezu danach, gemobbt zu werden, und Swenna ist das goldene Ross, welches für alle gut sichtbar der Mobbingarmee entgegenreitet. Ständig verfasst sie Gedichte, die Lobeshymnen gleichkommen. Lobeshymnen über ihren Vater, die Mutter, die Großeltern oder ihren Roborowski-Zwerghamster Dschingis Khan. Alle wurden von ihr schon zu Tode gelobt.

»… außerdem werde ich meinem Vater ein Bild malen und zu seinem Geburtstag einen Kuchen backen. Schmand-Mandarine, den mag er am liebsten, dazu noch ein Gedicht mit dem Titel: ›Der beste Papa der Welt‹ …«

Ob ich ihren Vater im Dänischen Bettenlager anrufen und vorwarnen sollte? Nein, ich lasse ihn in das Schmand-Mandarinen-Massaker hineinlaufen. Das ist schließlich Familiensache.

»… am meisten freue ich mich aber darauf, dass wir unsere Oma besuchen werden. Sie lebt in Hamburg, und ich habe ihr ein Gedicht mit dem Titel ›Die beste Oma der Welt‹ geschrieben und das geht so …«

Ich glaube, ich muss kotzen!

Schnelles Handeln ist nun gefragt.

»Okay, danke Swenna. Das hat doch viel Schönes …«

Die Lianenzöpfe stoppen in ihrem Schwingen, und von der Heizkörperseite des Klassenzimmers schaut mich ihr kreisrundes Kindergesicht überrascht an.

»Aber ich habe doch noch gar nicht angefangen. Ich wollte noch das Gedicht vorlesen. Ich habe übrigens auch eins für Sie geschrieben, Frau Akman. Es heißt ›Die beste Lehrerin der Welt‹ und es handelt …«

»Tatsächlich? Das ist … äh … sehr nett von dir«, unterbreche ich sie erneut, um sie vor den drohenden Schmähungen ihrer Mitschüler zu bewahren. Ich nehme die Brille kurz ab und schaue ihr ebenso ernsthaft wie bemüht in die Augen. »Das hören wir uns dann nach den Ferien an, okay? Dann haben wir was, auf das wir uns freuen können. Wirklich sehr schön und herzlich, Swenna. Deine Familie wird sich sicher sehr auf die Ferien mit dir freuen.« Schnell setze ich die Brille wieder auf und schaue über die einunddreißig gesenkten Köpfe der restlichen Klasse. »Noch jemand? Orhan vielleicht?«

»Aua«, kommt es aus der hintersten Bank zurück. Mos letzter Genitalschlag scheint ein Volltreffer gewesen zu sein. »Was, Frau Akman?«

»Möchtest du uns nicht deine Wünsche für die Ferien vorlesen?«

»Nä, eigentlich nicht. Ist nicht so spannend wie bei Swenna.«

»Ach, das überlass doch uns, ob wir das genauso spannend finden. Also, bitte …«

»Bitte was?« Orhan schaut mich fragend an, das Gesicht noch immer schmerzverzerrt.

Ich deute zu seinem Arbeitsheft. »Na, fang an. Oder hast du nichts geschrieben?«

»Doch, doch …«

Natürlich weiß ich, dass er nichts zu Papier gebracht hat. Aber ich bin neugierig, wie er sich aus der Situation befreien wird. Man muss ihm ein gewisses Talent zubilligen, dass er sich sehr spontan aus unangenehmen Situationen befreien kann. Das wird ihm bei seiner weiteren Karriere als Kleinkrimineller sicher noch hilfreich sein.

»Na dann. Und nimm dazu bitte die Hände auf den Tisch. Das Gleiche gilt auch für dich, Mo.«

Orhan zögert und wehrt mit einer schnellen Bewegung seines Unterarms noch einen letzten Schlag Mos ab. Dann fängt Orhan an und versucht freiheraus, einen Satz zu bilden. Immerhin. Er versucht, kreativ zu sein. Das ist doch mal was.

»Ich fahre … ähhh, in den Ferien wie jedes Jahr … ähhh … zu meiner Familie nach Istanbul. Dort leben noch meine Großeltern … ähhh … ach ja, und meine Cousins und Cousinen …«

Istanbul, wiederhole ich in Gedanken, während meine Miene in eine Art Stand-by-Modus verfällt. Ja, diese Reisen kenne ich nur allzu gut. Ich erinnere mich an unsere unzähligen Fahrten im Ford Taunus meines Vaters, während Orhan weiter vor sich hin stottert. Einmal quer durch Europa. Vorn meine Mutter Emel, hinten mein Bruder Metin und ich zwischen unzähligen Tüten und Koffern, in denen Geschenke für meine Cousinen und Tanten verstaut waren. Wir Kinder haben uns während der Fahrt immer mit Süßigkeiten vollgestopft, sodass wir spätestens nach hundertfünfzig Kilometern das erste Mal rechts ran fahren mussten, um uns zu übergeben. Mein Vater hat darauf stets geschimpft und beteuert, dass er uns ja gewarnt habe. Ich höre seine bariton-bebende Stimme ganz genau.

Habe ich es euch gesagt? Ich habe es euch immern gesagt.

Das ist sowieso die Stammfloskel meines Vaters, der immer alles vorher gesagt haben will. Und zwar immer mit einem »N« zu viel im Satz und seinem unüberhörbaren türkischen Akzent. Irgendwie vermisse ich diese Zeit und Istanbul. Und meine Eltern. Obwohl ich in Berlin geboren und aufgewachsen bin, besteht eine innige Verbindung zu dieser Stadt am Bosporus. Nur leider ist die Verbindung zu der Stadt mittlerweile weitaus inniger als die zu meinen Eltern. Sie sind vor vier Jahren wieder zurück in die Türkei gegangen, nach Istanbul. Wir haben nur sehr wenig Kontakt, was weniger der Entfernung geschuldet ist als vielmehr der Tatsache, dass ich fast ebenso lange einen deutschen Freund habe. Das allein war für meinen Vater schon ein rotes Tuch. Und als ich ihm offenbarte, dass Florian erst einmal keine Kinder wolle, fühlte er sich...


Boltz, Tim
Tim Boltz, Jahrgang 1974, schaffte mit seiner Comedyroman-Trilogie »Weichei«, »Nasenduscher« und »Linksträger« um den »ulkigen und urkomischen« (BILD) Antihelden Robert Süßemilch auf Anhieb den Sprung in die Topriege der deutschen Comedy-Autoren. Seine Romane sind Angriffe auf die Lachmuskeln.



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