Boltanski Das Versteck
1. Auflage 2017
ISBN: 978-3-446-25762-7
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 320 Seiten
ISBN: 978-3-446-25762-7
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Im Hof des Hauses in der Rue de Grenelle steht der Fiat 500, den Großmutter gern schwungvoll fährt, weil man dann nichts von ihrer Gehbehinderung merkt. Im Erdgeschoss führte Großvater seine Arztpraxis, seit er seine Stelle in einem Pariser Krankenhaus verlor. Der getaufte Jude erkannte die Gefahr im Frankreich unter der Herrschaft des Nationalsozialismus erst spät. Seine Frau griff zur List: Sie ließ sich offiziell scheiden und versteckte ihren Mann in einem Gelass zwischen Bad und Schlafzimmer. Als der Krieg zu Ende ist, kommt ihr dritter Sohn zur Welt. – Originell und voller Zuneigung erzählt Christophe Boltanski die Geschichte seiner Familie anhand der Geschichte dieses einzigartigen Hauses.
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1 Ich habe sie das Haus nie zu Fuß verlassen sehen, nicht allein und nicht einmal gemeinsam. Etwas so Einfaches tun wie einen Bürgersteig entlangschlendern. Sie wagten sich nur motorisiert aus dem Haus. Sitzend, dicht an dicht, im Schutze einer Karosserie, hinter einer Panzerung, wenn auch einer leichten. Innerhalb von Paris fuhren sie in einem weißen Fiat 500 Lusso. Ein einfaches, wendiges, beruhigendes Auto, ihnen mit seiner Rundlichkeit angemessen, mit seiner Zwergengröße, dem Tachometer, dessen Skala bis 120 km/h reichte, dem Zweizylinder-Heckmotor, der ein Rasseln hervorbrachte, das Tuckern eines alten, knatternden Motorboots. Sie parkten es im gepflasterten Hof, dem Tor gegenüber, abfahrbereit, neben dem Hauptflügel, fast an die Wand gepresst, wie die Rettungskapsel einer Rakete. Die Beifahrertür unveränderlich zum Kücheneingang ausgerichtet. Um es zu erreichen, brauchten sie nur eine kleine Steintreppe zu nehmen. Damit das Hinabsteigen leichterfiel, hatte man auf halber Höhe aus einem Teil einer Stufe eine weitere herausgehauen. Unten angelangt, mussten sie nur noch ins Wageninnere eintauchen, indem sie sich an den Türgriff klammerten. Sie ließen niemanden zurück. Wir brachen immer alle zusammen auf. Sie am Steuer. Er neben ihr. Jean-Élie, Anne und ich auf die Rückbank gequetscht. Sie trug eine sehr große Brille mit hellbraunem Gestell und ovalen, leicht getönten Gläsern. Bevor sie den Zündschlüssel betätigte, beugte sie sich vor zu dem kleinen Spiegel auf der Rückseite der Sonnenblende, richtete mit dem Handballen ihr Haar, bauschte es zur Tolle, streckte die Wangen vor, deutete ein spitzlippiges Lächeln an, um Make-up und Lippenstift zu überprüfen, und startete dann unter einem Kochtopfgeschepper, das von den Hauswänden widerhallte. Am Steuer ihrer Knatterkiste, die bei jeder Kolbenbewegung von heftigem Zittern erfasst wurde, verwandelte sie sich in einen Cyborg. Sie war eins mit ihrer Maschine. Da ihre kaputten Beine die Pedale nicht drücken konnten, waren mit Hilfe irgendeines Automechanikers lange Bedienungshebel, eine Art Besenstiele wie in alten Flugkisten, hinzugefügt worden, damit sie bremsen, beschleunigen, also steuern konnte, was sie mit beachtlicher Geschwindigkeit tat, vor allem, wenn sie einem Fußgänger begegnete, der gerade über die Straße lief. Mit wütender Freude raste sie am liebsten auf hinkende, aber eigenständige Alte los, um sie für deren geringe Bewegungsfreiheit zu bestrafen und ihren Mitfahrern einen Schrecken einzujagen. Sie hat nie jemanden überfahren. Ich weiß nicht, ob sie einen Führerschein besaß und falls ja, durch welche List sie ihn bekommen hatte. Sie liebte das. Diese Fahrten waren ihr Rollstuhl, ihre wiedergefundenen Beine, ihr Sieg über ihre erzwungene Unbeweglichkeit. 2 Wann hatten die beiden aufgehört, durch die Straßen zu gehen? Bei ihr weiß ich es. Anfang der dreißiger Jahre. Seit ihrer Polio-Erkrankung, die sie sich kurz nach der Geburt von Jean-Élie während ihres Medizinstudiums zugezogen hatte, und ihrer unerschütterlichen Weigerung, Krücken zu benutzen und in der Öffentlichkeit als schwache Person zu erscheinen, eines Teils ihrer selbst beraubt. Wenn in einem Restaurant ein Kellner auf sie zueilte, um ihr die Tür aufzuhalten, schnauzte sie ihn an, sie brauche niemanden. Sie hasste vorgetäuschtes Mitleid, hochmütige Liebenswürdigkeit, die Gesunde oder vermeintlich Gesunde jenen gegenüber bekunden, die es nicht sind. Und er? Zu welchem Zeitpunkt hat er beschlossen, nicht mehr zu Fuß zur Arbeit zu gehen? Nicht mehr die Kais entlangzuflanieren und in den Büchern der Bouquinisten zu blättern? Keine Einkäufe mehr zu erledigen? Ohne einen Sou in der Tasche zu leben? Die öffentlichen Verkehrsmittel zu boykottieren? Sich nicht mehr allein auf eine Caféterrasse zu setzen? Das Haus nicht ohne Begleitung zu verlassen? War es seine Entscheidung oder die seiner Frau? Litt er unter akuter Agoraphobie? Wollte er mit dem Vermeiden jener natürlichen Fortbewegungsart des Menschen sein Mitgefühl mit oder eher seine Liebe zu einer Frau bekunden, die gegen die Gesetze der Mechanik zu Felde zog? Sie diente ihm als Chauffeur. Sie setzte ihn vor offiziellen Gebäuden mit repräsentativen Steinfassaden ab, sah ihm zu, wie er hinter monumentalen, von der Trikolore überragten Türen verschwand, und wartete dann auf seine Rückkehr. Sie beförderte ihn überallhin. Wie einen Schwerverletzten. Ins Krankenhaus, als er noch praktizierte, zu Kommissionssitzungen, wo er an Diskussionen über Invalidität und Untauglichkeit teilnahm, zu Fachtagungen zum Thema Behinderung. Sie brachte ihn mitten in der Nacht, mit ihren schlafenden Kindern, ans Bett von Sterbenden oder, was öfter vorkam, zu Hypochondern. Ohne diese Eskorte hätte er sich sicherlich verirrt. Der gewissenhafte Arzt, der von seinen Patienten vergöttert wurde, mit Diplomen, Ehrungen, Auszeichnungen behängt, war wie ein nacktes Kind inmitten von angezogenen Leuten. Mal vergnügt, mal gequält, mal leidend, bewegte er sich im Leben ohne Rückzugsposition, ohne Zufluchtsort, wie ein Schalentier, das seines Panzers beraubt und der Gnade des erstbesten Raubtiers ausgesetzt ist. Er war unfähig, zu lügen oder seine Gefühle zu verbergen, und fähig, bei der geringsten Ergriffenheit in Schluchzen auszubrechen. Ein Text, eine Musik, eine Bemerkung, eine Erinnerung genügten, ihn zum Weinen zu bringen oder ihn bis über beide Ohren erröten zu lassen. Breiter Kopf, kräftiger Hals, hohe Stirn, flacher Schädel, kurzgeschnittenes schütteres Haar. Äußerlich hatte er eine leichte Ähnlichkeit mit Erich von Stroheim, ohne dessen preußische Steifheit. In der Öffentlichkeit mimte er nicht den – im Falle des amerikanischen Schauspielers und Regisseurs österreichisch-ungarischer Herkunft vollständig erfundenen – Stil des betressten Junkers mit sadistischer Neigung, sondern den in seinem Falle ebenso sehr aus der Luft gegriffenen des taktvollen, diskreten und zurückhaltenden englischen Gentleman. Zu diesem Zweck trug er einen schmalen, wie bei David Niven zweigeteilten Schnurrbart, unter der Jacke immer eine beigefarbene Wollweste, rauchte eine Bruyere-Pfeife mit geradem Rohr von gängiger Qualität, hergestellt zumeist in Saint-Claude, und bekundete Geschmack für Whisky, obwohl er sonst praktisch keinen Alkohol trank. Mit seinen langgezogenen mandelförmigen Augen, die von markanten Wimpern betont wurden, blickte er beständig erstaunt auf die Welt, als bliebe sie ihm ein Geheimnis. Wir mussten ihn schützen, mussten vereint bleiben, einen Sperrgürtel um seine Person bilden. Was immer kommen mochte, wir waren seine Leibwächter. Seine Airbags, bereit, beim ersten Zusammenprall aufzugehen. 3 Der Fiat der zweiten Generation, der sogenannte Nuova 500, mythisches Objekt der italienischen Filme der fünfziger Jahre, erinnerte an ein Goldfischglas, ein Mini-U-Boot, ein UFO, und ich, sein Passagier, an einen Marsmenschen, der auf einen unbekannten Planeten geschleudert worden war. In seinem Herkunftsland nannte man ihn la bambina. Die weniger schmeichlerischen Franzosen hatten ihm den Spitznamen ›Joghurtbecher‹ gegeben. Sein Boden glitt dicht über den Asphalt. Sein Blech war so dünn wie ein Blatt Papier. Das Gefühl des Eingeschlossenseins wurde durch das Fehlen hinterer Türen und noch stärker durch das von Fenstern, die man hätte öffnen können, verstärkt. Ich konnte Stunden damit zubringen, im Rücken den Motor, von dem ich jeden Pulsschlag spürte, in alle Richtungen durchgeschüttelt, die Beine angezogen, die Knie gegen den Vordersitz geklemmt und das Gesicht an das kleine Fenster gepresst, wie aus der Froschperspektive ein Paris vorbeiziehen zu sehen, das damals fast einförmig schwarz war, eine vom Dunst verschwommene, monotone Landschaft. Benommen vom unregelmäßigen Dröhnen der Maschine, fuhr ich große, rußbedeckte Verkehrsadern entlang, die Rue Bonaparte, den Boulevard Morland, die Avenue de Ségur, die Rue de Sèvres, die Rue Vaneau, die Avenue du Maine, in einem Zustand der Schwerelosigkeit, als bewegte ich mich in einer dunklen und wässrigen Welt (sagt man nicht vom Verkehr, er fließe?), wie in der Tiefe von Tusche, in Tiefseegräben, die von durchsichtigen Fischen bevölkert waren. In fötaler Haltung zusammengekauert saß ich im Inneren dieser eiförmigen Kiste, den Blicken der anderen ausgesetzt und kurioserweise unsichtbar, in einem Uterus auf Rädern, den meine Großmutter mitten durch das Treiben der Stadt steuerte. Sie wohnten in einem jener herrschaftlichen Stadthäuser, die im Allgemeinen den Namen eines Vicomtes oder Marquis tragen, im mittleren Teil der Rue de Grenelle. Sie hatten nichts mit Adel und allem, was damit in Beziehung steht, zu tun, gehörten deswegen aber durchaus nicht zum Faubourg Saint-Germain, das seit Balzac weniger ein Viertel denn eine soziale Gruppe bezeichnet, bestimmte Verhaltensweisen, ein Gehabe, eine Art zu reden. Bis ich ungefähr mit dreizehn beschloss, dauerhaft bei ihnen zu leben, haben sie mich an allen schulfreien Tagen gehütet, also fast die Hälfte der Woche. Am Dienstagnachmittag (oder war es damals noch am Mittwoch?) holten sie mich bei Schulschluss im 14. Arrondissement in der Rue Hippolyte-Maindron ab, brachten mich am nächsten Abend zu meiner Mutter in die Impasse du Moulin-Vert zurück, und nahmen mich für das Wochenende von Samstagmittag bis Sonntag erneut. Alle waren sie da und erwarteten mich im Fiat gegenüber der Schule, dann, später, in respektvollem Abstand zum Collège Lavoisier. Je weiter ich in meiner Schullaufbahn kam, desto weiter entfernt parkten sie Jahr für Jahr, in der Rue Pierre-Nicole, dann der Rue des Feuillantines, ja sogar in der Nähe des Hôpital du...