Bollongino / Götze / Hastedt | Umkämpftes Gemeinwohl | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 317 Seiten

Bollongino / Götze / Hastedt Umkämpftes Gemeinwohl

Deutungsmachtkonflikte um das gemeinsame Wohl
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-593-45526-6
Verlag: Campus Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Deutungsmachtkonflikte um das gemeinsame Wohl

E-Book, Deutsch, 317 Seiten

ISBN: 978-3-593-45526-6
Verlag: Campus Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Die meisten Wähler:innen würden unabhängig von ihrer politischen Einstellung wohl der Aussage zustimmen, Politik habe sich in ihrem Handeln stetig am Ideal des Gemeinwohls zu orientieren. Uneinigkeit herrscht dagegen häufig darüber, was mit dem Begriff »Gemeinwohl« genau gemeint ist. Die Autor:innen des interdisziplinär angelegten Bandes analysieren die sich hieran anschließenden Debatten in Wissenschaft und Gesellschaft als Schauplatz grundlegender Deutungsmachtkonflikte. Sie beschäftigen sich dabei unter anderem mit der Frage, welche belief systems unterschiedliche Definitionen von Gemeinwohl prägen und inwiefern Deutungsvielfalt an dieser Stelle zur Herausforderung für die Demokratie wird.

Judith Bollongino ist wissenschaftliche Mitarbeiterin des DFG-Graduiertenkollegs »Deutungsmacht«. Tobias Götze ist wissenschaftlicher Mitarbeiter des DFG-Graduiertenkollegs »Deutungsmacht«. Heiner Hastedt ist Professor für Philosophie an der Universität Rostock. Christopher Höhn ist wissenschaftlicher Mitarbeiter des DFG-Graduiertenkollegs »Deutungsmacht«. Tim F. Huttel ist wissenschaftlicher Mitarbeiter des DFG-Graduiertenkollegs »Deutungsmacht«. Antje Maaser ist wissenschaftliche Mitarbeiterin des DFG-Graduiertenkollegs »Deutungsmacht«.
Bollongino / Götze / Hastedt Umkämpftes Gemeinwohl jetzt bestellen!

Weitere Infos & Material


Autorität und Gemeinwohl. Zur Rolle personaler Deutungsmacht in pluralistischen Konfliktordnungen


Einleitung


Autorität und Gemeinwohl gehören zu den politischen Grundbegriffen. Als solche sind sie mehrdeutig und demokratietheoretisch umstritten.34 Das gilt für Autorität in verschärfter Weise. Gegenüber Begriffen wie »Legitimität« oder »Macht« steht »Autorität« im Verdacht, ein konservativ-reaktionäres Konzept zu sein. Überdies galt der Autoritätsbegriff nach den Erfahrungen mit diktatorischen beziehungsweise totalitären Regimen als diskreditiert. Von der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule über den Politischen Liberalismus von Jürgen Habermas und John Rawls bis zu der sich in den späten 1960er Jahren herausbildenden Theoriebewegung der Radikalen Demokratie wurde Autorität mit manifesten Befehls- und Gehorsamsstrukturen identifiziert. Es gab zwar immer wieder Versuche, den desavouierten Autoritätsbegriff demokratietheoretisch zu rehabilitieren, aber das Verdikt, Autorität verstetige hierarchische Abhängigkeitsverhältnisse und laufe dem demokratischen Versprechen auf »Gleich-Freiheit« (Étienne Balibar) zuwider, hält sich bis heute.

Der Gemeinwohl-Begriff ist ebenfalls umstritten. So teilen die theoriepolitischen Kontrahenten Liberalismus und Radikale Demokratietheorie den grundsätzlichen Einspruch gegen ein substanzielles, individuelle Freiheiten autoritär einschränkendes und gesellschaftliche Differenzen übergehendes Verständnis von Gemeinwohl. Zugleich ist für den Terminus Gemeinwohl der Begriff der Gemeinschaft konstitutiv. Er verweist auf kollektiv geteilte Werte und Überzeugungen und besitzt zudem – vor allem in seiner Verschwisterung mit Gerechtigkeit – normative Implikationen. So zeichnete bereits Aristoteles in seiner Verfassungstypologie politische Ordnungen, die auf das Gemeinwohl ausgerichtet sind, als »gute Ordnungen« aus, während ihm als »schlecht« jene Ordnungen galten, in denen die Herrschenden ihre Eigeninteressen ungehindert durchsetzen können. Allerdings taucht bereits bei Aristoteles, der bisweilen auch als Ahnherr eines »demokratischen Republikanismus« bezeichnet wird,35 ein Problem auf, an dem sich die Demokratietheorie bis heute abarbeitet: Zu den »schlechten« Ordnungen gehörten nämlich nicht nur die Tyrannis und die Oligarchie, sondern auch die Demokratie. Aristoteles grenzte sich in vielerlei Weise von seinem Lehrer Platon ab, teilte aber dessen abschätziges Urteil über die Demokratie als eine stimmungsbehaftete, zu strategischer Politik gänzlich ungeeignete und für demagogische Versuchungen besonders anfällige Pöbelherrschaft.

Diese platonisch-aristotelische Abwertung der Demokratie hielt sich über Jahrhunderte hinweg. Erst im 18. Jahrhundert setzte sich im Zuge der Amerikanischen und Französischen Revolution eine positive Deutung durch. Aber auch diese Aufwertung erfolgte unter der Einschränkung, die Irrationalitäten demokratischer Politik müsse über »vernünftige« Verfahren der politischen Meinungsbildung und Entscheidungsfindung eingehegt werden. Diese Korrekturfunktion übernehmen in der liberalen Demokratie, wie sie 1789 in der US-amerikanischen Verfassung erstmals institutionalisiert wurde, sich wechselseitig kontrollierende politische Institutionen. Über ein komplexes, von individuellen Tugenderwartungen wie substanziellen Gemeinwohlvorstellungen gleichermaßen entkoppeltes System von sollten konfligierende Gemeinwohlverständnisse vermittelt und demokratische Eskalationsdynamiken nachhaltig eingehegt werden. Mit Blick auf die gegenwärtigen Infragestellungen der Performanz liberal-demokratischer Ordnungsmodelle steht diese Vermittlungs- und Stabilisierungsleistung allerdings wieder zur Disposition.

Ich möchte das Verhältnis von Autorität und Gemeinwohl in demokratietheoretischer Perspektive betrachten und einige begriffssystematische Überlegungen darüber anstellen, mit welchem analytischen Gewinn Autorität von verwandten Begriffen wie Herrschaft und Macht abgegrenzt werden kann. Diese Konturierung des demokratietheoretisch höchst umstrittenen Autoritätskonzepts werde ich im Rahmen »agonaler Politiktheorien« entwickeln, die Konflikte aus historischen, ontologischen oder normativen Gründen als Grundprinzip von Politik begreifen. Im Fokus steht hier der »dissentive Republikanismus«,36 der zwar die Vorstellung eines objektiven oder transhistorischen Gemeinwohls verabschiedet, aber auch die Annahme der neopluralistischen Demokratietheorie in Frage stellt, es gebe einen »nicht-kontroversen Sektor« (Ernst Fraenkel) geteilter Spielregeln und Wertvorstellungen, die der pluralistischen Auseinandersetzung entzogen bleiben. Die zentrale These meines Beitrages lautet: Die moderne Demokratie ist eine pluralistische Konfliktordnung, in der über das Gemeinwohl öffentlich und mit offenem Ausgang gestritten wird. Zugleich ist die demokratische Konfliktordnung darauf angewiesen, dass eskalierende Konfliktdynamiken »autoritativ« begrenzt werden. Danach stehen Autorität und Dissens in einem wechselseitigen, für die Demokratie konstitutiven Spannungsverhältnis, dessen einseitige Auflösung – entweder zugunsten »autoritärer Autorität« oder zugunsten radikalisierter Konfliktaustragung – die demokratische Ordnung destabilisiert.

Diese These möchte ich in vier Schritten entwickeln: Erstens werde ich das Profil agonaler Politiktheorien konturieren und den zentralen Unterschied zwischen radikaldemokratischen und republikanischen Ansätzen markieren, der knapp gesagt darin besteht, dass Radikaldemokraten für eine »Ausweitung der politischen Kampfzone« plädieren, während Republikanerinnen die autoritative Einhegung demokratischer Konfliktaustragung präferieren. Zweitens werde ich im Rekurs auf Hannah Arendt das Ordnungsmodell des dissentiven Republikanismus skizzieren, das die hierarchische Dimension von Autorität betont, aber begrifflich und institutionell Autorität von Herrschaft und Macht unterscheidet. Drittens werde ich entlang von vier begriffstheoretischen Perspektiven auf Autorität eine Präzisierung des Konzepts vorschlagen und viertens diskutieren, inwieweit dieses die personale Deutungsmacht akzentuierende Verständnis demokratischer Autorität eine Lösung für das »Pluralismus-Problem« gemeinwohlorientierter Politik bietet.

1.Das Profil agonaler Politiktheorien: die Demokratie als pluralistische Konfliktordnung


»Demokratie« ist ein politisch umkämpfter Begriff. So werden zwar heute politische Systeme als demokratisch bezeichnet, wenn sie über Repräsentativversammlungen verfügen, die politischen Amtsträger gewählt werden, es eine Gewaltenteilung gibt und die politische Entscheidungsfreiheit durch die Verfassung begrenzt wird. Aber diese einzelnen Elemente wie ihre spezifische Gewichtung werden ganz unterschiedlich ausgedeutet. Ausdruck dieser Vieldeutigkeit sind Hubertus Buchstein zufolge die adjektivischen Ergänzungen:

»›Demokratie‹ steht in der akademischen Diskussion nur ganz selten als Wort für sich, sondern wird zumeist unter Hinzuziehung eines Adjektivs näher qualifiziert. Häufige Qualifikatoren sind ›westlich‹, ›repräsentativ‹, ›plebiszitär‹, ›liberal‹, ›modern‹, ›pluralistisch‹, ›sozialistisch‹, ›deliberativ‹, ›autoritär‹, ›gelenkt‹ oder ›defekt‹. Angesichts der vielen sich dadurch semantisch bietenden Möglichkeiten gibt es heute […] eine Vielzahl unterschiedlicher und heftig miteinander konkurrierender ›Demokratietheorien‹, die jeweils reklamieren, über ein zutreffendes Demokratieverständnis zu verfügen.«37

Dass die Demokratie eine pluralistische Konfliktordnung darstellt, bildet den Kern ...



Ihre Fragen, Wünsche oder Anmerkungen
Vorname*
Nachname*
Ihre E-Mail-Adresse*
Kundennr.
Ihre Nachricht*
Lediglich mit * gekennzeichnete Felder sind Pflichtfelder.
Wenn Sie die im Kontaktformular eingegebenen Daten durch Klick auf den nachfolgenden Button übersenden, erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Ihr Angaben für die Beantwortung Ihrer Anfrage verwenden. Selbstverständlich werden Ihre Daten vertraulich behandelt und nicht an Dritte weitergegeben. Sie können der Verwendung Ihrer Daten jederzeit widersprechen. Das Datenhandling bei Sack Fachmedien erklären wir Ihnen in unserer Datenschutzerklärung.