E-Book, Deutsch, 512 Seiten
Bösch Zeitenwende 1979
1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-406-73309-3
Verlag: Verlag C. H. Beck GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Als die Welt von heute begann
E-Book, Deutsch, 512 Seiten
ISBN: 978-3-406-73309-3
Verlag: Verlag C. H. Beck GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Frank Bösch nimmt uns mit auf eine faszinierende Zeitreise zu den Quellen unserer Gegenwart. 1979 gilt als "das Schlüsseldatum des 20. Jahrhunderts" (Peter Sloterdijk) und wird als der "Beginn der multipolaren Welt von heute" (Claus Leggewie) bezeichnet. Die iranische Revolution brachte den fundamentalistischen Islam auf die weltpolitische Agenda, während der sowjetische Einmarsch in Afghanistan auf die Krisenherde des 21. Jahrhunderts vorauswies. Der Papstbesuch in Polen, der von Millionen gefeiert wurde, beschleunigte den Untergang des Sozialismus. Margaret Thatcher verkündete eine neoliberale, die neugegründete grüne Partei eine ökologische Wende. Und die vietnamesischen Boat People konfrontierten die Deutschen erstmals mit weltweiten Flüchtlingsströmen. Frank Bösch schildert in seinem brillanten Panorama mit bisher unbekannten Dokumenten, wie diese Ereignisse 1979 aufkamen und welche Folgen sie für Deutschland hatten: politisch, kulturell und - mit Energiespar-Appellen, Nicaragua-Kaffee, Fremdenhass und Willkommenskultur - auch für unseren Alltag.
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
- Geisteswissenschaften Geschichtswissenschaft Weltgeschichte & Geschichte einzelner Länder und Gebietsräume Deutsche Geschichte
- Geisteswissenschaften Geschichtswissenschaft Weltgeschichte & Geschichte einzelner Länder und Gebietsräume Weltgeschichte
- Geisteswissenschaften Geschichtswissenschaft Geschichtswissenschaft Allgemein Geschichte: Sachbuch
Weitere Infos & Material
1;Cover;1
2;Titel;3
3;Zum Buch;512
4;Über den Autor;512
5;Impressum;4
6;Inhalt;5
7;Einleitung: Die Welt im Umbruch;9
8;1. Die Revolution im Iran: Der Westen und der radikale Islam;18
8.1;Gute Beziehungen zum Westen und speziell zu den Deutschen;21
8.2;Massenproteste gegen den Schah;25
8.3;Khomeini proklamiert den Gottesstaat;28
8.4;Das Geiseldrama als Machtkampf mit dem Westen;38
8.5;Befreiung mit deutscher Hilfe;46
8.6;Der islamische Fundamentalismus fordert die Weltordnung heraus;51
8.7;Wirtschaftsinteressen und Menschenrechte;56
9;2. Papst Johannes Paul II. in Polen: Die Kirche als Herausforderung für den Sozialismus;61
9.1;Ein Pole wird Papst;65
9.2;Verwandlung sozialistischer Räume: «Unser Glaube ist der Sieg»;68
9.3;Päpstliche Auftritte als Event;75
9.4;Folgen des Papstbesuchs in Polen;78
9.5;Politik und Religion in der Bundesrepublik;84
9.6;Parallelen zur DDR?;88
10;3. Die Revolution in Nicaragua: Solidarität mit der Dritten Welt;95
10.1;Somoza stürzt und die Weltgemeinschaft taktiert;98
10.2;Globale Euphorie nach der Revolution;107
10.3;Die Mühen der Ebene;111
10.4;Die Sandinisten und die Kirche;114
10.5;Die USA unterstützen die Contras;116
10.6;Solidarität mit Nicaragua im linksalternativen Milieu;118
10.7;Rot-grüne Hilfe mit öffentlichen Mitteln;127
10.8;«Brillen für Nicaragua»: Die DDR-Solidarität;131
10.9;Bürgerliche Solidarität mit Nicaraguas Opposition;133
10.10;Geplatzte Träume von einem neuen Sozialismus;137
11;4. Chinas Öffnung unter Deng Xiaoping: Wege in die Globalisierung;141
11.1;Maos Erbe und der Druck der Straße;144
11.2;Der stille «Macher»: Deng Xiaopings Kurswechsel;156
11.3;Ökonomische Reformen unter Deng;160
11.4;Die gescheiterte Demokratisierung von unten;167
11.5;Reisediplomatie und Austausch von Know-how ab 1979;171
11.6;Schwierige Anfänge: China als deutscher Wirtschaftspartner;175
11.7;Leuchtturmprojekt: VW in China;178
11.8;Wirtschaftspartner trotz Menschenrechtsverletzungen;182
12;5. Die Boat People aus Vietnam: Rettung von Flüchtlingen;187
12.1;Die Aufnahme der ersten Vietnamesen in der Bundesrepublik;191
12.2;Christdemokratisches Engagement;194
12.3;Die Medien organisieren Hilfsaktionen;196
12.4;Die Linken halten sich zurück;199
12.5;Rettung aus Seenot;201
12.6;Bürokratische Logistik: Vom Durchgangslager in die Bundesrepublik;206
12.7;Die Cap Anamur nimmt Boat People auf;209
12.8;Das Ende der Rettungsaktionen;215
12.9;Angst vor Migranten;220
12.10;Vertragsarbeiter in der DDR;222
12.11;Vietnamesen im vereinten Deutschland;225
13;6. Der sowjetische Einmarsch in Afghanistan: Umbruch im Kalten Krieg;228
13.1;Gescheiterte Modernisierungsversuche in Afghanistan;232
13.2;Der Einmarsch: Entscheidung und Rechtfertigung;235
13.3;Weltweite Entrüstung und Sanktionen gegen die Sowjetunion;241
13.4;Der Westen fördert den islamischen Widerstand;247
13.5;Friedensbewegung, Nato-Doppelbeschluss und Afghanistan-Einmarsch;254
13.6;Der sowjetische Rückzug aus Afghanistan;261
13.7;Das Erbe des Krieges;265
14;7. Thatchers Wahl und die Gründung der Grünen: Neoliberalismus und Ökologie;268
14.1;Die erste Frau an der Spitze einer Industrienation;270
14.2;Versuche, die British Disease zu heilen;276
14.3;Thatchers Reformen: Eine Bilanz;280
14.4;Die Tories und die «Wende» in Bonn;284
14.5;Zahnlos? Die bundesdeutschen Reformen im Schatten Thatchers;289
14.6;«There is no alternative»: Das Aufkommen von Neoliberalen und Grünen;293
14.7;Richtungweisend, weder rechts noch links;298
15;8. Die zweite Ölkrise: Globale Abhängigkeiten und Wege zum Energiesparen;304
15.1;Auftakt: Die Ölkrise 1973;306
15.2;Die Ölkrise 1979 spitzt sich zu;310
15.3;Die Koordinaten im Kalten Krieg verschieben sich;313
15.4;Kleinwagen und Sommerzeit: Energiesparen als Königsweg;319
15.5;«Weg vom Öl»: Der Ausbau alternativer Energien;325
15.6;Ölschwemme statt Ölknappheit;328
16;9. Der AKW-Unfall bei Harrisburg: Angst vor der Atomkraft;332
16.1;Global vernetzt: Atomkraft vor dem Harrisburg-Unfall;333
16.2;Die Anti-Atomkraft-Bewegung formiert sich;337
16.3;Kernschmelze in Three Mile Island: Angst und Krisenmanagement;340
16.4;Internationale Stimmungswechsel;346
16.5;«Schwachstelle Mensch»: Krisen-Experten und neue Sicherheitskonzepte;349
16.6;Die parteipolitischen Frontlinien verändern sich;352
16.7;Harrisburg, Tschernobyl und der Atomausstieg;357
17;10. Die Fernsehserie Holocaust: «Geschichtssturm» und neue Erinnerungskultur;362
17.1;Nachkriegszeit: Zaghafte Auseinandersetzung mit dem Judenmord;364
17.2;Familie Weiss und SS-Mann Dorf in den USA;367
17.3;Trivial oder lehrreich? Die Serie Holocaust in Europa und Israel;371
17.4;Ängste im Vorfeld der bundesdeutschen Ausstrahlung;375
17.5;Erschütterung in der Bundesrepublik;381
17.6;Kein Strohfeuer. Filmische Nachwirkungen der Serie;386
17.7;Politische Nachgefechte: Amnestie, Aktenzugang und Entschädigung;389
17.8;Gewandelte Geschichtskultur;392
18;Epilog: Globale Wendepunkte und der Beginn unserer Gegenwart;395
19;Anhang;406
19.1;Dank;406
19.2;Zeittafel zu 1979;408
19.3;Abkürzungen;410
19.4;Anmerkungen;412
19.5;Quellen und einführende Literatur;498
19.6;Personenregister;507
19.7;Bildnachweis;511
Einleitung Die Welt im Umbruch
Wir sind es gewohnt, die Zeitgeschichte von 1945 und 1989 her zu denken. Die deutsche Teilung und Vereinigung gelten als maßgebliche Zäsuren. Eine andere Perspektive auf die jüngste Vergangenheit gewinnt man, wenn man sie von den weltweiten Wendepunkten im Jahr 1979 her betrachtet. Denn in diesem Jahr häuften sich globale Ereignisse, die Türen zu unserer Gegenwart aufstießen. In zahlreichen Ländern kam es zu Revolutionen, Umbrüchen und Krisen, die viele Herausforderungen unserer heutigen Welt ankündigten – wie den islamischen Fundamentalismus, globale Flüchtlingsbewegungen, marktliberale Reformen oder auch Energieprobleme. Meist vollzogen sich diese Ereignisse in weiter Ferne, waren aber zugleich eng mit der Geschichte unserer Gegenwart verbunden. So betrat 1979 mit der Iranischen Revolution unter Khomeini der fundamentalistische politische Islam die Weltbühne. Bilder von schwarz verschleierten Frauen, Scharia-Strafen und gedemütigten US-amerikanischen Geiseln stimulierten zugleich islamfeindliche Haltungen im Westen. Die hier auftretenden Spannungen im und zum Nahen Osten halten bis heute an. Gleichzeitig kündigten sich mit der Wahl von Margaret Thatcher massive marktliberale Reformen in Großbritannien an. Diese rasch als «Neoliberalismus» bezeichnete Politik entwickelte sich international zum Vor- und Schreckbild. In vielen Teilen der Welt wuchsen die Kritik am Staat und das Vertrauen in die Kräfte des Marktes. Ein noch stärkerer ökonomischer Kurswechsel begann 1979 im sozialistischen China. Dort setzte Deng Xiaoping grundlegende Reformen durch und öffnete die Wirtschaft für den Westen. Symbolträchtig startete sogar der Verkauf von Coca-Cola. Chinas rasanter Wandel stand für eine beschleunigte Globalisierung und den Aufstieg der nunmehr größten Exportnation, die das 21. Jahrhundert prägen wird. Nicht nur Chinas Reformen nagten 1979 an der kommunistischen Utopie. Auch der real existierende Sozialismus in Ostmitteleuropa geriet in Bewegung. Die Polenreise des neu gewählten Papstes Johannes Paul II. brachte im Juni 1979 rund zehn Millionen Menschen auf die Straßen und förderte das Aufkommen einer breiten Protestbewegung, die weit über Polen hinaus ausstrahlte. Kaum weniger Aufmerksamkeit fand die gleichzeitige Revolution in Nicaragua. Junge Linke aus beiden Teilen Deutschlands und anderen Gegenden der Welt reisten als Aufbauhelfer in das lateinamerikanische Land, das rasch zum weltpolitischen Konfliktfeld wurde und die schwierige politische Emanzipation der «Dritten Welt» zeigte. Die sandinistische Revolution beflügelte den Traum von einer gerechten Gesellschaft jenseits des osteuropäischen Staatssozialismus ebenso wie die aktive Globalisierungskritik. Derzeit richten wir unsere Aufmerksamkeit auf Flüchtlinge, die über das Mittelmeer nach Europa kommen. 1979 erreichte mit den «Boat People» aus Südostasien eine erste große Gruppe außereuropäischer Flüchtlinge die Bundesrepublik, die vor allem aus dem kommunistischen Vietnam flohen. Die Bundesrepublik zeigte eine neuartige Hilfs- und Integrationsbereitschaft: Die Regierung erhöhte mehrfach Aufnahmekontingente, die Deutschen spendeten und halfen, mit dem Schiff Cap Anamur Flüchtlinge aus dem Meer zu retten. Der Willkommenskultur folgten jedoch rasch erste rechtsextreme Anschläge, und der Begriff «Wirtschaftsflüchtling» zog in die politische Debatte ein. Die Welt schien sich schneller zu drehen, und Deutschland bewegte sich mit. Die Londoner Times vermerkte im November 1979, dass einem von der Häufung der Ereignisse in diesem Jahr ganz schwindlig werde: «Kurz nachdem wir von einem Ereignis überrollt wurden, passierten gleich neue mit doppeltem Tempo.»[1] Tatsächlich folgte kurz darauf Weihnachten 1979 ein weiteres nachhaltiges Weltereignis: Die Sowjetunion marschierte in Afghanistan ein. Dies diskreditierte die kommunistische Großmacht weltweit, auch im Globalen Süden. Der zermürbende Kampf, den viele sofort als «sowjetisches Vietnam» bezeichneten, förderte den Niedergang der Sowjetunion und zugleich den Aufstieg der islamischen Mudschahedin. Afghanistan ist seitdem ein Krisenherd von globaler Bedeutung. Generell rückten die Ereignisse des Jahres 1979 neue Regionen nachhaltig in den Mittelpunkt der weltweiten Aufmerksamkeit. Die Entwicklungen in China, Iran, Afghanistan oder Nicaragua galten zunächst als Teil eines neuen Kalten Krieges, zugleich trugen sie aber zur Auflösung der bipolaren Weltordnung bei. Das Jahr 1979 war somit nicht nur durch politische Zäsuren gekennzeichnet. Viele Wendepunkte beeinflussten grenzübergreifend den Alltag der Menschen. Jeden Haushalt traf 1979 die zweite Ölkrise. Die Energiepreise stiegen deutlich höher als bei der ersten Ölkrise sechs Jahre zuvor. Zudem galt nun die Atomkraft nicht mehr als unumstrittene Alternative. Denn im April 1979 führte ein schwerer Unfall in einem US-amerikanischen Atomkraftwerk nahe Harrisburg dazu, dass in vielen Ländern die Angst vor der Atomkraft wuchs. Nur zwei Monate zuvor hatte in Genf die erste Weltklimakonferenz getagt, auf der die Erderwärmung durch vermehrten CO2-Ausstoß verhandelt wurde. Mehr Kohle zu verfeuern galt als keine adäquate Lösung mehr, sodass das Sparen von Energie an Bedeutung gewann. In diesem Kontext schlossen sich die gerade entstehenden Grünen für die erste Europawahl im Juni 1979 zusammen, worauf ein halbes Jahr später die Gründung ihrer Bundespartei folgte. Marktliberales und ökologisches Denken formierten sich parallel zueinander. Die weltumspannenden Ereignisse im Jahr 1979 veränderten auch den Blick auf die Vergangenheit. Dafür stand vor allem der Welterfolg der US-Serie Holocaust, die im Januar in Deutschland ausgestrahlt wurde. Sie erschien wie ein «Geschichtssturm», so der Philosoph Günther Anders 1979,[2] da mit ihr die die nationalsozialistischen Verbrechen und die Opfer des Völkermords ins Zentrum der Erinnerungskultur rückten. Die Geschichte der jüdischen Arztfamilie Weiss stand für einen aufkommenden Geschichtsboom und einen neuen historischen Blick «von unten». Einzelschicksale und die Aussagen von Opfern und Zeitzeugen gewannen generell an Bedeutung Selbst Umbrüche in bisher wenig beachteten Ländern wie Nicaragua oder Afghanistan sorgten 1979 weltweit für vielfältige Reaktionen mit großer internationaler Tragweite. Der globale Wandel beschleunigte sich, die Welt wurde enger vernetzt, was man damals noch nicht Globalisierung, sondern Interdependenz nannte. Diese «Ausweitung, Verdichtung und Beschleunigung weltweiter Beziehungen», wie die Globalisierung meist definiert wird,[3] wurde nicht nur durch die Wirtschaft oder globale politische Organisationen angetrieben. Auch die Beobachtungen von Ereignissen in anderen Weltgegenden und die Reaktionen darauf intensivierten sich. Der «Shock of the Global»,[4] der für dieses Jahrzehnt ausgemacht wurde, zeigt sich an den Ereignissen des Jahres 1979 besonders deutlich. Nach Anthony Giddens ist ein Merkmal der Globalisierung, dass lokale Handlungen durch weit entfernte Ereignisse beeinflusst werden.[5] Wie dies geschah, verdeutlicht dieses Buch aus deutscher Perspektive. Den Ereignissen, von denen dieses Buch handelt, ist gemeinsam, dass sie Reaktionen auf Krisendiagnosen waren, die in den Siebzigerjahren eine starke Konjunktur erlebten.[6] Die Krisenwahrnehmung öffnete den Weg für Reformen, Umstürze und politische, ökonomische und kulturelle Paradigmenwechsel. Deren Richtung war meist offen. Schließlich umschreibt der Begriff «Krise» ja nicht einfach einen Niedergang, sondern einen grundlegenden Umbruch, der unter Zeitdruck wegweisende Entscheidungen abverlangt.[7] Viele der Ereignisse standen für einen Bruch mit den Grundannahmen und Erwartungen der Moderne. Dass die Religion eine neue große Bedeutung gewinnen würde, hatte in den Siebzigerjahren kaum jemand angenommen, man rechnete eher mit dem Gegenteil. Nun gewannen der fundamentalistische Islam, der Papst, evangelikale Christen und die lateinamerikanische Befreiungstheologie neues öffentliches Gewicht.[8] Bisherige Symbole des Fortschritts – wie die Atomkraft – galten vielen plötzlich als Bedrohung. Die zuvor noch erhoffte regulierende Kraft des Nationalstaates geriet in Misskredit. Stattdessen prägten globale ökonomische Verflechtungen den Wandel, sei es bei den Ölkrisen, der Öffnung Chinas oder dem weltweiten Verkauf der Serie Holocaust. Gemeinsam war vielen Umbrüchen zudem, dass sie für einen Wandel des Politischen standen. In vielen Regionen betraten plötzlich starke Einzelpersönlichkeiten die politische ...