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E-Book, Deutsch, Band 6491, 256 Seiten

Reihe: Beck Paperback

Bölinger Der Hightech-Gulag

Chinas Verbrechen gegen die Uiguren
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-406-79725-5
Verlag: Verlag C. H. Beck GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Chinas Verbrechen gegen die Uiguren

E-Book, Deutsch, Band 6491, 256 Seiten

Reihe: Beck Paperback

ISBN: 978-3-406-79725-5
Verlag: Verlag C. H. Beck GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Keine andere Region der Welt wird auch nur annähernd so intensiv elektronisch überwacht wie Chinas westliche Provinz Xinjiang. Der Sinologe und Journalist Mathias Bölinger beschreibt, wie dieses System 2017 zusammen mit einem dichten Netz von Lagern installiert wurde. Er erläutert die lange Vorgeschichte der chinesischen Vernichtungskampagne gegen die Uiguren und zeigt, dass die Verfolgung bis heute zwar unsichtbarer, dafür aber umso perfider weiterbesteht. Sein profundes Buch, das auf jahrelanger Recherche in China und vor Ort basiert, ist eine erschütternde Mahnung, im Verhältnis zu China nicht wieder zur Tagesordnung zurückzukehren.

«Sperrt alle ein, die eingesperrt gehören», befahl Parteisekretär Chen Quanguo, als er 2016 von Tibet nach Xinjiang wechselte. «Brecht ihre Wurzeln!» Schätzungsweise ein Zehntel der uigurischen Bevölkerung wurde daraufhin in überfüllten Umerziehungslagern interniert. Allgegenwärtige Kameras zur Gesichtserkennung und Spionage-Apps überwachen jeden Schritt der Bevölkerung – ein Hightech-Gulag. Mathias Bölinger hat zahlreiche Augenzeugen befragt und zeigt an ihren Geschichten und anhand der neuesten Leaks, wie ständige Angst, Festnahmen, Verhöre, psychische und physische Folter die Menschen zermürben. Er erklärt, wie sich das Misstrauen Chinas gegenüber den muslimischen Turkvölkern im Westen vom Kaiserreich über die Kulturrevolution bis zur Ära Xi Jinping in Wellen radikalisiert hat und welche politischen Konstellationen und Ideologien die Unterdrückung befeuern. Der Westen ist schnell mit Verurteilungen zur Stelle, Konsequenzen folgen aber nur zögerlich. Dabei hätten, wie das anschaulich geschriebene Buch zeigt, Politik und Wirtschaft durchaus Hebel in der Hand, um etwas zu bewirken.

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1. Tigerstuhl
An der Grenze hielt der Bus und zwei Polizisten stiegen ein. Baqytali Nur erkannte Murat, den Dorfpolizisten, aus seinem Ort. Den anderen kannte er nicht. Die beiden Uniformierten drehten ihm die rechte Hand auf den Rücken und führten ihn aus dem Bus. Baqytali empfand mehr Ärger als Angst. «Sie führten mich vor den Augen meiner Kinder und aller Passagiere ab», empört er sich. Er war auf dem Weg vom chinesischen Grenzort Horgos nach Almaty. Seit Jahren pendelte er zwischen seinem Heimatdorf im chinesischen Landkreis Chapchal nahe der Grenze und der kasachischen Metropole. Er exportierte Gemüse aus China nach Kasachstan. Am Vortag hatte er 80 Tonnen Kartoffeln mit einem Lastwagen auf den Weg gebracht. Nun wollte er mit dem Bus nach Almaty, um die Ware dort in Empfang zu nehmen. Kurz zuvor hatte er beschlossen, seine Frau und die drei Kinder mitzunehmen. Ein Onkel, der in Kasachstan lebte, war krank geworden und wollte die Familie noch einmal sehen. Wenn Baqytali seine Geschäfte in der Stadt erledigt hätte, würde er mit Frau und Kindern raus aufs Dorf zu dem Onkel fahren. Trotz seiner Verärgerung dachte sich Baqytali zunächst nicht viel dabei, als sie ihn abführten. An der Grenze konnte es auch mal etwas länger dauern. Dass er ein paar Stunden festgehalten wurde, weil die Zollformalitäten nicht in Ordnung waren, kam hier und da vor. Dann wurde meist eine Nachzahlung fällig, und er konnte seine Reise fortsetzen. Doch diesmal ging es nicht um seine Ware. Sie brachten ihn in einen Verhörraum und schnallten ihn an einen Tigerstuhl. Das ist ein Metallstuhl, auf dem Arme und Beine in Metallschellen gelegt werden. Muss man lange darauf sitzen, beginnt der ganze Körper zu schmerzen. «Am Anfang redete ich noch auf den Polizisten Murat ein», erinnert er sich. Er erklärte ihm, er müsse dringend nach Almaty. «Wenn ich meine Ware dort nicht innerhalb von sieben Tagen in Empfang nehme, lädt der Fahrer sie einfach auf dem Markt ab.» Doch die Polizisten interessierten Baqytalis Geschäfte nicht. Immer wieder fragten sie ihn, warum er in Kasachstan gewesen sei, wen er dort kenne und ob er dort Moscheen besucht habe. Baqytali verstand nicht, was die Verhöre sollten. «Ich war noch nie beim Freitagsgebet. Ich trinke mit Freunden Alkohol», sagt er. Die Fragen ergaben für ihn keinen Sinn. Stunde um Stunde verging. Wenn sie mit seinen Antworten nicht zufrieden waren, traten oder schlugen sie ihn vor die Brust oder ins Gesicht. «Da war ein Licht, das mich blendete. Sie schrien mich an: Gesteh endlich!» Sie legten ihm Dokumente auf Chinesisch vor, die er unterschreiben sollte. Zwei Tage ließen sie Baqytali auf dem Tigerstuhl sitzen. Dann wurde ihm ein schwarzer Sack über den Kopf gestülpt und er wurde weggebracht. Die Quittung, mit der er die 80 Tonnen Kartoffeln in Empfang nehmen wollte, hat er noch immer. Nicht nur für Baqytali steht am Anfang seiner Leidensgeschichte der Tigerstuhl. Meist sieht er aus wie ein Schulpult, so wie man es aus amerikanischen Highschool-Filmen kennt: ein einfacher Metallstuhl, an den vorne eine Tischplatte montiert ist. Das Pult ist ebenfalls aus Metall, auf dem Tischbrett sind zwei Metallringe für die Arme angebracht, an den Stuhlbeinen sind Fußschellen. Manchmal kann auch die Hüfte fixiert werden. Ehemalige Insassen beschreiben, dass der Körper durch diese Schellen immer etwas unter Spannung steht und spätestens nach einigen Stunden anfängt zu schmerzen. Der Tigerstuhl ähnelt ein wenig mittelalterlichen Foltergestellen, die in Europa in Museen zu sehen sind. Obwohl China die Anti-Folter-Konvention unterschrieben hat, gehört der Tigerstuhl ganz offiziell zum Inventar vieler Polizeistationen. Er ist legal. «Wir nutzen den Verhörstuhl zum Schutz des Verdächtigen, um ihn an Flucht, Selbstverletzung oder dem Angriff auf andere zu hindern», teilte ein Sprecher Chinas im Jahr 2015 der Anti-Folter-Konvention der Vereinten Nationen ganz offen mit. Der Tigerstuhl kommt in China ganz legal bei Verhören zum Einsatz und wird in Lagern und Gefängnissen auch zur Bestrafung eingesetzt. Durch die Schellen an Armen und Beinen beginnt der Körper nach einiger Zeit zu schmerzen: ein Folterinstrument. Auf diesem Bild ist der Gefangene nicht festgeschnallt. Es stammt von einer Übung in einem Umerziehungslager in Tekes, Nordwest-Xinjiang und wurde an westliche Medien geleakt. Baqytali war einer von vermutlich rund einer Million Uiguren, Kasachen, Kirgisen, Usbeken, Tadschiken und Hui-Muslimen, die plötzlich innerhalb weniger Monate verhaftet wurden. Mit dem Tigerstuhl dürfte ein Großteil von ihnen Bekanntschaft gemacht haben, viele in den ersten Stunden nach ihrer Verhaftung, manche während ihrer Lagerhaft als Bestrafung oder während Verhören, die auch später immer wieder stattfanden. So berichten es diejenigen, die heute in Sicherheit sind. Zumret Dawut, die im März 2018 verhaftet wurde, erinnert sich, dass im Keller ihrer Polizeistation mehrere Zellen waren, die lediglich mit Metallgittern verschlossen wurden. «Man konnte in diese Zellen reinschauen, in jeder stand ein Tigerstuhl in der Mitte. In der Ecke war ein Loch, das während der Verhöre als Toilette genutzt wurde. Wenn man auf die Toilette musste, wurde man an einer Stange an der Wand angekettet. Egal, ob Mann oder Frau, es gab keinen Sichtschutz. Wenn man sich als Frau schämte, wurden sie ungeduldig und sagten: ‹Mach hin›.» Zumret war nicht von der Polizei abgeholt worden, sie war selbst zum Verhör erschienen. Sie hatte einen Anruf erhalten, in dem sie aufgefordert wurde, auf die Polizeistation zu kommen. «Ich schaute meine fünfjährige Tochter an, Tränen liefen mir die Wange herunter. Dann ging ich», erinnert sie sich. «Auf dem Weg betete ich, dass ich wiederkomme und dass meinen Kindern nichts passiert.» Was ihr bevorstand, ahnte sie bereits. Denn nach und nach waren in ihrer Umgebung immer mehr Menschen auf die gleiche Weise verschwunden. Sie wurden zur Polizei gerufen und kamen nicht mehr zurück. Den Anweisungen nicht zu folgen, hatte niemand gewagt. Die allgegenwärtige Kontrolle über die Menschen und die Angst um die Familie sorgten dafür, dass die Anweisungen befolgt wurden. «Die chinesische Regierung bestreitet, dass Uiguren nachts abgeholt und in Lager gesteckt werden», sagt Zumret in bitterem Ton. «In gewisser Weise stimmt das. Sie rufen dich an, und du gehst von selbst.» Überfüllte Lager und «rote Lieder»
Von der Polizeistation wurde der Gemüsehändler Baqytali in eine ehemalige Schule gebracht. Das Gelände war von hohen Mauern und Stacheldraht umgeben. Sie passierten zwei große Metalltore. «Ich hatte Angst. Dort standen bewaffnete Polizisten mit Gewehren und Hunden. Dann übergaben mich die Polizisten an andere Beamte», erinnert er sich. «Ich fragte mich, ob ich hier jemals wieder rauskomme oder ob ich vielleicht hier umgebracht werden sollte.» Er war in einem von Xinjiangs berüchtigten Umerziehungslagern gelandet. Baqytali ist ein hagerer, lebhafter Mensch. Als Geschäftsmann war er recht erfolgreich. Nachdem er zuerst als Grundstücksmakler gearbeitet hatte, begann er 2007 sein Exportgeschäft. Er kaufte auf dem Großmarkt in der nahe gelegenen Stadt Ghulja Gemüse ein, das hier aus ganz China eintrifft. Seine Ware verschickte er nach Almaty, wo er sie auf einem kasachischen Großmarkt weiterverkaufte. Der Grenzhandel lohnte sich. Baqytali ist Kasache, stammt aus einem Dorf im Nordwesten von Xinjiang, nicht weit von der kasachischen Grenze. Als chinesischer Staatsbürger mit kasachischer Muttersprache fand er sich auf beiden Seiten der Grenze gut zurecht, und sein Geschäft lief. «In meinem Dorf war ich jemand, dem es gut ging», sagt er stolz. Nun im Lager erfuhr er, dass seine häufigen Besuche in Kasachstan der Grund für seine Verhaftung gewesen waren. Der chinesische Staat nahm Uiguren und Kasachen, die Kontakte ins Ausland hatten, ins Visier. Baqytali sei eine «vertrauensunwürdige Person», wurde ihm mitgeteilt. Man habe ihn zum «Lernen» hergebracht. Was Baqytali nicht wissen konnte: Der Generalsekretär der Kommunistischen Partei Chinas, Xi Jinping, hatte drei Jahre zuvor in einer geheimen Sitzung die Anweisung zu einer breit angelegten Umerziehungskampagne für die muslimischen Völker in Xinjiang gegeben. «Manche haben die Parteilinie nicht verinnerlicht», wetterte der Parteichef. «Sie haben keinen patriotischen Standpunkt und keinen Begriff von der Einheit der Volksgruppen.» Vor Mitgliedern der Parteiführung in Peking stellte er klar, dass er nicht die Politik der Partei, sondern die fehlende Loyalität der fremden Völker für die Spannungen in ...


Mathias Bölinger, Sinologe und Journalist, hat rund zwanzig Jahre lang aus und über China berichtet und war von 2016 bis 2021 Korrespondent für verschiedene Sender und Zeitungen in Peking. Jetzt ist er für die Deutsche Welle in der Ukraine.



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