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Böhning-Gaese / Kersten / Trischler | Rettet die Vielfalt | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 208 Seiten

Böhning-Gaese / Kersten / Trischler Rettet die Vielfalt

Manifest für eine biodiverse Gesellschaft
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-608-12408-8
Verlag: Klett-Cotta
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Manifest für eine biodiverse Gesellschaft

E-Book, Deutsch, 208 Seiten

ISBN: 978-3-608-12408-8
Verlag: Klett-Cotta
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Wir brauchen die biodiverse Wende! Der dramatische Verlust der Artenvielfalt erfordert einen tiefgreifenden Wandel in allen Lebensbereichen. Die Biodiversität muss zur Grundlage unseres Zusammenlebens werden. Dies kann nur gelingen, wenn wir dabei biologische, kulturelle und technische Diversität in unserem gesellschaftlichen Leben verbinden. Dieses Manifest bietet Thesen und konkrete Lösungen, wie wir Politik, Recht und Wirtschaft ändern müssen, um die größten ökologischen Herausforderungen der Gegenwart zu meistern. Wir müssen unser Leben von Grund auf neu denken: Als industriell geprägte Wohlstandsgesellschaft haben wir die Natur ausgebeutet. Es ist an der Zeit, uns selbst als eine Spezies zu sehen, die Teil einer biodiversen Gesellschaft ist. Programmatisch offen und zukunftsorientiert zeigen die Autor:innen auf, wie sich unser Selbstverständnis ändert, wenn wir uns an einem artenübergreifenden orientieren. Es herrscht eine gefährliche Unkenntnis darüber vor, wie das massenhafte Sterben der Arten Grundlagen unserer Kultur, unserer Wirtschaft und letztlich auch unserer demokratischen Lebensweise gefährdet. Aus diesem Grund gilt es, ein neues lokales und globales Zusammenleben mit der Natur zu entfalten. Doch wie könnte und sollte eine solche biodiverse Gesellschaft aussehen? Ebenso wissensbasiert wie provokant stellen die Autor:innen derzeitige Denkmuster und Entscheidungsgrundlagen in allen Lebensbereichen in Frage: Es kommt darauf an, den Eigenwert der Natur mit der menschlichen Existenz zu verbinden, um die Möglichkeiten eines zukunftsfähigens Zusammenlebens aufzuzeigen.

Katrin Böhning-Gaese, geboren 1964, ist Wissenschaftliche Geschäftsführerin des Helmholtz-Zentrums für Umweltforschung (UFZ) und Professorin an der Universität Leipzig. Sie erforscht seit 30 Jahren die Wechselwirkungen zwischen Mensch und Natur und die Bedeutung der Biodiversität. Für ihre Spitzenforschung und ihr Engagement im Bereich der Politik- und Gesellschaftsberatung wurde sie 2021 mit dem Deutschen Umweltpreis der Deutschen Bundesstiftung Umwelt ausgezeichnet.
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I.


Wir sind Bürgerinnen und Bürger einer biodiversen Gesellschaft. Unser Leben ist existenziell von den anderen Lebewesen auf unserem Planeten abhängig, von Pflanzen und Tieren, Pilzen und Mikroorganismen. Und doch nehmen wir diese Existenzen oft nicht wahr, schätzen sie nicht wert, nutzen sie und ihre Leistungen mit größter Selbstverständlichkeit und zerstören gedankenlos Ökosysteme. Wer lebt mit uns auf dem Planeten? Es sind Millionen von Arten, die in Abermillionen von komplexen und miteinander verflochtenen Wechselwirkungen stehen. Der Wald zum Beispiel ist ein Lebensraum für zigtausende Lebewesen. Wenn wir auf dem Rücken auf dem Waldboden liegen und in die Baumkronen blicken, dann atmen wir den Sauerstoff ein, den die Bäume erzeugt haben. Die Bäume nutzen ihrerseits Pilze, um Nährstoffe im Boden aufzunehmen. Dafür liefern sie Zucker an die Pilze. Eine Wildbiene summt vorbei. Sie ist auf dem Weg zur nächsten Blüte, angelockt von Farbe, Nektar und Pollen. Sie transportiert Pollen und trägt damit zur Fortpflanzung der Pflanze bei. Ein Eichelhäher vergräbt ein paar Eicheln. Daraus werden – wenn der Vogel sie später nicht nutzt – Keimlinge. Der Wald wird sich natürlich regenerieren. Über Jahre und Jahrzehnte wachsen seine Bäume. Ihr Holz dient als Kohlenstoffspeicher, als Brennholz, als Nutzholz für Häuser, Tische und Stühle, für Papier und Musikinstrumente. Falls die Förster vor vielen Jahrzehnten die Entscheidung getroffen haben sollten, Fichtenmonokulturen zu pflanzen, dann ist alles Leben auf diesem Waldboden gefährdet. Die Bäume sterben, geschwächt von Dürre und Hitze, niedergestreckt von Borkenkäfern. Falls unser Wald an einem steilen Hang liegt, könnte das nächste große Gewitter den Boden ins Tal spülen. Die toten Bäume vermögen ihn nicht mehr festzuhalten. Im schlimmsten Fall rutscht der ganze Hang ab. Falls die Förster aber klug waren und einen Mischwald aus lokal angepassten Baumarten gepflanzt haben, kann man die Bäume jetzt ernten. Wenn man dabei umsichtig ist, werden die Keimlinge das Licht, das jetzt durch das offene Kronendach fällt, nutzen, nach oben schießen und die nächste Baumgeneration bilden. Wenn wir jedoch mit schweren Maschinen arbeiten, werden die Keimlinge zerquetscht. Der Boden wird verdichtet, und wir müssen mit viel Aufwand und hohen Kosten neue Keimlinge anpflanzen. Eine echte Überlebenschance haben diese nur, wenn es nicht zu viel Reh- und Rotwild gibt, wenn – möglicherweise gemeinsam mit Wölfen und Luchsen – die Wildbestände reguliert werden.

Es geht hier nicht um ein romantisches Idyll oder eine ökologische Utopie, sondern um die Realität unserer biodiversen Gesellschaft. Wir sind in ihr auf millionenfache Art und Weise mit unseren Mitlebewesen verbunden, in gegenseitiger Abhängigkeit, im Guten wie im Schlechten. Wie gelingt es uns, die anderen Arten in dieser biodiversen Gesellschaft wahrzunehmen? Wie können wir anfangen, biodivers zu denken und verantwortungsvoll zu handeln? Wie denken wir in dieser biodiversen Gesellschaft über die Natur, über Risiken, Nachhaltigkeit und Infrastrukturen? Wie können die politischen Strukturen und wie muss die Rechtsordnung unserer biodiversen Gesellschaft aussehen? Wie müssen wir das Wissenschafts- und Wirtschaftssystem gestalten, damit dieses biodiverse Netzwerk aus Interaktionen, von dem wir abhängig sind, erhalten bleibt oder sogar gefördert wird?

Wir sind also Bürgerinnen und Bürger dieser biodiversen Gesellschaft. Deshalb gilt es, einen biodiversen Wirklichkeitssinn zu entwickeln und Verantwortungsstrukturen zu schaffen, um die durch uns selbst gefährdete Vielfalt zu retten und zu bewahren. Verantwortungsvolles Handeln beruht auf dem Wissen über Biodiversität und dem Willen, für die Bewahrung der Artenvielfalt zu sorgen. Deshalb müssen wir zunächst genau hinschauen, wenn wir verantwortungsvoll leben wollen: Was ist Biodiversität? Was meint Artenvielfalt? Welche Folgen hat der Verlust von Biodiversität?

Was ist Biodiversität?


Der Erdgipfel von Rio de Janeiro hat im Jahr 1992 versucht, ein gesellschaftliches und politisches Bewusstsein für den Schutz von Biodiversität auf der internationalen Ebene zu schaffen. Diese Konferenz der Weltkommission für Umwelt und Entwicklung der Vereinten Nationen hat das Übereinkommen über die biologische Vielfalt (Convention on Biological Diversity, CBD) verabschiedet. Um diesen internationalen Schutz zu entfalten, definiert das Übereinkommen die Biodiversität als »die Variabilität unter lebenden Organismen jeglicher Herkunft einschließlich u. a. terrestrischer, mariner und anderer aquatischer Ökosysteme und der ökologischen Komplexe, zu denen sie gehören; dazu gehört die Vielfalt innerhalb der Arten, zwischen den Arten und von Ökosystemen« (Art. 2 CBD).

Dies ist eine komplexe Definition für einen komplexen Gegenstand. Deshalb sollte man sich vielleicht sogar die Zeit nehmen, diese Begriffsbestimmung mehrmals zu lesen. Biodiversität umfasst erstens die Vielfalt innerhalb der Arten, zweitens die Vielfalt der Arten und drittens die Vielfalt der Ökosysteme. Aus der dynamischen Entfaltung aller Facetten entsteht und entwickelt sich unsere biodiverse Lebenswelt. In Gesellschaft, Politik und Öffentlichkeit wird oft von Artenvielfalt gesprochen, um den »sperrigen« Begriff »Biodiversität« zu vermeiden. Dabei geht das Bewusstsein für die Komplexität verloren, die aber für ein umfassendes Verständnis von Biodiversität unbedingt notwendig ist. Artenvielfalt kann vergleichsweise gut erfasst werden. Dagegen ist die Diversität innerhalb der Arten – beispielsweise die genetische Diversität – nur mit aufwendigen Methoden messbar, und es gibt nur wenige Daten. Die Diversität von Ökosystemen ist grundsätzlich schwer quantifizierbar, da Ökosysteme räumlich kaum abgrenzbar sind. Deshalb ist ein Bewusstsein von Komplexität, ja, eine Leidenschaft für Komplexität wichtig, wenn wir in einer (weiterhin) biodiversen Welt leben wollen. Zugleich ist klar, dass wir noch sehr wenig darüber wissen, wodurch die Komplexität der biodiversen Lebenswelt geprägt wird. Wahrscheinlich werden wir niemals alles durchschauen. Wenn wir also im Folgenden von »Biodiversität« sprechen, dann nicht in dem vereinfachten Sinn von »Artenvielfalt«, sondern in dem komplexen Sinn der »biologischen Vielfalt mit all ihren Facetten«: der Vielfalt innerhalb der Arten, der Vielfalt der Arten und der Vielfalt der Ökosysteme.

Wie entwickelt sich Biodiversität?


Die Biodiversität auf der Erde hat sich über einen Zeitraum von Jahrmilliarden entwickelt. Neue Arten entstehen im Laufe erdgeschichtlicher Zeiträume durch kontinuierliche Veränderungen innerhalb von Arten und über Artbildung, also die Aufspaltung einer in zwei oder mehrere Arten. Im Lauf der Erdgeschichte lässt sich eine Tendenz zur Erhöhung der Artenvielfalt feststellen. Allerdings wurde und wird diese Entwicklung immer wieder durch Massenaussterben unterbrochen. Die Auslöser waren in der Vergangenheit geologische Ereignisse, etwa großflächiger Vulkanismus. Bisher kam es zu fünf Massenaussterben. Das letzte fand vor rund 66 Millionen Jahren statt und markiert den Übergang vom Erdmittelalter zur Erdneuzeit. Es wurde durch einen Asteroideneinschlag auf der Halbinsel Yucatán im heutigen Mexiko verursacht. Ihm fielen fast drei Viertel aller Tierarten zum Opfer, darunter – mit Ausnahme der Vögel – auch die Dinosaurier.

Diesen natürlichen Schwankungen in der Artenvielfalt steht in den vergangenen Jahrhunderten und vor allem in den letzten Jahrzehnten zunehmend ein Verlust von Biodiversität gegenüber, den allein der Mensch verursacht hat. Im ersten globalen Bericht des Weltbiodiversitätsrats (Intergovernmental Science-Policy Platform on Biodiversity and Ecosystem Services, IPBES) haben Expertinnen und Experten festgestellt, dass von den derzeit – grob geschätzt – acht Millionen Arten auf der Erde rund eine Million vom Aussterben bedroht sind.[1] Dabei ist das Maß an Bedrohung bei den verschiedenen Tier- und Pflanzengruppen unterschiedlich ausgeprägt. Am höchsten ist es mit 70 Prozent bedrohter Arten bei Palmfarnen.[2] Auch Amphibien sind hochgradig gefährdet, also Frösche, Kröten und Lurche (41 Prozent bedrohte Arten), außerdem Haie und Rochen (37 Prozent bedrohte Arten) sowie riffbildende Korallen (36 Prozent bedrohte Arten). Darüber hinaus gehen die Bestände von Arten dramatisch zurück; Arten werden seltener. Dies sind die drohenden Vorboten zukünftigen Aussterbens; diese Arten können aber noch gerettet werden. Der Living Planet Index, der die Häufigkeit von Arten anhand ausgewählter Bestände von Wirbeltieren (Vögeln, Säugetieren, Amphibien und Reptilien) widerspiegelt, zeigt einen Rückgang um mehr als 70 Prozent über einen Zeitraum von fünfzig Jahren.[3] In Deutschland und Europa messen wir Rückgänge vor allem bei den Arten der Agrarlandschaft, das heißt auf Äckern, Wiesen und Weiden. Bei den Vögeln in Europa sind es fast 60 Prozent über einen Zeitraum von 37 Jahren.[4] Die Population der Feldlerche nahm in Deutschland in den letzten 25 Jahren um ca. 50 Prozent ab, die des Rebhuhns um 91 Prozent und die des Kiebitzes um 93 Prozent. Aber wie gesagt: Auch unter natürlichen Bedingungen sterben immer wieder Arten aus. Allerdings liegen die derzeitigen Aussterberaten mindestens zehn- bis hundertmal so hoch, einzelne Quellen setzen sie tausendfach so hoch an wie diejenigen der letzten zehn Millionen Jahre.[5]

Neben den Arten verschwinden auch natürliche Ökosysteme...


Kersten, Jens
Jens Kersten, geboren 1967,  lehrt als Professor Öffentliches Recht und Verwaltungswissenschaften an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Einer seiner Forschungs- und Publikationsschwerpunkte bildet das Verhältnis von Menschen und Naturen im Anthropozän.

Böhning-Gaese, Katrin
Katrin Böhning-Gaese, geboren 1964, ist Wissenschaftliche Geschäftsführerin des Helmholtz-Zentrums für Umweltforschung (UFZ) und Professorin an der Universität Leipzig. Sie erforscht seit 30 Jahren die Wechselwirkungen zwischen Mensch und Natur und die Bedeutung der Biodiversität. Für ihre Spitzenforschung und ihr Engagement im Bereich der Politik- und Gesellschaftsberatung wurde sie 2021 mit dem Deutschen Umweltpreis der Deutschen Bundesstiftung Umwelt ausgezeichnet.

Trischler, Helmuth
Helmuth Trischler, geboren 1958, leitete bis 2024 den Bereich Forschung des Deutschen Museums, ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte sowie Technikgeschichte an der  Ludwig-Maximilians-Universität München und gründete 2009, gemeinsam mit Christof Mauch, das Rachel Carson Center for Environment and Society.

Katrin Böhning-Gaese, geboren 1964, ist Wissenschaftliche Geschäftsführerin des Helmholtz-Zentrums für Umweltforschung (UFZ) und Professorin an der Universität Leipzig. Sie erforscht seit 30 Jahren die Wechselwirkungen zwischen Mensch und Natur und die Bedeutung der Biodiversität. Für ihre Spitzenforschung und ihr Engagement im Bereich der Politik- und Gesellschaftsberatung wurde sie 2021 mit dem Deutschen Umweltpreis der Deutschen Bundesstiftung Umwelt ausgezeichnet.

Jens Kersten, geboren 1967, lehrt als Professor Öffentliches Recht und Verwaltungswissenschaften an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Einer seiner Forschungs- und Publikationsschwerpunkte bildet das Verhältnis von Menschen und Naturen im Anthropozän.

Helmuth Trischler, geboren 1958, leitete bis 2024 den Bereich Forschung des Deutschen Museums, ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte sowie Technikgeschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität München und gründete 2009, gemeinsam mit Christof Mauch, das Rachel Carson Center for Environment and Society.



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