E-Book, Deutsch, 176 Seiten
Förderung in inklusiven Schulklassen
E-Book, Deutsch, 176 Seiten
ISBN: 978-3-17-033838-8
Verlag: Kohlhammer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
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1 Emotional-soziale Entwicklungs- und Verhaltensstörungen im inklusiven Bildungssystem
Der Auftrag inklusiver Bildung fordert eine wirksame Unterstützung aller Lernenden gemäß ihren individuellen Bedürfnissen (United Nations, 2006, Art. 24, 3). Die wirksame Unterstützung bei Verhaltensauffälligkeiten und die gleichzeitige Berücksichtigung der Bedürfnisse aller Schülerinnen und Schüler bereitet Lehrkräften in inklusiven Bildungssystemen die größten Sorgen (Forlin & Chambers, 2011). Diese belastenden Erziehungssituationen sind einerseits als Interaktionen zu verstehen (Hillenbrand, 2011), andererseits werden sie meist an den Verhaltensweisen von Schülerinnen und Schülern festgemacht. Die aktuelle Schulstatistik belegt eine steigende Häufigkeit entsprechender Diagnosen: Der Förderschwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung erlebt eine Zunahme und stellte im Schuljahr 2015/16 mit 85.644 Schülerinnen und Schülern (ca. 1,2% aller Schülerinnen und Schüler in Deutschland der Jahrgänge 1 bis 10) den zweitgrößten Förderschwerpunkt dar (Kultusministerkonferenz, 2016, S. 8). Die internationalen Erfahrungen inklusiver Bildungssysteme belegen die besonderen pädagogischen Herausforderungen im Rahmen einer angemessenen und förderlichen Unterrichtung von Kindern und Jugendlichen mit Förderbedarf in der emotionalen und sozialen Entwicklung (World Health Organization & World Bank, 2011). 1.1 Zum Begriffsfeld
Das Thema wird von verschiedenen Wissenschaften, z. B. Medizin, Soziologie, Psychologie, Pädagogik und Sonderpädagogik, bearbeitet. In der Literatur finden sich daher divergierende Begriffe (Herz, 2014; Hillenbrand, 2008; Myschker & Stein, 2014). Die Beschreibungen der Symptome bilden ein breites Spektrum von emotionalen und verhaltensbezogenen Phänomenen ab und fassen sie unter Begriffen wie psychische Störung, Verhaltensauffälligkeit oder Verhaltensstörung zusammen. Der jeweils verwendete Begriff zieht unterschiedliche Phänomene zusammen, er stellt einen »Kontraktionsbegriff« (Hillenbrand, 1996) dar. Die verschiedenen Theoriekonzeptionen der Pädagogik bei Verhaltensstörungen, von tiefenpsychologischen über behaviorale bis zu konstruktivistischen Ansätzen, bedingen auch unterschiedliche Begriffsbildungen und Definitionen (Hillenbrand, 2008; Myschker & Stein, 2014). Die Unterschiedlichkeit der Begriffe ist nicht aufzuheben, umso wichtiger ist die kommunikative Absicherung eines gemeinsamen Verständnisses. Bildungspolitisch und schulpraktisch relevant ist die Umschreibung der Kultusministerkonferenz (2000): »Sonderpädagogischer Förderbedarf ist bei Kindern und Jugendlichen mit Beeinträchtigungen der emotionalen und sozialen Entwicklung, des Erlebens und der Selbststeuerung anzunehmen, wenn sie in ihren Bildungs-, Lern- und Entwicklungsmöglichkeiten so eingeschränkt sind, dass sie im Unterricht der allgemeinen Schule auch mit Hilfe anderer Dienste nicht hinreichend gefördert werden können« (S. 10 f.). International findet der fachwissenschaftliche Terminus »Gefühls- und Verhaltensstörung«, der vom US-amerikanischen Fachverband Council for Children with Behavior Disorders (CCBD) vorgeschlagen wurde, Verwendung. Dieser Begriff bietet zudem die Vorteile einer interdisziplinären Verständigungsebene sowie der expliziten Berücksichtigung der Emotionen (Forness & Knitzer, 1992, nach Opp, 2003, S. 509 f.). Innerhalb dieses Buches werden hauptsächlich die Begriffe Verhaltensauffälligkeiten, emotional-soziale Entwicklungs- und Verhaltensstörungen sowie Sonderpädagogischer Förderbedarf mit dem Schwerpunkt emotionale soziale Entwicklung verwendet. Der Begriff Verhaltensauffälligkeiten (und synonym zwecks sprachlicher Variabilität verwendete Begriffe wie Verhaltensprobleme, Probleme in der emotional-sozialen Entwicklung oder auch Förderbedarf in der emotional-sozialen Entwicklung) bezieht sich auf Vorformen von emotional-sozialen Entwicklungs- und Verhaltensstörungen. Der Begriff Sonderpädagogischer Förderbedarf mit dem Schwerpunkt emotionale soziale Entwicklung beschreibt eine besonders schwerwiegende pädagogische Problematik, die durch eine besonders stark ausgeprägte emotional-soziale Entwicklungs- und Verhaltensstörung oder durch eine Kumulation von schwerwiegenden Entwicklungsrisiken gekennzeichnet ist. Die Begriffspräferenzen sollen aufzeigen, dass sich eine inklusive Förderung im Förderschwerpunkt emotionale soziale Entwicklung • auf ein in Art und Ausmaß differierendes Spektrum an Erziehungsproblemen bezieht, • hierbei neben dem Verhalten emotionale und soziale Kompetenzen und deren Entwicklung eine besondere Rolle spielen und • die Förderung auf die präventive Veränderung von Entwicklungsprozessen ausgerichtet ist. Die genannten Begriffe sind kompatibel zu den in der klinischen Psychologie und der Kinder- und Jugendpsychiatrie verwendeten Begriffen. Verhaltensauffälligkeiten bzw. Entwicklungs- und Verhaltensstörungen von Kindern und Jugendlichen werden dort in mehrere Klassen eingeteilt: hyperkinetische Störungen, Störung des Sozialverhaltens, emotionale Störungen des Kindesalters, kombinierte Störung des Sozialverhaltens und der Emotionen, Störungen sozialer Funktionen mit Beginn der Kindheit, Tic-Störungen sowie sonstige Verhaltens- und emotionale Störungen mit Beginn der Kindheit und Jugend (Döpfner, 2013, S. 37 f.). Die bezeichneten Auffälligkeiten werden häufig in vier Klassen unterteilt, die ebenfalls die Unterschiedlichkeit von emotional-sozialen Entwicklungs- und Verhaltensstörungen dokumentieren: externalisierende Störungen, internalisierende Störungen, sozial unreifes Verhalten und sozialisiert delinquentes Verhalten (Myschker & Stein, 2014). Die berichtete Häufigkeit spezifischer Störungsformen unterscheidet zwischen Angststörungen (ca. 18%), depressiven und aggressiv-dissozialen Störungen (ca. 10%) und hyperkinetischen Störungen wie ADHS (ca. 4%) (Forness, Kim & Walker, 2012). Häufig sind mehrere Formen zugleich zu beobachten (Komorbidität) und Übergänge festzustellen (Schmid, Fegert, Schmeck & Kölch, 2007). Das gleichzeitige Auftreten von Lern- und Verhaltensstörungen (Komorbidität bzw. Overlap) wird bei ca. 50% der betroffenen Kinder und Jugendlichen beobachtet (Klauer & Lauth, 1997). Nur ein Teil der in den epidemiologischen Studien ermittelten Häufigkeiten spiegelt sich in der Förderquote im Förderschwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung: Ungefähr 15% aller Schülerinnen und Schüler mit einem sonderpädagogischen Förderbedarf in Deutschland (was ca. 1,2% aller Schülerinnen und Schüler von 6 bis 15 Jahren im deutschen Bildungssystem entspricht, s. o.) erhalten aktuell eine entsprechende Diagnose. Gegenüber früheren Befunden stellt dies eine Verdreifachung der Diagnosen dar (Kultusministerkonferenz, 2016). Diese Entwicklung steht im Zusammenhang mit dem Ausbau inklusiver Beschulungsformen, der generell zu einer Zunahme der sonderpädagogischen Förderung führt (Kultusministerkonferenz, 2016; McLeskey, Landers, Williamson & Hoppey, 2012). Bundesweit nehmen inzwischen mehr als die Hälfte aller Schülerinnen und Schüler mit einem Förderbedarf im Bereich der emotionalen und sozialen Entwicklung am Unterricht der allgemeinen Schule teil. Die Befunde weisen darauf hin, dass viele Kinder und Jugendliche mit Verhaltensauffälligkeiten oder emotional-sozialen Entwicklungs- und Verhaltensstörungen weder eine sonderpädagogische Unterstützung noch Hilfe durch das medizinische oder soziale Versorgungssystem erhalten. Angesichts der Stabilität von Förderbedarf in der emotional-sozialen Entwicklung und dessen Bedeutung für die Bildungslaufbahn müssen alle Möglichkeiten der Unterstützung, insbesondere präventive Hilfen, intensiv genutzt und ausgebaut werden (Najaka, Gottfredson & Wilson, 2001; Reinke, Herman, Petras & Ialongo, 2008). Die aktuellen Forschungsansätze bevorzugen anspruchsvolle Mehrebenenmodelle der schulbasierten Prävention (Response to Intervention; Schoolwide Positive Behavior Support) (Casale et al., 2018; Kap. 3 bis 6). Im inklusiven Kontext gewinnt die flächendeckende Implementation solcher Modelle noch stärker an Bedeutung. Kinder und Jugendliche, die von sozial-emotionalen Entwicklungs- oder Verhaltensstörungen betroffen sind, haben ungünstige Entwicklungsprognosen für die schulische, berufliche und persönliche Entwicklung. Sie wirkungsvoll zu unterstützen, ist eine bedeutsame Aufgabe und...