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E-Book, Deutsch, 400 Seiten

Blom Böse Philosophen

Ein Salon in Paris und das vergessene Erbe der Aufklärung
1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-446-26550-9
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Ein Salon in Paris und das vergessene Erbe der Aufklärung

E-Book, Deutsch, 400 Seiten

ISBN: 978-3-446-26550-9
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Paris, wenige Jahre vor Ausbruch der Revolution: Im Salon des Barons d'Holbach treffen sich regelmäßig die besten Köpfe Europas. Denis Diderot, David Hume, Laurence Sterne, Jean-Jacques Rousseau und viele andere Denker des 18. Jahrhunderts streiten um eine zeitgemäße Philosophie, die die Religion hinter sich lässt und allein auf die Kraft des Verstandes setzt, aber auch den Leidenschaften angemessenen Platz einräumt. Philipp Blom erzählt ein Kapitel europäischer Geschichte und bringt die radikale Variante der Aufklärung wieder in Erinnerung, die eine Idee von einer wirklich menschlichen Gesellschaft hatte. Ein historisches Meisterstück und philosophisches Plädoyer zugleich.

Philipp Blom, geboren 1970, studierte Philosophie, Geschichte und Judaistik in Wien und Oxford. Er lebt als Schriftsteller und Historiker in Wien. Er erhielt zahlreiche Auszeichnungen, u. a. das Stipendium am Getty Research Institute in Los Angeles, den Premis Internacionals Terenci Moix und den NDR Kultur Sachbuchpreis. Bei Hanser erschienen u. a. Die Welt aus den Angeln (2017) , Was auf dem Spiel steht (2017) und Die Unterwerfung (2022). philipp-blom.eu.
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Prolog


Du kannst aus allen möglichen Gründen verlieren – weil du nicht entschlossen genug warst oder zu fanatisch, nicht flexibel genug oder zu gleichgültig, nicht stark genug oder einfach vom Pech verfolgt, zu sehr befangen in Details oder ihrer zu wenig bewusst, der eigenen Zeit zu lange hinterher oder zu weit voraus. Noch im Sieg kannst du ein Feigling sein oder in der schlimmsten Niederlage ein echter Held.

Das gilt auch für die Toten. Der Aktienmarkt der historischen Reputation wird von Großinvestoren ängstlich beobachtet, von Zockern manipuliert und immer wieder aufgemischt von Spielernaturen, die auf einen vergessenen Philosophen oder einen obskuren Dichter setzen. Der Mechanismus dieses Marktes der guten Namen ist wichtig für unsere Gegenwart, denn diejenigen, deren Aktien am höchsten stehen, hinter denen sich die mächtigsten und meisten Investoren verbergen, bestimmen mit ihren Ideen und Werken auch, was wir über uns selbst denken, welche Geschichten wir uns erzählen. Wenn Platons Aktien höher gehandelt werden als die von Aristoteles und den Wert von Epikur völlig vernichten, dann werden die meisten von uns bewusst oder unbewusst die Welt durch Platons Augen sehen, werden mit den Gedanken den Wegen folgen, die er für uns vorgezeichnet hat.

An einem warmen Sommertag in Paris suchte ich nach zwei Männern, die in einer historischen Schlacht gesiegt hatten, auf dem Markt der Ideen aber als Verlierer dastanden. Sie hatten für eine Gesellschaft gekämpft, die freier sein sollte, gerechter und nicht auf Lügen und Unterdrückung gebaut. Sie hatten mutig für ihre Vision gekämpft und alles riskiert, aber ihre Ideen waren in Ungnade gefallen, von der brüllenden Flut der Revolution verschlungen und fast ganz aus der Geschichte hinausgeschrieben worden. Zweihundert Jahre nach ihrem Tod hatten sie scheinbar die Schlacht um die Erinnerung verloren.

Baron Paul-Henri Thiry d’Holbach (1723–1789), einer dieser beiden, ist heute fast völlig vergessen, sein Name nur Spezialisten ein Begriff. Der andere, Denis Diderot (1713–1784), ist bekannt als Autor einiger Romane und gemeinsam mit dem Mathematiker d’Alembert als Herausgeber der großen Encyclopédie, einem oft erwähnten und fast nie gelesenen Werk, zu dem Flaubert in seinem Wörterbuch der Gemeinplätze dem halbgebildeten Spießer den Rat gibt: »mitleidsvoll darüber lachen und es als Rokoko-Werk abtun«, während er über Diderot lakonisch bemerkt: »immer gefolgt von d’Alembert«.

Diderots Nachruhm ist auf den Aspekt seines Werkes reduziert worden, den er selbst am meisten verachtete: auf den Sammler und Katalogisierer von Ideen und Wissen. Seine eigene Philosophie – so frisch, so human, so befreiend – wird bis heute nur ganz am Rande wahrgenommen. Der fast vergessene Holbach seinerseits war nicht nur einer der wichtigsten Motoren der französischen Aufklärung, sondern auch selbst ein philosophischer Autor, der im Schutz der Anonymität die ersten kompromisslos atheistischen Bücher seit der Antike veröffentlichte. Beide Männer vertraten wahrhaft revolutionäre Ideen, deren Sprengkraft so groß war, dass schon Robespierre & Co. sie mit tiefstem Misstrauen beäugten und schließlich bekämpften.

Auf meinem Gang durch die Straßen von Paris wollte ich die Orte besuchen, die den beiden Denkern wichtig gewesen waren, die Häuser, in denen sie gelebt hatten, v.a. das Stadthaus, in dem Holbach seinen legendären Salon abgehalten hatte und in dem sich über zwanzig Jahre hin die brillantesten Geister Europas versammelt hatten.

Im Laufe der Jahrzehnte und Jahrhunderte ist die Geschichte von Holbachs Salon zu einer Art Geisterschiff der Philosophiegeschichte geworden. Legenden haben sich daran festgesetzt wie Muscheln an einem kupfernen Schiffsboden, und die wildesten Gerüchte kursieren über die Gruppe. Einige Autoren vertreten noch immer die These, Holbachs Gäste seien in Wirklichkeit Teil einer riesigen Verschwörung gewesen, die unter dem Deckmantel philosophischer Diskussionen die Französische Revolution vorbereitet habe; andere sehen Holbachs Haus als eine heimliche Manufaktur für illegale Bücher, die dort geschrieben und von dort aus zu Tausenden im ganzen Königreich verbreitet wurden, um die öffentliche Ordnung zu gefährden, während viele Zeitgenossen sich einig waren, Holbach und seine Freunde seien verabscheuungswürdige Atheisten und gehörten auf den Scheiterhaufen.

Manchmal ist die historische Realität noch spannender, noch erstaunlicher als die Legende. Es steht außer Zweifel, dass die Freunde in Holbachs Salon revolutionäre Ideen diskutierten und verbreiteten, aber ihr Ziel war weit mehr als eine bloße politische Revolution; in seinem Haus wurden tatsächlich subversive Bücher verfasst, aber sie richteten sich gegen etwas unendlich viel Größeres und Gewichtigeres als die französische Monarchie. Der Umsturz, der hier vorbereitet wurde, zielte auf die Fundamente des abendländischen Denkens.

Holbachs von Mythen umranktes Haus zu finden erwies sich als schwieriger, als ich angenommen hatte. Seine damalige Adresse war in der Rue Royale Saint-Roch, aber der moderne Stadtplan stimmt nicht mit dem historischen überein. Im 19. Jahrhundert, als Baron Haussmann die Stadt einem gigantischen Erneuerungsprogramm unterwarf, wurden ganze Häuserzeilen abgerissen, kleine, gewundene Straßen machten Platz für gerade und breite Boulevards, die ideal waren, um die rebellische Stadtbevölkerung im Falle einer weiteren Revolution mit Artillerie in Schach zu halten. Auch die Namen von Straßen wurden damals geändert, und die neue Rue Saint-Roch ist mit der aus dem 18. Jahrhundert nicht identisch.

»Wenn Sie wissen wollen, wo sich die ursprüngliche Rue Royale Saint-Roch befindet, müssen Sie den Priester der hiesigen Gemeinde fragen«, hatte mir jemand geraten, »er ist ein ausgezeichneter Lokalhistoriker und kennt jedes Haus und jeden Winkel in diesem Viertel.« Der Priester, ein distinguiert aussehender älterer Herr mit zurückgekämmtem weißem Haar, war problemlos zu finden. Er saß auf der Terrasse eines kleinen Cafés im Schatten seiner Kirche, der Église Saint-Roch. Zuvorkommend und höflich erklärte er mir, dass er natürlich von dem Baron Thiry d’Holbach wisse und davon, dass er in der Nachbarschaft gelebt habe. Er habe allerdings nicht die geringste Ahnung, in welcher Straße das gewesen sei, und er könne mir auch sonst nichts über den Baron sagen. Au revoir, monsieur, sagte er zu mir und ließ dabei keinen Zweifel daran, dass er nicht den Wunsch hatte, mich wiederzusehen.

So einfach ließ ich mich nicht entmutigen, und nach einigen vergeblichen Versuchen fand ich tatsächlich die Straße, in der Holbach gelebt und Gäste empfangen hatte. Sie heißt heute Rue des Moulins und liegt keine fünfhundert Meter entfernt von der Terrasse, auf der ich den Priester getroffen hatte. Es war offenkundig, dass der Atheismus des Barons noch nicht vergessen war. Bald fand ich noch etwas heraus: Sowohl Holbach als auch Diderot wurden in der Église Saint-Roch begraben, der Kirche, deren Priester nichts von ihnen wusste.

Die Reaktion des Priesters ist bezeichnend dafür, warum Diderot und Holbach den Kampf um die Nachwelt verloren hatten. Die Philosophie, die sie mit so viel Mut vertraten und für die sie große Risiken eingingen, hatte schon zu ihren Lebzeiten starke Reaktionen hervorgerufen. Beide lehrten, dass die Welt aus nichts weiter bestehe als aus zahllosen Atomen, die auf unendlich komplexe Weise zueinander in Beziehung stünden. Darüber hinaus gebe es nichts: keinen inhärenten Sinn, keinen höheren Zweck des Lebens als das Überleben selbst. Während rationalistische und gemäßigte Aufklärer wie Voltaire glaubten, dass es einen Gott geben müsse, einen großen Uhrmacher, der den Mechanismus der Welt geschaffen habe, waren Holbachs Freunde (oder doch die meisten von ihnen) längst überzeugt, dass die Welt nicht geschaffen worden war, sondern sich durch Zufall und natürliche Auswahl entwickelt hatte, ohne die lenkende Hand einer höheren Intelligenz, eines höheren Wesens.

Während des ancien régime, der Zeit vor der Französischen Revolution, war es Selbstmord, offen solche Meinungen zu vertreten. Gegnern der kirchlichen Lehrmeinung drohten Gefängnis, Galeerendienst und sogar öffentliche Hinrichtung. Für kritische Geister war es wichtig zu wissen, wem man vertrauen konnte, vor wem man sich nicht verstellen musste. Holbachs Salon erlaubte solche Momente der Freiheit. Jeden Donnerstag und Sonntag stand er den Freunden offen und bot nicht nur stimulierende Unterhaltung, sondern auch die Dienste eines ausgezeichneten Kochs und einen Weinkeller, der fast so berühmt war wie Holbachs Privatbibliothek.

In dieser kongenialen Umgebung, in der jeder jeden kannte, konnten Holbachs Freunde ihre Ideen ausprobieren, offen philosophische und wissenschaftliche Fragen erörtern sowie neue Werke lesen und gegenseitig kritisieren. Diderot, der zu Lebzeiten als Gesprächspartner und Diskutant noch berühmter war denn als Autor, stand im Zentrum aller Diskussionen, sehr zur Bewunderung und gelegentlich auch zur Frustration der anderen Gäste. Die gelöste Atmosphäre allerdings konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass das eigentliche Ziel dieser Abende nicht persönliche Belustigung war, sondern philosophische und sogar politische Wirkung. Die radikalen Aufklärer wollten die Denkart ihrer Zeit verändern, und dazu mussten sie mit ihren Ideen eine Öffentlichkeit erreichen und beeinflussen. Ihr wichtigstes Werkzeug dabei war Diderots große Encyclopédie, ein riesiges, achtundzwanzig Bände umfassendes Trojanisches Pferd aus Druckerschwärze und Papier, das seine heimliche Ladung an...


Blom, Philipp
Philipp Blom, 1970 in Hamburg geboren, studierte Philosophie, Geschichte und Judaistik in Wien und Oxford. Er lebt als Schriftsteller und Historiker in Wien und schreibt regelmäßig für europäische und amerikanische Zeitschriften und Zeitungen. Zahlreiche Auszeichnungen, u.a. Stipendium am Getty Research Institute in Los Angeles, der Premis Internacionals Terenci Moix und der deutsche Sachbuchpreis. Zuletzt erschienen bei Hanser: Der taumelnde Kontinent. Europa 1900-1914 (2009), Die zerrissenen Jahre. 1918-1938 (2014), Die Welt aus den Angeln. Eine Geschichte der Kleinen Eiszeit von 1570 bis 1700 sowie der Entstehung der modernen Welt, verbunden mit einigen Überlegungen zum Klima der Gegenwart (2017), Was auf dem Spiel steht (2017) und Eine italienische Reise. Auf den Spuren des Auswanderers, der vor 300 Jahren meine Geige baute (2018). Im Paul Zsolnay Verlag erschien der Roman Bei Sturm am Meer (2016). Weitere Informationen unter www.philipp-blom.eu.



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