Blees | Wir sind das Licht | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 240 Seiten

Blees Wir sind das Licht

Roman
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-552-07295-4
Verlag: Zsolnay, Paul
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 240 Seiten

ISBN: 978-3-552-07295-4
Verlag: Zsolnay, Paul
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Ein unkonventioneller, einzigartiger Roman - und die Geschichte einer stillen Radikalisierung Eine Wohnung, drei Frauen, ein Mann. Eine der Frauen ist tot. Als der Notarzt eintrifft, herrscht eine ruhige, ja unheimliche Atmosphäre, und er stellt fest: Elisabeth ist - vor den Augen ihrer Mitbewohner - verhungert. Muriel, Petrus und Elisabeth haben, jeder auf eigene Art, den Halt im Leben verloren. Elisabeths Schwester Melodie und der Verzicht auf Nahrung scheinen diese Lücke zu füllen. Was sich von innen - bis in den Tod - richtig anfühlt, ist von außen nur sehr schwer zu fassen. Gerda Blees erzählt aus ganz unterschiedlichen Perspektiven, auch die Eltern, die Polizei oder der Tatort selbst kommen zu Wort. Für ihren herausragend modernen Debütroman erhielt sie zahlreiche Preise.

Gerda Blees, geboren 1985, lebt in Haarlem, sie studierte Fine Arts an der Gerrit Rietveld Academie in Amsterdam und unterrichtete an verschiedenen Universitäten. Ihr Romandebüt Wir sind das Licht wurde u.a. mit dem Nederlandse Boekhandelprijs und dem Europäischen Literaturpreis ausgezeichnet und ist 2022 bei Zsolnay, in der Übersetzung von Lisa Mensing, auf Deutsch erschienen.
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1


Wir sind die Nacht. Wir bringen Düsternis und Trunkenheit, Katzenkämpfe, Schlaf und Schlaflosigkeit, Sex und Sterbefälle. Wer in aller Ruhe sterben möchte, ohne zu viel Trara und Drama, macht das vornehmlich in uns, der Nacht, während die angehenden Hinterbliebenen schlafen. So sehen wir des Nachts in diesem Land viele Krebs-, Herz- und Lungenpatienten und abgelebte alte Leute fast unbemerkt ihren Geist aushauchen. Doch auch die weniger friedlichen Arten des Sterbens sind uns nicht fremd. Prügeleien, Autounfälle, Mord und Todschlag. Sie wollen nichts von den Gräueltaten wissen, deren Zeuge wir geworden sind, auch wenn Sie Horrorfilme mögen und einen starken Magen haben. Und wir möchten nicht darüber reden. Es gibt interessantere Arten zu sterben, man schaue sich nur die Frau an, auf die wir in diesem Moment unsere Aufmerksamkeit richten, bei der die erkennbaren Merkmale des friedvollen Sterbens mit beunruhigenden, abweichenden Umständen zusammenfallen.

Das Vertraute: ein Wohnzimmer mit Neunzigerjahremöbeln und geschmackloser Deko an den Wänden — große bunte Schmetterlinge aus Metall, alte Musikinstrumente in verschiedenen Größen — und eine schlafende Frau mit strähnigen grauen Haaren, so dünn und schwach, dass ihr Herz jeden Augenblick versagen könnte, neben sich ein Familienmitglied, der Gesichtsform nach zu urteilen ihre Schwester, die ihre Hände umklammert, als wollte sie die fast Tote so am Leben halten.

Das Abweichende: alles andere, aber vor allem die Tatsache, dass die Schwestern mitten im Zimmer auf Luftmatratzen liegen, und der Anblick der restlichen Gesellschaft, ein Mann mittleren Alters und eine etwas jüngere Frau, die vom roten Sofa aus zusehen. Beide sind nur noch Haut und Knochen, wie die Sterbende; ihre Wangen sind eingefallen, ihre Augen liegen tief in den Höhlen. Sie sind zwar nicht im Begriff zu sterben, aber wir können ihre Skelette schon durch die Haut schimmern sehen. Und an der Art, wie sie atmen, als hätten sie Angst, zu viel Sauerstoff auf einmal aufzunehmen, kann man sehen, dass sie zwar nicht tot sind, aber dass sie genauso wenig voller Überzeugung leben. Vielleicht sitzen sie deshalb bei verschlossenen Fenstern in der stickigen Hitze des vergangenen Sommertags, ohne das Licht angemacht zu haben, sodass nur der orange Strahl einer Straßenlaterne zwischen den Gardinen ins Zimmer fällt, schräg über die Luftmatratzen der zwei liegenden Frauen.

Die Luftmatratzen sind uns hier schon öfter aufgefallen. Normalerweise sind es vier, auf denen die Sterbende, ihre Schwester und die zwei anderen nebeneinander auf dem Boden schlafen. Ansonsten passiert meistens wenig. Sie sind keine Nachteulen, die Frau auf dem Sofa ausgenommen, die oft mit weit aufgerissenen Augen an die Decke starrt, während ihr Magen unter der Fleecedecke blubbernde und saugende Geräusche macht. Hin und wieder zieht sie eine Grimasse. Sie ballt die Hände zu Fäusten. Sie beißt sich in die Knöchel. Sie saugt an der Unterlippe. Manchmal schläft sie nach einigen Stunden doch noch ein, aber oft krabbelt sie geräuschlos unter ihrer Decke hervor, um im Badezimmer etwas Wasser aus dem Hahn zu trinken, und das wiederholt sich ungefähr jede Stunde.

Sie erweckt den Anschein, Hunger zu haben, aber wir konnten sie noch nie bei einem nächtlichen Ausflug zum Kühlschrank ertappen, den so viele andere machen, die wegen der blubbernden Leere in ihrem Magen keinen Schlaf finden können. In den drei Jahren, in denen wir sie so erlebt haben, haben wir sie nur ein einziges Mal in der Küche gesehen. Zuerst war sie eine Zeitlang vor dem Entsafter stehen geblieben, den sie streichelte, als handle es sich um ein liebes, flauschiges Haustier, und danach hatte sie sich vor den Kühlschrank gekniet, die Stirn an die Tür gelehnt. Über eine Stunde saß sie dort, ohne sich zu bewegen. Dann legte sie die Hand auf den Griff. Wir sahen, wie sich die Muskeln und Sehnen ihrer Hand anspannten, während sie mit all ihrer Kraft zudrückte. Ihr Ellbogen bewegte sich ein kleines Stückchen empor, und sie ließ los. Sie stand auf. Wankte. Hielt sich an der Anrichte fest. Beugte sich runter, den Kopf zwischen den Knien. Richtete sich wieder auf, langsamer diesmal. Machte einen vorsichtigen Schritt. Ihr Blick irrte durch die farblose Dunkelheit und blieb an einem Apfel hängen, der in der Obstschale auf der Anrichte lag. Sie ging hin, aber nahm ihn sich nicht. Sie beugte sich vor, bis sie mit der Nase ganz dicht an dem Apfel war, und fixierte ihn weiter.

Wenn wir sprechen könnten, hätten wir ihr zugerufen: »Iss doch, Frau, iss! Niemand hält dich auf.« Aber sie aß nicht. Als es ihr gelungen war, sich vom Apfel zu lösen und ins Wohnzimmer zurück zu schleichen, traf sie dort die Älteste der vier, diejenige, die jetzt im Sterben liegt, wach an, mit weit aufgesperrten Augen. Erschrocken blieb sie stehen, gefangen im Blick der Mitbewohnerin, ein Blick, der nichts ausdrückte: kein Verständnis, keine Missbilligung, keine Beruhigung. Nichts. Und auf die gleiche, ausdruckslose Art schlossen sich die Augen wieder. Unsere hungrige Freundin ließ ihre Schultern sacken, kam langsam in Bewegung und legte sich wieder auf ihre Luftmatratze, um auf das Tageslicht zu warten.

Als Nacht von Welt bringt uns nichts so schnell aus dem Konzept, aber wir finden es schon auffällig, dass Menschen in einem Land wie diesem freiwillig Hunger leiden, obwohl die Nahrung buchstäblich in Reichweite ist. Als wollten sie gegen den herrschenden Überfluss protestieren.

Und jetzt ist nach dem Hunger der Tod eingetroffen, nicht für unsere chronisch Schlaflose, sondern für ihre Mitbewohnerin.

»Sie ist fort«, sagt die Schwester, die sich, ohne die Hände der Toten loszulassen, auf der Luftmatratze aufgesetzt hat. »Ich habe den Übergang gespürt. Sehr fließend war das. Wie schön. Wie besonders. Findet ihr nicht auch?«

Mit forschendem Blick sieht sie die anderen beiden an, die jetzt noch vorsichtiger atmen als zuvor. »Habt ihr das gesehen? Habt ihr gesehen, wie ruhig sie wurde, als ich ihre Hände genommen habe? Endlich konnte sie sich hingeben. Hat sie sich hingegeben. Schön, oder? Dass es so abgelaufen ist. Dass wir nicht versucht haben, sie aufzuhalten? Oder? Petrus? Muriel?«

Petrus und Muriel rühren sich nicht. Ihre Gesichtsausdrücke sind unverwandt, während ihre Augen sich in alle Richtungen bewegen, nach etwas suchend, das im Halbdunkel nicht zu finden ist. Schließlich sagt Muriel: »Schön, ja.«

»Und du, Petrus? Wie fühlt sich das für dich an? Möchtest du etwas teilen?«

Petrus schließt die Augen und schüttelt den Kopf, als würde er von einem Insekt geplagt, nach dem er sich nicht zu schlagen traut. Auf seiner Stirn glänzt Schweiß.

»Macht nichts«, sagt die Schwester. »Es ist auch nicht einfach, sich in solch einem intensiven Moment voll und ganz seinen Gefühlen zu stellen. Das ist nicht einfach, das verstehe ich nur zu gut.«

Ohne etwas zu sagen, steht Petrus auf, öffnet die Hintertür und geht in den Garten.

»Okay, Petrus«, sagt die Schwester, und zu Muriel: »Ist schon okay. Er befindet sich gerade im Widerstand. Macht nichts. Das wird gleich wieder. Elisabeth ist jetzt am wichtigsten. Kannst du mir das Telefon geben? Und die Nummer vom Hausarzt? Ich glaube, es ist besser, wenn ich jetzt bei ihr bleibe. Ich glaube, das braucht sie jetzt.«

Muriel steht auf, geht zu einem Rucksack in der Ecke des Zimmers, nimmt ein Handy heraus und gibt es der Schwester. »Die Nummer muss ich eben raussuchen.« Sie setzt sich an den Tisch und klappt den Laptop auf.

»Das ist lieb von dir, Muriel«, sagt die Schwester. »Wirklich lieb. Wie schön, dass wir beieinander sind. Dass wir alle zusammen bei Elisabeth waren. Das hat sie bestimmt gespürt. Das spürt sie. Ich spüre nämlich deutlich, dass sie noch im Zimmer ist. Du nicht?«

»Was hast du gesagt?«, fragt Muriel mit schwacher Stimme.

»Dass sie noch bei uns ist. Elisabeth. Ich spüre ihre Anwesenheit noch sehr deutlich. Aber ich bin natürlich auch ihre Schwester.«

Muriel schließt die Augen und runzelt die Stirn. Dann reißt sie die Augen wieder auf. Das blauweiße Licht des Laptops lässt ihr Gesicht noch gespenstischer erscheinen, als es sowieso schon ist. »Ja«, sagt sie, »ja, ich spüre sie auch, ja.« Sie nickt kurz in Elisabeths Richtung und konzentriert sich dann...


Mensing, Lisa
Lisa Mensing, geboren 1989, übersetzt niederländischsprachige Literatur und moderiert Lesungen. Sie hat u.a. Werke von Gaea Schoeters, Frank Martinus Arion, Gerda Blees, Sacha Bronwasser und Connie Palmen ins Deutsche übertragen.

Blees, Gerda
Gerda Blees, geboren 1985, lebt in Haarlem, sie studierte Fine Arts an der Gerrit Rietveld Academie in Amsterdam und unterrichtete an verschiedenen Universitäten. Ihr Romandebüt Wir sind das Licht wurde u.a. mit dem Nederlandse Boekhandelprijs und dem Europäischen Literaturpreis ausgezeichnet und ist 2022 bei Zsolnay, in der Übersetzung von Lisa Mensing, auf Deutsch erschienen.



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