E-Book, Deutsch, 224 Seiten
Blaschitz / Krenn Spuren lesbar machen
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-7065-6489-2
Verlag: Studien Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Das NS-Zwangslager im Granitwerk Roggendorf. Neue Formen der Geschichtsaufarbeitung zwischen Kunst und Wissenschaft
E-Book, Deutsch, 224 Seiten
ISBN: 978-3-7065-6489-2
Verlag: Studien Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Edith Blaschitz ist Historikerin und Assistenzprofessorin für transdisziplinäre Kunst- und Kulturforschung, Leitung des Stabsbereichs 'Digital Memory Studies' an der Universität für Weiterbildung Krems, der sich mit mediatisierten Erinnerungskulturen beschäftigt. Forschungsprojekte zu NS-Zwangslagern in Niederösterreich. Weitere aktuelle Forschungsschwerpunkte: Raumbezogene Erinnerung und Geschichte, Partizipation, Invisible Heritage ('Belastetes Erbe', Frauengeschichte, etc.). Martin Krenn, geboren 1970 in Wien, ist Künstler, Kurator und Professor für freie Kunst mit dem Schwerpunkt Kunstvermittlung an der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig. Krenn promovierte an der Ulster University in Belfast zu 'The Political Space in Social Art Practices' und wurde an der Universität für angewandte Kunst Wien für das Fach 'Kunst und kommunikative Praxis' habilitiert. Internationale Ausstellungstätigkeit sowie Lehrtätigkeit an verschiedenen europäischen Universitäten. Er ist Herausgeber diverser Kunstpublikationen und Autor zahlreicher Texte zu sozialer Kunst und Kunstvermittlung.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Aleida Assmann
Die Erinnerung an Zwangsarbeit – Geschichte, Gegenwart und Zukunft
Geschichte
In seinem Essay hat der Globalhistoriker Jürgen Osterhammel das Thema Sklaverei als ein „welthistorisches Problem identifiziert“ und einen prägnanten Überblick über das Thema gegeben.1 Eine seiner Thesen lautet kurzgefasst: Deutschland hat sich spät in den Kreis der Kolonialstaaten eingereiht, aber in Deutschland gab es keine entsprechende Geschichte der Sklaverei. Seine Untersuchung lässt jedoch die Anschlussfrage offen: Hat Deutschland dieses „Versäumnis“ vielleicht in der NS-Zeit nachgeholt?
Inzwischen kann nämlich die Geschichte des deutschen Sonderwegs mit Blick auf die Sklaverei-Geschichte etwas vollständiger erzählt werden. Nur 15 Jahre nach dem Ersten Weltkrieg, als sich die demokratischen Staaten Europas gemeinsam für den Weg des Friedens und der Freiheit ihrer Bürger:innen entschieden hatten, wurde in Deutschland eine Diktatur etabliert, die antizyklisch ein Regime des Rassismus und der gnadenlosen Ausbeutung durch Sklaverei einführte. Deutschland stieg also verspätet in diese Tradition ein und holte dabei alles nach, was es historisch verpasst hatte. Es gibt ein Zeugnis dafür, dass Hitler in diesem Punkt ein klares Vorbild hatte, nämlich die amerikanischen Südstaaten. Diese hatten nach der Niederlage im Bürgerkrieg ihr Bekenntnis zur Sklaverei keineswegs abgelegt, sondern Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts bekräftigt und erneuert. Als amerikanische Anhänger Hitlers aus den Südstaaten dem neuen Reichskanzler einen Besuch machten, lobte er ihre politische Orientierung in den Vereinigten Staaten und bedauerte ihre Niederlage mit den Worten: „Die Ansätze zu einer großen, auf der Idee der Sklaverei und der Ungleichheit beruhenden neuen Gesellschaftsordnung sind damals zerstört worden.“2 Mit seinem Bekenntnis zur Sklaverei hat Hitler sich damals aus der westlichen Zivilisation ausgeklinkt und mit gewaltvollen Kriegen und Eroberungen eine Großmacht aufgebaut, mit der er ganz Europa unterworfen hat. Dieses Reich basierte auf der Zwangsarbeit von Menschen in einem rassistischen Regime, das eine radikale Trennung zwischen „Herrenmenschen“ und „Untermenschen“ einführte. Für seinen genozidalen Antisemitismus, der im Holocaust endete, gab es kein Pendant in anderen Staaten, aber für die Zwangsarbeit hatte Hitler ganz konkrete historische Vorbilder.
Gegenwart: Zwei Beispiele
Oswald Burger: Zeuge der Zeugen von Überlingen
Im Juli 2024 wollte sich die Landtagspräsidentin Baden-Württembergs Muhterem Aras ein genaues Bild von der (süd-)deutschen Erinnerungskultur machen. Deshalb stellte sie eine Liste mit historischen Gedenkorten in Baden-Württemberg zusammen, die sie besuchen wollte. Auf ihrer Liste stand auch der Goldbacher Stollen in Überlingen am Bodensee. Am Tag ihrer Besichtigung versammelten sich vor dem Eingang der Höhle am Ufer des Bodensees über hundert Schüler:innen aus drei Gymnasien, die mit ihren Lehrer:innen zu diesem Lokaltermin mit eingeladen waren. Mir fiel auf, dass es kein Schild und keine Tafel gab, die darauf aufmerksam machten, dass es sich hier um einen besonderen historischen Ort handelte. Das historische Wissen, das man an diesem Ort brauchte, war verkörpert in dem Lehrer Oswald Burger, der die Gruppe durch den Stollen führte. Er selbst stammt aus einer Vertriebenen-Familie aus dem Banat. Er ist nach dem Zweiten Weltkrieg am Bodensee geboren und wuchs dort auf. Anders als die Einheimischen hat er sich bereits als Jugendlicher für die NS-Geschichte dieses Ortes interessiert und sie zu seinem lebenslangen Forschungsthema gemacht. Der Geschichtslehrer, der an der Universität Konstanz studiert hat, konnte diese Geschichte dort nicht studieren, weil die Forschung zu diesem Thema erst jetzt Fahrt aufnimmt. Burger gehört zu den Pionieren der Oral History, weil er selbst Kontakt mit den Zwangsarbeiter:innen aufgenommen hat und in Kontakt mit diesen historischen Zeugen getreten ist. Er recherchierte ihre Namen und Adressen und suchte sie in verschiedenen Ländern Europas auf. Alle Kontaktpersonen haben ihm ihre persönlichen Geschichten erzählt. Zusammen mit einem Verein von Ehrenamtlichen, den er in Überlingen gegründet hat, führt Burger seit Jahren regelmäßig Gruppen durch den Stollen. Dieser Zeuge der Zeugen gibt deren Geschichte an interessierte Besucher weiter und flicht dabei die von ihm gesammelten Namen und Einzelschicksale mit ein.
Christoph Ransmayr: Die Janusköpfigkeit von Ebensee
Der bedeutende Autor Christoph Ransmayr ist im Salzkammergut in Österreich geboren und am Traunsee aufgewachsen. In einem aktuellen Gespräch über sein Leben in dieser Region kam er auf seine Kindheit zurück. Er erzählte eine Episode, in der es um den Moment des ‚coming of age‘ ging, als er mitten in der zauberischen Landschaft seiner Kindheit seinen ersten tiefen Eindruck von der „Finsternis in dieser Kulisse“ erlebte. Diese Landschaft war ihm wie „ein romantisches Abbild des Paradieses“ erschienen, bis er mit seinem Lehrer, der zufällig auch sein Vater war, einen Schulausflug ans andere Seeufer machte. Die Schüler:innen fuhren auf einem Raddampfer von Gmunden nach Ebensee. Vom Schiff aus sahen die Schüler:innen die in den Berg geschlagenen Stufen des Steinbruchs von Ebensee. Hier der Bericht von Ransmayr:
„Und wir haben unseren allwissenden Lehrer danach gefragt. Und der hat uns erzählt, was in diesem Steinbruch und in den tiefen Stollen an seiner Basis geschehen ist, hat uns erzählt vom Konzentrationslager der Nazis in Ebensee, in dem, wie ich später erfuhr, die Häftlinge nicht mit Gas wie in Auschwitz, sondern mit schwerster Arbeit, durch Hunger, Krankheiten, Prügel, Erschöpfung oder von den Bluthunden des Lagerkommandanten getötet wurden, ein KZ der sogenannten : Vernichtung durch Arbeit. Mein Vater hat uns vom Leiden der hier in teilweise fensterlosen Baracken zusammengepferchten, insgesamt achtzehntausend Menschen erzählt, von denen jeder zweite ermordet worden war. Und später …, später habe ich erfahren, dass in diesem und ähnlichen Lagern brave Leute aus vermeintlich christlichen Dörfern als Wärter und Wärterinnen, Aufseher und Aufseherinnen, Mörder und Mörderinnen ihre getan haben …“
Ransmayr fährt fort:
„Ich war nach diesem Ausflug jedenfalls wütend auf meinen Vater, weil ich ihn für die Zerstörung meiner bis dahin gültigen Vorstellung von der Welt verantwortlich machte: Überall liebenswürdige, gottesfürchtige Leute, schöne Landschaften, glitzernde Seen – und dann erzählt er mir, was in diesem Garten Eden geschehen ist! Schuljahre später wurde dazu noch klar, dass viele von den am Massenmord beteiligten Pflichterfüllern auch nach dem Krieg und bis in meine Zeiten ihre geänderten Pflichten in Ämtern, Schulen, Parlamenten unbehelligt weiterhin erfüllten. Schönes Salzkammergut! Vielgeliebtes Österreich!“3
„Es war ja bei Todesstrafe verboten“, ergänzt Ransmayr, „den Häftlingen, gleich auf welche Art, beizustehen. Trotzdem lag immer wieder Brot am Leidensweg der zum Steinbruch und zu den Stollen wankenden Zwangsarbeiter.“ Dieser Leidensweg in Ebensee war ein mit Stacheldraht gesicherter Korridor, der von den Arbeitern „Löwengang“ genannt wurde. Der Autor erinnert sich noch gut an den polnischen Zwangsarbeiter Wladyslav Zuk, der nach der Befreiung 1945 eine Ebenseerin heiratete, die Brot an den Weg der Häftlinge gelegt hatte. Zuk war es auch, der mithalf, in Ebensee ein zeitgeschichtliches Museum zu gründen, in dem er als Zeitzeuge von den Qualen im Lager berichtete.
Gäbe es dieses Museum nicht, wären vor Ort keine Spuren mehr von der Geschichte der Zwangsarbeiter:innen zu finden, da das KZ-Gelände seit 1949 systematisch mit einer Arbeitersiedlung überbaut wurde. Drei Jahre später regte sich aber ein lokaler Widerstand gegen diese Politik des Spurentilgens und Vergessens. Es tat sich eine Gruppe zusammen, die an einem Ort von zwei Massengräbern einen zentralen Friedhof für KZ-Opfer einrichtete. Das dort inzwischen angebrachte Denkmal von Kurt Ellmauer löst diese Opfer aus der Anonymität der Massengräber und Statistiken heraus, indem es ihre Namen würdigt und verewigt. Von Ellmauer stammt auch das Denkmal, das in Gmunden, der Stadt, in der Ransmayr zur Schule ging und sein Vater Lehrer war, im März 2023 eingeweiht wurde. Es ist der Erinnerung an 60 vom NS-Regime Ermordete gewidmet: darunter Jüdinnen und Juden, Euthanasie-Opfer und politisch Verfolgte. Die Vor- und Nachnamen sind in ein Bronzeband eingelassen, das an der Gmundner Esplanade so angebracht ist, dass man die Wellen des Traunsees durch die ausgefrästen Buchstaben sehen kann. Das Denkmal erinnert ex negativo an prominente und weiterhin aktive Nazis, die nach dem Krieg ihre politischen Fäden zogen und 1992 einen Brandbombenanschlag auf ein Flüchtlingsasyl in Traunkirchen verübten.4
Zukunft?
Anfang der 2000er Jahre bereits hat sich die jüdische...