Buch, Deutsch, Romanian, Band 170, 149 Seiten, Format (B × H): 145 mm x 200 mm, Gewicht: 242 g
Reihe: Lyrik
Gedichte. Deutsch / Rumänisch
Buch, Deutsch, Romanian, Band 170, 149 Seiten, Format (B × H): 145 mm x 200 mm, Gewicht: 242 g
Reihe: Lyrik
ISBN: 978-3-86356-364-6
Verlag: Pop, Traian
ES schneit!
Also werde ich dich sehen
weil deine unsichtbare Silhouette
unter dem Schnee Form annimmt.
Bleib stehen, ich flehe dich an
damit der Schnee sich
auf die Schultern auf den Kopf
und in die Haare setzt.
Ich will dich nur sehen
wahrhaftig.
Ich weiß, ich darf
dich nicht streicheln
denn unter meiner warmen Hand
würde dein Schneeumriss
schmelzen.
Es schneit
aus gefrorener Urzeit
und es badet uns
klirrende Kälte
in zärtlichem Untergang.
In einer Zeit, in der die Menschheit biologische und mentale Experimente anstrebt und nicht einmal davor zurückscheut, mit Hilfe von riskanten Technologien eine Verschmelzung von Mensch und Maschine zu planen, um das Leben um jedem Preis zu verlängern bzw. eines Tages Unsterblichkeit zu erlangen, glaubt eine Dichterin, dass Liebe die einzige universelle Kraft ist, die den Tod überwindet.
Ruxandra Niculescu
Lieferbare Titel von Ana Blandiana:
– Geschlossene Kirchen & Biserici închise. Gedichte. Nach einer Auswahl und mit einem Nachwort von Katharina Kilzer (Hrsg.). Übersetzungen aus dem Rumänischen von Maria Herlo, Katharina Kilzer und Horst Samson. Deutsch-Rumänisch. Orpheus Reihe Band 9. ISBN 978-3-86356-185-7; 210 Seiten, €[D]18,50
– BAWÜLON 4/2017 (28)
– MATRIX 1/2020 (59) • Anna Blandiana • Sie könnte die nächste Nobelpreisträgerin sein Mein Vaterland A4 / Patria mea A4. Gedichte. Deutsch / Rumänisch. Übersetzungen aus dem Rumänischen von Maria Herlo, Katharina Kilzer und Horst Samson. Reihe Lyrik Bd. 154. 155 S., Kartoniert, mit Schutzumschlag (bedruckt). ISBN: 978-3-86356-300-4, €[D] 19,90 Herr der Mühle. Übersetzungen aus dem Rumänischen von Hans Bergel], Horst Fassel, Maria Herlo, Franz Hodjak,Katharina Kilzer, Rolf-Frieder Marmont, Ruxandra Niculescu, Dieter Roth, Horst Samson, Dieter Schlesak, Bettina Schuller, und Joachim Wittstock. Reihe Lyrik Bd. 154 S., Kartoniert, mit Schutzumschlag (bedruckt). ISBN: 978-3-86356-217-5, €[D] 19,10 Variationen über ein gegebenes Thema / Varia?iuni pe o tema data Gedichte. Deutsch / Rumänisch. Aus dem Rumänischen und mit einem Nachwort von Ruxandra Niculescu. Reihe Lyrik Bd. 170. 149 S., Kartoniert, mit Schutzumschlag (bedruckt). ISBN: 978-3-86356-364-6, €[D] 18,50
Weitere Infos & Material
Ich wusste, es war nur ein Kleid.
Aber ich hatte es verdrängt.
Erst als du beschlossen hast
es auszuziehen
erinnerte ich mich mit Angst daran.
Und sofort fragte ich mich:
„Warum mit Angst?
Es ist nur ein Kleid
obwohl die Leute so viele Jahrzehnte lang
glaubten, das seist du.“
Jetzt endlich gibt es kein Missverständnis mehr.
Es lag abgeworfen, zerknittert,
verbraucht, abgenutzt
ohne jede Verbindung zu dir
fremd, unter Blumen.
Ich vergaß es anzusehen
und spürte deinen endlosen Blick
der uns alle gleichgültig umschloss.
Dich sah man nicht
weil wie in dem Roman von Wells
nur dein Kleid dich sichtbar machte
und nur der Schnee auf deine Schulter
auf deinen Kopf fallend
deine Gegenwart verraten hätte.
Aber es schneite nicht in der Kirche.
Ich erinnere mich, dass ich mich einmal fragte
ob wir zwei Schutzengel haben.
Da wir immer zusammen sind,
wäre es bloße Verschwendung.
Einer für uns hätte genügt.
Es kam mir nie in den Sinn
dass wir uns trennen könnten
und so der Engel
gezwungen wäre
zwischen uns beiden zu wählen
oder dass einer von uns verzichten müsste.
Sag es ganz offen,
bereust du nicht, ihn mir zu überlassen
nur mir allein?
Wie zwischen Geist und Körper
herrscht Verwirrung
zwischen dem Sinn
und dem Wort, das ihn verbirgt
als wären sie unzertrennlich
ein einziges Wunder.
Während das Wunder gerade die Trennung ist
der Augenblick, wenn das Fleisch des Wortes
von den bleichen, trockenen Knochen
des Sinnes abfällt
und wir entdecken
dass die Seele uns immer enger band
als das Blut.
In letzter Zeit ähnelt mein Leben einem Roman von Agatha Christie.
Alles schien normal zu laufen, bis du auf einmal geheimnisvoll verschwunden warst.
Dann, von Zeit zu Zeit, in immer kleineren Abständen, verschwand noch jemand, dann zwei, drei andere noch, bis alles anfing unheimlich zu werden und der Terror begann.
Es vergeht keine Woche, ohne dass noch jemand für immer fort ist, und wir tun so, als würden wir nichts merken, aus Angst, man würde beobachten, wie man selber verschwindet.
Du warst der erste.
Vielleicht ging der Roman auch früher so, aber ich begann ihn erst zu lesen, als es um dich ging.
Hin und wieder
hielt zwischen uns die Zeit an.
Wir traten aus ihr aus
und waren nicht mehr zwei.
Als hätten wir das Jüngste Gericht überwunden
verstanden wir, was die Wildtiere sagen
was die Grillen singen.
Oder die zwei Teile
einst auseinandergerissen
kehrten einfach zurück
in ein einziges Wesen:
da waren wir zu zweit –
ein Pflanzenpaar.
Der sinnlosen Zeit zerfiel das Laub
in tausend Blätter.
„Ich habe einen Pakt mit dem Spiegel“, sagtest du.
„Er hat es mir geschworen bis zum Tod,
dich immer so zu zeigen, wie ich dich sehe“.
Und jahrzehntelang
blieb dir der Spiegel treu
und zeigte mich nur
im Licht deiner leuchtenden Träne
wie in den Märchen
verjüngt vom Wasser des Lebens.
Jetzt sehe ich mich im Spiegel
und warte mit Angst auf die Veränderung.
Aber es passiert nichts:
was für ein wunderbarer Beweis
dass du nicht aufhörst mich anzusehen.
Wir treffen uns wie in einer hohlen Kugel
aus Seifenwasser
die aufzublasen
mir manchmal gelingt
glänzend, durchsichtig
mit uns darin strahlend vor Glück
und wissend:
es ist nur für ein paar Sekunden.
Alles ist so seltsam
dass, wer weiß, ob dort
eine Sekunde
nicht Millennien dauert ...
Sanft schwingen himmlische
Klänge – noch kein Gesang.
Rhythmisch atmen die Worte ein
das öde Vergessen des Seins.
Eine taumelnde Stille
in kunstvollen Fetzen
lebendig aus dem Gedächtnis
uralter Riten gerissen.
Längst verwaiste Worte rufen
die Eltern, die jetzt Geister sind –
älter werdend höre ich sie
und fühle mich als Urahnenkind.
Wenn wir wie einst noch Mikrophone im Haus hätten, würde man mich beim Abhören sicher für verrückt halten, wie ich mit dir rede, über alles Mögliche, dich um Rat bitte und Ereignisse erzähle, „ich liebe dich“ sage, im Präsens, und „gute Nacht“ bevor ich das Licht ausknipse.
Und einigen, die vielleicht neu bei dieser Arbeit wären und nicht wüssten, dass du wirklich nicht mehr da bist, würde es verdächtig erscheinen, dass du nicht antwortest, und man würde vermuten, dass die Pausen im Gespräch durch konspirative Zeichen gefüllt wurden, damit wir für sie unverständlich bleiben.
Ohne dich
scheint die Welt plötzlich grösser
und sinnloser
wie ein unmöbliertes Zimmer
als wären einige Wände gefallen
ohne die ich nicht mehr weiß
wie es vorher war
nur, dass man nichts sieht
bis zum Horizont
aber ohne die geringste Ahnung
was der Horizont ist.
Fremd dem vergeblichen Gestern
und dem sperrigen Morgen
ist das Heute für mich kein Geschenk
sondern ein Raub.
Wenn ich „denen in den Gräbern“ sage, wird es still in mir, als könnte ich nicht mehr weiter, bis ich verstehe, um wen es geht.
Nur wenn ich sicher bin, dass es nicht um dich geht, geraten die Dinge wieder in Ordnung, in Rituale, Wiederholungen, und der Kirchengesang setzt sich neben mir fort, harmlos, kühlend, wie ein Wasser, das wir zusammen hörten, ohne sicher zu sein, dass es das gibt.
Was wäre, wenn wir uns vornähmen
gleichzeitig voneinander zu träumen
als würden wir uns im Traum treffen?
Wieso habe ich nicht schon früher
an diesen Kompromiss gedacht?
Es genügt die Zeit und den Ort
unserer Begegnung festzulegen
aber auf jeden Fall und jedes Mal und überall
wären wir das Brautpaar.
Das nur einschlafen müsste
auf der zarten Schneide zwischen den Parallelwelten
einer Klinge, die schreibt und tötet
und tief bis zum Griff in der Liebe steckt.
Beängstigend die Finsternis
im Herzen der Flamme
denn ich weiß nicht
ob das Dunkel das Licht
oder das Licht das Dunkel gebiert:
Inzestuöse Verbindung
zwischen Gut und Böse
die fleischfressende
Schattenblumen
aus Glimmer ausschneidet.
Ich fürchte mich.
Ich kann es nicht begreifen.
Noch mehr: es ist unfassbar.
Deine Anwesenheit – etwa eine Häresie –
beugt sich keiner Skepsis.
Es geschieht wie im Evangelium.
Ich zweifle nicht, ich will nicht
meine Hand mit dem Schreibzeug
auf die Wunde legen
wenn es scheint, dass du heimkommst
wie ein Ritter ohne Angst und List.
Und als wäre alles nicht seltsam genug
ob es ein Wunder oder nur Sünde ist
will ich über deinen Heimweg nichts wissen
es genügt mir, dass du da bist.
„Wo ist der Herr“, fragten mich die alten Marktfrauen, von denen du Dill, Petersilie und, wenn sie es hatten, auch Liebstöckel gekauft hattest. „Er sollte Sie nicht allein lassen.“
„Die alten Marktfrauen haben nach dir gefragt: Wo ist der Herr?“, erzählte ich, als ich zurückkam, und du warst so stolz und belustigt, dass ich vergaß hinzuzufügen, dass sie noch sagten, du solltest mich nicht allein lassen.
Was für einen Glanz strahlt der Schmerz aus!
Die Märtyreraura
bedeutet das.
Aus dem Koffer
mit deinen beschriebenen Blättern
sickert das Licht
wie das Blut
aus einem geschundenen Heiligen.
Zu dir bete ich jetzt
du bist die Zwischeninstanz
über die ich nur weiß, dass es sie gibt.
Du bist die Rast, wo meine Worte
in ein anderes Alphabet übertragen werden.
Zu dir bete ich
ohne zu wissen, um was ich beten soll
außer um dich.
Und du schreibst meine Worte ab
ohne sie zu verstehen
und leitest sie sachte weiter.
Was ist die Liebe, wenn nicht die Unmöglichkeit, zwei Wesen auseinander zu bringen, die nichts dafürkönnen, dass sie zusammen sind?
Ganz einfach, in einem bestimmten Augenblick spürte ich, es wurde alles um uns entschieden, bis zum Tod. Aber dieses Wort ist nur ein Brauch, wie jede Grenze, die näher oder weiter gezogen oder gar per Gesetz abgeschafft werden kann.
Und was ist die Liebe, wenn nicht das universelle Gesetz der Abschaffung aller Grenzen?
Es ist nicht wahr
nicht „jeder Engel ist schrecklich“
nie hatte ich Angst vor dir
obwohl ich wusste, wer du bist
und ich konnte es kaum abwarten einzuschlafen
um dir näher zu kommen
damit deine Aura mich gierig umschlingt
und mich in Besitz nimmt
wie ein Lichtbogen im Sturm
und sogar jetzt
wenn alles noch schwerer zu enträtseln ist
und die Sinne sich weigern
deine Gegenwart zu melden
nicht ängstlich bin ich, sondern schläfrig
ein leuchtender Nebel
schwingend
ein Hauch
der keine Blätter bewegt.
Ich vermute, dass du auch jetzt siehst
so wie du sehen konntest im Mutterschoß
die finstere, nicht fassbare Wand.
Ich ahne es nur, denn ich habe keine
Erinnerungen aus der Zeit davor
und es macht Unbehagen
wenn ich mir das vorstelle.
Aber nicht was man sieht
sondern dass man sieht
versuche ich zu glauben.
Was gibt es vor und nach
der unsicher gewordenen Grenze
der Sinne
oder außerhalb von Anfang und Ende
meines einfältigen Alphabets ...
Ich habe mich gefragt, was ich dir sagen würde
wenn du zurückkämest
und ich beschloss für dich nicht Worte
sondern Bilder zu bereiten.
Ich möchte, dass du siehst
wie die Wipfel der Bäume am Fenster
den Himmel ausschneiden
bevor es dunkel wird;
und schau diesen Strauch mit blutroten Blüten
zwischen Dornen
neben dem du in einem Foto lächelst;
oder die Landschaft mit frisch gemähten Wiesen
und spitzen Heuhaufen
die wir aus dem Zug sahen
auf der Rückkehr von Sighet ...
Unfassbare Nachrichten
geheime Botschaften des Unaussprechlichen
Beweise für die endgültige Wahrheit
dass den Liebenden
die Blicke reichen.
Die Blätter fallen ...
Gibt es auch bei euch Jahreszeiten?
Gefallen sind sie schöner
als hängend am Baum.
Sie glimmern
vom Tod entfacht
wie vom Flackern der Kerzen
ein Dom.
Die Blätter fallen
das Universum anzündend
mit räuberischer Aura
von parallelen Welten.
Gibt es auch bei euch Jahreszeiten?
Ist selbst Schönheit dort ein Pogrom?
Gedämpfte Stimmen von Blättern
wunderbar, dass ich nicht verstehe
was sie miteinander sprechen
wie auch meine rätselhafte Stimme
manche erfreut, die sie hören
ohne sie zu verstehen:
so wie du selbst vielleicht
unbemerkt sprichst
ohne die Hoffnung, gehört zu werden
an diesem Ufer mit parallelen Klängen
und Freuden, die einander nicht brauchen.
Erst mit dem Tod beginnt alles.
Aber wir wissen nicht was.
Und deshalb verwechseln wir lieber
das Mysterium mit dem Nichts.
Nur wenn jemand, den du liebst –
ein Teil von dir
die Trennlinie überschreitet
erhellt sich alles blitzartig
und du siehst den Weg
der dort anfängt
und so lang ist
dass du nicht ahnst
wohin er führt –
es zählt nur
dass er von neuem beginnt.
„Ich möchte, dass wir gleichzeitig sterben“, sagtest du und ich lachte: „Findest du es gut, dass ich sieben Jahre weniger leben soll als du?“ Aber deine Antwort war ernst: „Wie würden wir uns sonst treffen, um ewig zusammen zu bleiben?“ Die Logik war so überzeugend, dass ich mehr spaßeshalber einverstanden war, dass es gut sei, zusammen zu sterben.
Jetzt frage ich mich mit deinem Ernst von damals, wie könnten wir uns noch jemals treffen, wo und wie könnte ich nach dir suchen, in der Jenseitswelt. Die einzige Chance wäre, dass du an der Grenze auf mich wartetest, aber ich kann dir nicht sagen, wann ich komme, und ich bin nicht sicher, ob man dir erlauben würde, ohne eine Frist dort zu bleiben.
Am wahrscheinlichsten werden wir uns im Chaos ewig suchen, so wie wir uns auf der Erde gesucht haben, bis wir das Glück hatten, uns zu begegnen.
Wie von Gedanken, die man nicht aufschreibt,
nur eine dumpfe Spur in Erinnerung bleibt –
wie von einem Fuß
im Sand, der ihm Schutz gab
so prägt sich unser Übergang durch Buchstaben
nur in die Substanz derer ein, die bald nicht mehr sind.
Was für eine fragile Nachwelt!
Manchmal stelle ich mir vor
wie Manuskripte
nicht anders als Laub
im Kompost
nützlich verfaulen
Ich frage mich oft, ob das, was du hier wusstest, dir dort,
wo du jetzt bist, etwas nützt, oder ob du alles neu lernen musst, wie das Neugeborene, das noch nicht gehen und sprechen kann.
Vielleicht muss man, um in die andere Welt zu kommen, nochmals geboren werden (auf die Welt kommen, heißt doch geboren werden) und so wie wir uns hier nicht erinnern, wie es vor der Geburt war, erinnerst du dich drüben an nichts von der Welt, die unsere war.
Und die noch meine ist.
Warum lässt er mich nicht schlafen?
Was verbindet sein lebloses Gesicht am Himmel
wie eine hingeworfene Münze auf dem Asphalt
und die Sturheit, mit der ich wie ein Bergarbeiter
zu den Gottheiten der Unterwelt steige?
Woher kommt die Macht seines fremden Lichtes
das mich zwingt, wach zu bleiben am Ufer
während der Fluss des Schlafs
glücklich in deine Richtung fließt
und ich mich auflöse
unter der bleiernen Last der Ermüdung
durch hellwache Gedanken auf dem Papier
in Verse gesetzt wie die Psalmen
während du, sternklarer Herr,
im ewigen Schlaf nach mir suchst.
Immer
träumte ich davon allein zu sein
weil stets zu viele Menschen
um mich herum waren.
Nur du warst ich.
Nur du hast auf die Mehrzahl verzichtet
auf das Maßlose in uns
nur du wusstest eine Einsamkeit zu bauen
in der wir beide Platz hatten.
Im Handy deine Fotos aus einem Frühling. Ich erinnere mich an den Tag, als ich sie geknipst habe, damit wir die unbändige Blütenexplosion der Bäume nicht vergessen. Ein trotziges Weiß überwältigte uns in der Luft, während aus der Erde die Farben der Narzissen, der Forsythien, der Hyazinthen, der Tulpen, des roten Strauchs aus Târgovi?te sprühten.
„Es reicht nicht glücklich zu sein“, sagte ich, „wir müssen bewusst glücklich sein. Wir sind glücklich, sag mir nach, wir sind glücklich.“ Und du hast wiederholt: „Wir sind glücklich“, mit einem so unendlich traurigen Lächeln, als wäre das Glück eine Tragödie, die die Schönheit noch verschlimmerte.
Ich schaue deine Fotos von damals im Handy an, ich zoome sie ganz nah heran, indem ich meine Finger auf deinem Gesicht bewege, dich streichelnd, bis das ganze Bild nur ein Auge ist: in der Pupille, versteckt wie ein krankes Tier, die Vorahnung.
Nichts bleibt wie es ist
der Tod ist nicht wie er scheint
ein Erstarren, ein Halt.
Das Verschwinden hier ist ein Erscheinen
anderswo mit anderem Sinn.
Immer in Bewegung
das Sein und Nichtsein
verknüpfen sich
unterwegs
und wie auf schiefer Ebene
landest du in anderer Welt
wo du nicht stehenbleibst
vor dem weltköniglichen Tor
sondern unaufhörlich weiter
immer erstaunter
herabgleitest.
Dein Lächeln auf dem Foto über dem Fernseher
wie auf einer Zeitkarte:
der Bildschirm ist die Gegenwart
und du die Vergangenheit und die Zukunft.
Die Ären finden auf einmal statt
die Nichtigkeit gibt der Ewigkeit Sinn
dein Lächeln einrahmend
auf dem Foto über dem Fernseher.
So wie irgendwo in Afrika die Urmenschen das Feuer anbeteten, das sie selber angezündet hatten, erfinde ich dich und dann rede ich mit dir.
Ich bitte dich um Ratschläge, auf die ich nicht höre, ich gebe dir meine Manuskripte zu lesen und ändere danach nichts.
Wichtig ist, dich in der Nähe zu spüren, nachdem ich vergesse, dass ich dich selbst erfand.
Wenn du gezwungen wirst, wie ich vermute,
die Lethe, den Fluss des Vergessens,
zu überqueren
wirst du zu mir schauen
ohne mich zu sehen
und mich hören
ohne zu verstehen
was die Silben
– zufällig zusammengewürfelt –
bedeuten.
Es wird für dich so sein
als ob nicht du tot wärest
sondern ich starb.
Eine Wendung
bei der nur mein Erbe
der Schmerz ist.
Wie ein Dschungel
wo Vögel und Wildtiere
aus den Erinnerungen wachsen
die du vergessen hast.
Erinnerst du dich, als du Sequoiasamen in die Erde gesetzt hast, von diesen masochistischen Mammutbäumen, die über tausend Jahre alt werden und die man quälen muss, damit sie wachsen? Die Menschen helfen dabei, indem sie in ihre Stämme hineinbohren und dann die Löcher mit Glut füllen, und sie fühlen sich wohl mitten in den Flammen, die ihnen keinen Schaden zufügen.
Erinnerst du dich, wie du die mysteriösen Riesensamen in der Erde begraben hast, als wären sie durch den Zoll geschmuggelte Behälter für den Transport von Schmerzen.
„Willst du solange warten, bis sie tausend Jahre wachsen?“ fragte ich dich.
Und du hast geantwortet:
„Warum nicht?“
Der Schlaf ist der geheimnisvolle Weg,
der die Leben verbindet:
das Leben vor der Geburt
mit dem nach dem Tod
und dem jetzigen.
Der Schlaf der Lebenden besteht
aus kleinen Sterbesplittern –
aus dem Schlaf der Toten
könnte man wieder ins Leben
und der Schlaf vor dem Sein
ist der Mörtel zwischen Äonen.
Die drei Leben verständigen sich
nur durch den Schlaf.
Bring mich zum Schlafen
sternheller Herr
lass uns lebensfrei
das Dunkel entfachen
und beide einkehren
ins ursprüngliche Nichtsein
um träumend
unendlich zu wachen.
Es gibt ein Gesetz – das Gesetz Babinet-Mayer – das besagt, dass die Flüsse der nördlichen Hemisphäre in das rechte Ufer beißen und den Bodensatz zu ihren linken Ufern tragen, oder umgekehrt, aber es ist belanglos, wichtig ist nur, dass sie sich langsam von links nach rechts bewegen oder umgekehrt, ohne dass wir etwas merken oder ahnen.
Wie kann ich noch wütend sein, dass ich dich nicht mehr finde, wenn selbst die Flüsse umziehen? ...
Das Rascheln der Blätter wie Gedankengeflüster –
ich bin nicht sicher, ob du es hörst
es sei denn, es hallt auf der Erde
in den regennassen Fußspuren nach.
Ich bin nicht sicher, ob es dir um die Vögel
die Schmetterlinge, die Zweige noch geht
und ob die ewige Rückkehr des Meeres
für dich heute noch zählt.
Vielleicht zwingt man dich dort zu löschen
die Lichtzügel, die uns noch binden
dass ich dich nicht mehr anspanne
in unserer leibeigenen Liebe.
Vermutlich ist nicht die Leidenschaft
die Kraft, die die Sterne bewegt
sondern mit gedrehtem Kopf
eine Statue aus Salz unter Sterblichen ...
Warum es anstatt zu dunkeln
hell wird
ein milchiges Licht verwischt
die Umrisse
und selbst wenn ich dich
noch unter ihnen ahne
wie weiß ich, ob nicht vergebens?
Sag mir, ob ich jemals verstehen kann
ob man mir erlaubt
es zu verstehen
dass wir ohne uns zu sehen
zu derselben Zeit gehören
zum selben Limbus
als Teile des Ganzen
wo die Dunkelheit Licht ist
viel zu stark, um uns zu gestatten
hinein zu schauen
während Vergangenheit und Zukunft
Samen im selben Kern sind.
Wir sind einsam
so wie wir es hier immer waren
glücklich, dass wir allein sind
voller Angst vor den Gästen
besessen von Schreiben und Zeitfluss.
Noch nimmst du teil
und bringst mich immer dazu
aus Versehen die Mehrzahl zu verwenden.
Aber es ist vielleicht gar kein Fehler
sondern die Quintessenz der Einsamkeit.
Ich kann nicht beten
weil ich weder betteln
noch huldigen kann
und ich bin nicht sicher
ob zwischen uns
die Worte Sinn machen.
Lieber neige ich den Kopf
ohne Gnade tief in den Nacken
meine Augen in deinen
Pantocrator!
Jede meiner Gebärden
wird umschattet von einer Lichtaura
die ich ahne, ohne sie zu sehen.
Ständige Umarmung
von jemandem, der mir gleicht
der meine Umrisse umschlingt
und mich wärmt.
Findiger Einfall
damit du mich nicht verlässt...
An den Feiertagen erscheinst du mir noch näher.
Gibt es auch bei euch Feiertage?
Oder du kommst einfach
um mich nicht allein zu lassen
wenn andere sich freuen ...
Dein Lächeln schwebt durch das Zimmer
wie ein Sonnenfleck
den die Katze ahnungsvoll
unruhig verfolgt.
Als ich klein war, hatte ich, wie viele andere Kinder, einen erfundenen Freund. Nur ich konnte ihn sehen.
Es war ein kleiner Bär, mit Weste, Krawatte und einer karierten Hose, daraus kamen, aus braunem Plüsch ausgeschnitten, der Kopf und die vier kurzen Beine hervor.
Dass er für alle anderen unsichtbar war und, während wir miteinander sprachen, niemand außer mir seine Worte hörte, machte ihn nicht fragwürdig, im Gegenteil. Er gehörte nur mir. Ich konnte nachts nicht schlafen, ohne ihm „gute Nacht“ zu sagen, ich konnte nichts essen, was ihm nicht schmeckte.
Warum wäre heute makaber, was damals ein wunderbares Spiel war? Dass die Nachbarn durch die Wände meine Stimme allein hören, scheint mir ein zusätzlicher Beweis, dass wir ein einziges Wesen sind.
Die Worte taumeln im Kelch
des Schädels – andauernd
wiederholt monoton
bis der brennende Sinn
erfriert – im Kanon.
Während die Stunden, die Tage, die Jahre
zuerst der Schuld unterworfen
ihre Samen aussäen
und taumelnd besessen
im gescheiterten Rhythmus
grundlos verrinnen.
Ich habe alle Fragen
immer zu spät gestellt
wenn diejenigen,
an die sie sich richteten,
nicht mehr antworten konnten.
Ich weiß nicht mehr, warum ich sie immer verschob.
Aber vielleicht verschob ich sie nicht
sondern die Fragen entstehen erst
wenn es niemanden mehr gibt
der sie beantwortet.
Ich habe in vielen Büchern
von den Wundern gelesen
die stattfinden können
über die stumpfen Regeln des Lebens hinaus
was dazu führte, dass viele Menschen
in meiner Lage versuchten
nicht für immer Abschied zu nehmen.
Sag doch etwas!
Lerne die Inbrunst
mit der man hofft
sich im Traum zu retten.
Ein Wort wenigstens
damit ich eine Brücke baue
zwischen meiner festen Erde
und deinen Silben aus Wasser:
Flüsse zu einem Ufer, an dem
sie im Meer untergehen.
Wo bist du eigentlich?
Gewiss meine ich nicht das Lächeln im Foto über dem Fernseher und auf gar keinen Fall den Blumenberg, der auf dem Stein Flecken hinterließ. Was ich wissen will ist, woher kommst du, wenn ich dich rufe, und wohin kehrst du zurück?
Sollte ich versuchen diesen Ort in den Büchern zu finden, so wie sich ihn die Ägypter und die Griechen vorstellten? Aber es würde mir schwerfallen, an dich zu denken, wie an eine Ziffer aus einer Menge aus Theben oder Eleusis, ich möchte dich im Traum allein finden.
Macht nichts, wenn du es mir nicht sagen darfst, es war bloß eine einfache intellektuelle Neugier.
Wohin entfliehen die Stunden?
Sie haben eine verdächtige Art
sich davon zu schleichen
sich der Aufmerksamkeit zu entziehen
indem sie einfach verschwinden.
Aber was heißt verschwinden?
Wie kann etwas, was es gibt
nicht mehr sein
als wäre es nie gewesen?
Wo gehen die Stunden auf einmal hin
und vor allem, wo kommen sie her
wie Barken aus Papier
sanft gleitend
auf einem Meer mit auswendig
gezeichneten Wellen.
Ich habe Silvester wie immer nur mit dir verbracht. Und wie gewöhnlich haben wir viel geredet, vor allem ich.
Wir haben am Fenster dem Feuerwerk zugeschaut, und ich habe mich gefragt, warum sich Menschen verpflichtet fühlen, in dieser Nacht fröhlich zu sein.
Dann war ich müde und verschwand in dir wie in einem Meer.
„Gute Nacht, süßer Prinz. Morgen früh beginnt eine neue Ära, in der nur ich weiß, dass es dich weiterhin gibt“ ...
Licht auf Licht bleibt unbemerkt
ich sende Zeichen in die Helligkeit
aber die Strahlen bestechen mich
mit Sonnenmünzen in bar.
Die Augen tun mir weh von so viel Glanz
deine Gestalt kann ich jetzt nicht mehr ahnen
obwohl ich weiß, du bist ganz gegenwärtig,
zerschmelze ich im gnadenlosen Licht.
Ich will zurück, aber ich weiß nicht wie
aus sengender Unendlichkeit, wo du
daheim bist – ich noch unterwegs
vom Schatten träumend, der mich kühlt
in meinem noch rettenden Jetzt
das ich dir widme voller Furcht.
Es schneit!
Also werde ich dich sehen
weil deine unsichtbare Silhouette
unter dem Schnee Form annimmt.
Bleib stehen, ich flehe dich an
damit der Schnee sich
auf die Schultern auf den Kopf und in die Haare setzt.
Ich will dich nur sehen
wahrhaftig.
Ich weiß, ich darf dich nicht streicheln
denn unter meiner warmen Hand
würde dein Schneeumriss schmelzen.
Es schneit aus gefrorener Urzeit
und es badet uns klirrende Kälte
in zärtlichem Untergang.
Dein unerträgliches Leben in den Tagebüchern
erschreckt mich, obwohl ich die Ereignisse kannte –
wie das gepeinigte Gemüt deiner Mutter
insgeheim jedes Licht verbannte.
Als sammelte die Ameisenkönigin nur das Gift
der Kornrade, spürtest du nicht das unendliche Glück.
Die Qual gebar sich unermüdlich wieder
und kehrte gieriger noch zurück.
Wie das Wasser unter dem Ölschleier erstickten
Liebe und Freude im traurigen Spiel.
Den Schmerz in Gedanken zu zergrübeln
wurde dir niemals zu viel.
Von Kindheit an haben deine Worte
einander zerfleischt – lebenslang
alles klein abgemessen ohne zu begreifen
den gigantischen Meeresklang.
Ist das Wort Liebe nicht etwa
zu allgemein, zu vage
und unscharf für was uns widerfuhr?
Es passte vielleicht damals
als es um zwei Lebende ging
die sich einander im Sturm näherten
ohne zu ahnen
was ihnen die Zukunft bringt
nur dass alles beiden geschieht.
Aber jetzt nach Jahrzehnten
wenn es keine Abweichung mehr gibt
nicht einmal unsichtbare Trennlinien
und weil jede Seele nur einzeln sein kann
jetzt noch zu sagen ich liebe dich
ist eine Abgrenzung
die den Unterschied unterstreicht
den die Gedanken nicht mehr fassen
ein Rückzug
aus dem einzigen Wesen, das fähig ist
uns beide zu verkörpern –
als würden wir hartnäckig wissen wollen
wer von uns beiden starb.
In die Kluft unerwartet geöffnet im Himmel
bist du aus Versehen gestürzt –
unter meinen verwunderten Blicken
begannst du dich zu erheben
um immer unsichtbarer zu werden
in der hohen Lichtspalte
aus der du mich mit Sicherheit
auch nicht mehr siehst.
Man kann nur in der Gegenwart sterben
man stirbt nicht in der Vergangenheit
nicht in der Zukunft.
Zufällig trittst du aus der Zeit
wie durch eine durchsichtig gewordene Wand
unbemerkt von dir selbst
und dann
weißt du nicht mehr
den Weg zurück.
Oder es zieht dich nichts mehr her.
Ich sehe wie du dich entfernst
immer gleichgültiger
angstfreier
mit immer langsameren Schritten
in der neuen Gegenwart hallend
wie in einer Kathedrale ...
Es starben die Großeltern, die Eltern
Freunde starben uns weg –
wir waren Zuschauer.
Es war etwas, was immer
anderen geschah
und phantasielos
versuchten wir nicht einmal im Spiel
uns an ihre Stelle zu versetzen.
Weder du noch ich
als es uns dann passierte
haben wir daran geglaubt.
Wir warteten, dass es aufhört.
Oder vielleicht warte
nur ich darauf.
Du verstehst, was es bedeutet?
Verstehst du jetzt?
Wenn du weiterhin BIST -
wie durchquert man
die endlose Zeit?
Wenigstens :
was ist der Unterschied
wenn es eindeutig
nicht mehr um das
nackte
sein oder nicht sein geht?
Nichts existiert, was nicht geschrieben wurde
Ana Blandiana ist eine der bedeutendsten lyrischen Stimmen der Literatur im Europa der Gegenwart. Im deutschsprachigen Raum wurde sie besonders wegen ihrer mutigen Haltung während der rumänischen Revolution 1989 und ihrer aktiven Rolle bei der Demokratisierung des Landes bekannt. Die ersten 47 Jahre ihres Lebens hat sie unter der kommunistischen Diktatur Rumäniens verbracht. Aber trotz dieser Erfahrung bestätigt ihr Werk die Hoffnung aus dem bekannten Gedicht Hölderlins Brot und Wein, dass sogar „in dürftiger Zeit“ Dichter „wie des Weingotts heilige Priester ... nicht eitel erdacht“, sondern „mit Ernst“ schreiben können. Schon früh wurde Blandianas Gedichten, wegen der „euphorisch-sinnlichen Begeisterung vor dem Mirakel des Lebens und ihrer Solidarität mit dem Universum“, eine „dionysische Disposition“ nachgesagt. Mit Hölderlin verwandt sei die Nostalgie nach der Rückkehr der Götter (eigentlich eine Verschmelzung von Dionysos und Christus) als poetisches Prinzip.
Ihr Essayband, der 2018 unter dem Titel Wozu Dichter in dürftiger Zeit? ins Deutsche übersetzt wurde, wie auch ein Hölderlin gewidmetes Gedicht belegen, dass Blandiana die Frage des deutschen Dichters noch immer beschäftigt. Ihre Schlussfolgerung: „Wenn die Welt von den Dichtern geschaffen worden wäre, sähe sie ganz anders aus“.
Dass Dichtung eine Gesellschaft oder gar die Menschheit heilen kann, ist eine romantische Idee, die durch die Doktrin eines sozialistischen Realismus unterdrückt wurde. In einem Interview sagte die Autorin in Bezug auf den damaligen Pakt mit der Macht, ihre Generation habe sich „von der vorherigen besonders darin unterschieden, was sie nicht mehr zu tun bereit war.“
Es gibt keinen wahrhaftigen Dichter, der sich nicht mit dem Sinn der Dichtung befasst oder sich nicht der Verantwortung gegenüber dem Wort stellt. Das Thema der Selbstopferung als Preis für gelungene Kunst erscheint schon in einem Jugendgedicht der Auto-
rin:
Wenn ich meinen Körper im alten Winterwind ablegen und nur
das heidnische
Gehör behalten könnte, um euch, reine Klänge, zu lieben ...
Wie werden die zerrissenen Stücke aus mir als Nahrung für dich,
Kunst,
deinen jungen Wolfsleib veredeln!
(Konzert)
Wie Orpheus, dessen Körper von den lebensgierigen Mänaden getötet wurde, will hier die Dichterin den ultimativen Preis im Dienst der Poesie zahlen. Die dionysische Trunkenheit des Wortes ist für sie das Mittel, um das sinngebende apollinische Licht der Kunst zu entfachen. Es geht um die „hohe Beute“, wie Peter von Matt die Vollkommenheit in dem Gedicht nannte, das der Mensch wie das Paradies erschuf, um seine existenzielle Vergänglichkeit ertragen zu können.
Blandianas Lyrik gelingt es, die Grenzen zwischen dem irdischen Dasein und dem unergründlichen Universum metaphorisch aufzuheben, ohne die unmittelbare Realität abzuwerten, denn nichts ist profan, alltäglich. Kein einziger Schritt barfuß im Gras bedeutet nur die vorübergehende Berührung der Natur:
Ich unterwerfe mich dem Gras
das mich von der Unruhe
die ich selbst bin
erlöst
und mir nur die nackten Füße
im Tau erlaubt
durch die du in mir steigst
und mich austauschst.
(Exorzismus.)
Die Dichterin erzeugt eine umgekehrte Apokalypse als eine Rettung durch die reinigende Kraft des Schnees:
Für euch habe ich die ganze Nacht über die Stadt geschneit
für euch machte ich alles weiß die ganze Nacht. O, wenn ihr
wüsstet, wie schwer es ist zu schneien!
Kaum wart ihr eingeschlafen und ich stieg in die Luft.
Es war dunkel dort und kalt. Ich musste fliegen,
bis zu dem einzigartigen Punkt,
wo ein Sog Sterne um sich selbst drehen lässt und löscht ...
Es wird nach mir noch gewaltiger schneien
und all das Weiß der Welt fällt über euch.
Versucht doch sein Gesetz jetzt zu verstehen ...
Die Erde wird in den Sternenstrudel dringen
wie eine Sonne aus glühendem Schnee ...
(Elegie am Morgen)
Das Gesetz ist das Geheimnis, das nur die Poesie dem Kosmos entlocken kann. Aber Dichtung ist ein platonisches Erinnern, denn „nicht das, was man noch nicht wusste, ist wichtig, sondern das, was wir wie aus einem anderen Leben schon immer wussten. Poesie ist nicht Erkenntnis, sondern Wiederkennen“ .
Variationen über ein gegebenes Thema (2018), Blandianas neuester Gedichtband, beinhaltet Liebesgedichte. Die sprachliche Alchemie schafft so viel Kohärenz, dass man die poetischen Texte als ein einziges umfangreiches Gedicht lesen kann. Das Buch ist eine Besonderheit. Man hat in ihrer Lyrik die Abwesenheit (Nicolae Manolescu, Eugen Simion) oder mindestens eine Euphemisierung des Eros bemerkt: „Nicht um die eigentliche Liebe, nicht um die Sinnlichkeit oder die wolllustige Chemie des Körpers geht es in der blandianischen Lyrik ...“
Hier jedoch erfindet sich die 73 Jahre alte Dichterin neu. Durch die Metaphorik der Liebe baut sie eine ontische Brücke zwischen Leben und Tod, um die Verbindung mit dem verstorbenen Ehemann aufrechtzuerhalten.
Die schon erwähnte orphische Haltung aus jüngeren Jahren brachte sie in ein Dilemma der Identität:
Was will ich sagen? Lohnt es sich?
Was schmerzt genug, um es zu schreien?
Das Lied singen, das sogar
Raubtiere zähmt -
als Orpheus oder als Eurydike
stottere ich vor der Welt?
(Wo ist der Stolz?)
Doch jetzt wird Eurydike selbst die Reise in die Unterwelt unternehmen, um Orpheus zurück zu holen. Literarisch einmalig in dieser Form, ist dieses Experiment eine Erfahrung der künstlerischen Selbstfindung.
Liebesgedichte, die jemandem gewidmet sind, der nicht mehr am Leben ist, gehören meistens zum literarischen Ritual männlicher Autoren, die – wie Petrarca, Dante, Novalis und in der neueren Zeit Antonio Machado – eine frühgestorbene ewig Geliebte betrauern und diese zur Muse ihres ganzen dichterischen Schöpfens machen. Auch das Thema der sehr späten und unerfüllten Liebe für eine kindlich-weibliche Gestalt, die das Herzfeuer des bejahrten Dichters zum letzten Mal entfacht, wie es Goethes umstrittene Marienbader Elegie oder das glühende Gedicht Dono (Geschenk) von Ungaretti bezeugen, erreichte manchmal Höhepunkte der lyrischen Intensität.
Else Lasker-Schüler war 74 als ihr Gedichtband Mein blaues Klavier 1943 erschien. Sie schrieb hochkarätige Gedichte über die unerfüllte Liebe.
Dass Blandiana den Mut hat, Gedichte über eine Liebe ohne Liebeskummer zu schreiben, hat mit der Vorstellung zu tun, dass für sie erfüllte Liebe eine Form der Erkenntnis ist:
Ganz sein – die Ganzheit sein.
Du und ich, ungeteiltes Licht
das den Gott neu erfindet -
fähig sich selbst zu befruchten.
(Ganzheit)
Die platonische Metapher der Kugelmenschen bedeutet für die Dichterin nicht nur das einzig mögliche irdische Liebesglück, sondern auch die Vollkommenheit der Welt. Die Liebe ist das Mittel, um zur ursprünglichen Ganzheit zurück zu gelangen, wie es in einem ihrer schönsten Gedichte heißt:
Unsere Knochen wuchsen längst zusammen
das Blut bringt Klänge
von einem Herz zum anderen ...
Wir haben vier Arme um uns zu verteidigen
aber ich kann nur den Feind vor mir schlagen
und du nur den Feind, der vor dir steht
wir haben vier Füße zum Laufen
aber du kannst nur in deine Richtung gehen
und ich nur in die andere.
Jeder Schritt ist ein Kampf auf Leben und Tod ...
Sterben wir gemeinsam oder wird einer von uns
eine Zeit lang
den Kadaver des anderen
eingewachsen im eigenen Körper tragen
und zu langsam mit dem Tod angesteckt?
Oder er wird nie völlig sterben
sondern die süße Last des anderen
durch die Äonen tragen
abgezehrt wie ein Buckel
wie ein Muttermal ...
(Paar)
Der physische Tod des geliebten Mannes wird in einem einzigen Gedicht mit schwarzer Tinte skizziert. Der leblose Körper ist nur „ein abgeworfenes, zerknittertes Kleid“, dessen Funktion es war, den Menschen vor den Augen anderer sichtbar zu machen, was ein ungewöhnlicher aber poetisch tragbarer Vergleich mit The invisible Man zeigt:
Dich sah man nicht
weil wie in dem Roman von Wells
nur dein Kleid dich sichtbar machte
und nur der Schnee auf deine Schulter
auf deinen Kopf fallend
deine Gegenart verraten hätte.
Aber es schneite nicht in der Kirche.
(Ich wusste, es war nur ein Kleid)
In einem vorzüglichen Gedicht über die Unerreichbarkeit verdeckt und offenbart der Schnee zugleich, wie eine Aura des Unsichtbaren, das geheimnisvolle Wesen der Liebe:
Es schneit!
Also werde ich dich sehen
weil deine unsichtbare Silhouette
unter dem Schnee Form annimmt.
Bleib stehen, ich flehe dich an ...
Ich will dich nur sehen
wahrhaftig.
Ich weiß, ich darf dich nicht streicheln
denn unter meiner warmen Hand
würde dein Schneeumriss schmelzen.
Es schneit aus gefrorener Urzeit
und es badet uns klirrende Kälte
in zärtlichem Untergang.
(Es schneit!)
Wie der Einfall, durch den Schnee den Körper sichtbar zu machen, funktioniert auch die Metapher des Toten als Lichtaura, die als Umarmung für die Zurückgelassene spürbar wird:
Jede meiner Gebärden
wird umschattet von einer Lichtaura
die ich ahne, ohne sie zu sehen.
Ständige Umarmung
von jemandem, der mir gleicht
der meine Umrisse umschlingt ...
Findiger Einfall
damit du mich nicht verlässt ...
(Jede meiner Gebärden)
Weil der Tote nicht mehr anwesend ist, schrieb auch Fernando Pessoa in Das Buch der Unruhe von einem „verlassenen Anzug“: „Jemand ist abgereist und musste diese einzigartige Kleidung nicht länger tragen.“
Für Blandiana führt die Reise des Verstorbenen in die Zeit vor dem Leben, die für noch Lebende unerreichbar bleibt:
Ich ahne es nur, denn ich habe keine
Erinnerungen aus der Zeit davor ...
Aber sie glaubt, dass der Tote, der sich auf einem initiatorischen Pfad befindet, mehr wissen muss über die Mysterien des Kosmos:
Ich vermute, dass du ... jetzt siehst
die finstere, nicht fassbare Wand ...
Was gibt es vor und nach
der unsicher gewordenen Grenze
der Sinne
oder außerhalb von Anfang und Ende
meines einfältigen Alphabets ...
(Ich vermute, dass du auch jetzt siehst)
Auf der Suche nach ihm erreicht diese ungewöhnliche Eurydike seinen jetzigen „Wohnort“: das zeitlose Licht. Hängengeblieben jedoch zwischen zwei Welten, kann sie weder vor noch zurück. Großartig in diesem Gedicht über den Schmerz der menschlichen Begrenztheit ist die qualvolle Vorstellung der Unendlichkeit.
Die Augen tun mir weh von so viel Glanz
deine Gestalt kann ich jetzt nicht mehr ahnen
obwohl ich weiß, du bist ganz gegenwärtig
zerschmelze ich im gnadenlosen Licht.
Ich will zurück, aber ich weiß nicht wie
aus sengender Unendlichkeit, wo du
daheim bist – ich noch unterwegs
vom Schatten träumend, der mich kühlt
in meinem noch rettenden Jetzt
das ich dir widme voller Furcht.
(Licht auf Licht bleibt unbemerkt)
Da die physische Trennung unüberwindbar ist, kommt der Zweifel auf, ob diese ungewöhnliche Fernliebe noch eine Zukunft hat:
Vielleicht zwingt man dich dort zu löschen
die Lichtzügel die uns noch binden
dass ich dich nicht mehr anspanne
in unserer leibeigenen Liebe.
Vermutlich ist nicht die Leidenschaft
die Kraft, die die Sterne bewegt
sondern mit gedrehtem Kopf
eine Statue aus Salz unter Sterblichen ...
(Das Rascheln der Blätter wie Gedankengeflüster)
Eine Möglichkeit der Begegnung bleibt trotzdem der Traum, denn dieser ist seit je ein Kommunikationsmittel zwischen der profanen Welt und dem geheimnisvollen Mundus. „Die Welt wird Traum, der Traum wird Welt“ heißt es bei Novalis. Für die meisten Romantiker war das Träumen eine Schule der Erkenntnis. Ein Dichter wie Léon-Paul Fargue gestand sogar: „Ich habe so viel geträumt, dass ich nicht mehr von hier bin.“ Für Claudel ist der Traum eine Chance, in tiefere Bereiche einzutreten: „Bevor ich die Augen wieder öffne, weiß ich alles auswendig“. Traumdeutung gibt es schon im Gilgamesch-Epos und bei Homer, seit Freud werden Träume psychologisch untersucht.
Aber Blandiana stellt sich ein Treffen außerhalb von Zeit und Raum durch den Traum vor, indem sie und der verlorene Mann gleichzeitig voneinander träumen:
Was wäre, wenn wir uns vornähmen
gleichzeitig voneinander zu träumen
als würden wir uns im Traum treffen?
Wieso habe ich nicht schon früher
an diesen Kompromiss gedacht?
Es genügt die Zeit und den Ort
unserer Begegnung festzulegen ...
auf der zarten Schneide zwischen den Parallelwelten
einer Klinge, die schreibt und tötet
und tief bis zum Griff in der Liebe steckt.
(Was wäre, wenn wir uns vornähmen)
Es wäre auch denkbar, dass der Vermisste eine Gestalt annehmen darf, um die Alleingelassene von Zeit zu Zeit zu besuchen.
Entsprechend der europäischen Tradition der Glaubensmythen von der Antike bis heute ist als Besucher aus dem Jenseits der Engel am besten geeignet.
Verwandt mit dem altgriechischen Daimon oder Genius, als Zwischenwesen, das weder Mensch noch Gott ist, aber über Elementarkräfte verfügt, stellt dieses Symbol eine Vielfalt an Erscheinungen dar. Eine erste Quelle für die Lyrikerin ist Zburatorul, ein archaischer rumänischer Volksmythos, der auch das romantische Meisterwerk Luceafarul (Der Abendstern) von Mihai Eminescu inspiriert hat. Es handelt sich um ein phantastisches Wesen, gefiedert und mit goldenen Schuppen, das in Gestalt eines schönen Mannes in Erscheinung tritt und über die Kraft verfügt, Frauen im Traum zu verführen. Aber Eminescus symbolische Figur, die die ganze rumänische Literatur prägen wird, war gleichzeitig ein Genius, der über verborgenes Wissen verfügte wie die Götter, ohne allerdings einer der ihren zu sein. (Auch in Platons Symposion ist der beflügelte Eros kein Gott, sondern ein Daimon.) Die Dichterin lässt sich auf diese Faszination ein:
Bring mir bei, wie mich deine Finsternis
zum Lodern bringt
in dem brutalen Licht
lehre mich, dunkel zu brennen
bilde meine Flamme
nach der Form deiner Flügel
und reinige sie von jeglicher Farbe ...
(Bring mir bei, dunkel zu brennen)
Das dämonische Wesen verschmilzt mit dem Schutzengel. Beide werden jedem Menschen seit der Geburt zugesprochen und begleiten ihn, bis er stirbt: „Es wird gesagt, dass, wenn ein Mensch gestorben ist, der Daimon eines jeden, der ihn während seines Lebens zugelost erhalten hat, diesen nach der Stätte führe, wo die Seelen abgeurteilt werden“ (Platon, Phaidon, 107d).
Die sparsame Idee in einem Gedicht, dass Liebende sich einen und denselben Engel teilen könnten, führt durch den Tod einer der beiden in ein Dilemma:
Ich erinnere mich, dass ich mich einmal fragte
ob wir zwei Schutzengel haben.
Da wir immer zusammen sind,
wäre es bloße Verschwendung.
Einer für uns hätte genügt.
Es kam mir nie in den Sinn
dass wir uns trennen könnten
und so der Engel
gezwungen wäre
zwischen uns beiden zu wählen
oder dass einer von uns verzichten müsste.
(Ich erinnere mich, dass ich mich einmal fragte)
Dass diese ambivalente Gestalt gleichzeitig der verstorbene Mann ist, kann nicht verwundern, denn der Glaube, dass die Toten über spezielle Kräfte verfügen und in Verbindung mit den Lebenden bleiben, hat eine lange Tradition. Durch die antiken Grabinschriften wissen wir, dass spätestens seit dem Hellenismus „die Bezeichnung des Toten als daimon“ üblich war.
Während der Daimon eine undurchschaubare Urkraft verkörpert, stellt der Engel eine direkte Verbindung zu Gott dar. Wie der Name (gr. angelos) sagt, ist er der Bote, der Botschafter.
Da der Tote inzwischen in die Geheimnisse der Schöpfung eingeweiht sein müsste, verspricht sich die Dichterin vom ihm grundsätzliche Antworten:
Sag mir, ob ich jemals verstehen kann
ob man mir erlaubt es zu verstehen
dass wir ohne uns zu sehen
zu derselben Zeit gehören ...
wo die Dunkelheit Licht ist
viel zu stark, um uns zu gestatten
hinein zu schauen
während Vergangenheit und Zukunft
Samen im selben Kern sind.
(Warum es anstatt zu dunkeln)
Oft werden die Fragen jedoch zu spät gestellt, zumal der Sinn gerade darin besteht, dass sie ohne Antwort bleiben:
Ich weiß nicht mehr, warum ich sie immer verschob.
Aber vielleicht verschob ich sie nicht
sondern die Fragen entstehen erst
wenn es niemanden mehr gibt
der sie beantwortet.
(Alle Fragen)
In der modernen Lyrik ist der Engel kein abgelaufenes Motiv.
Es gibt den Engel „mit blutenden Schwingen“ von Nelly Sachs, den havarierten Engel mit „gebrochenem Schulterblatt“ von Else Lasker-Schüler, den Engel mit „kotgefleckten Flügeln“ von Trakl, den Engel, der den Menschen „engelwärts“ lenkt von Rose Ausländer, den „schrecklichen“ Engel von Rilke. Dieser Vorstellung widerspricht Blandiana in einem sinnlichen poetischen Destillat:
Es ist nicht wahr
nicht „jeder Engel ist schrecklich“
nie hatte ich Angst vor dir
obwohl ich wusste, wer du bist
und ich konnte es kaum abwarten einzuschlafen
um dir näher zu kommen
damit deine Aura mich gierig umschlingt
mich in Besitz nimmt
wie ein Lichtbogen im Sturm
und sogar jetzt
wenn alles noch schwerer zu enträtseln ist
und die Sinne sich weigern
deine Gegenwart zu melden
nicht ängstlich bin ich, sondern schläfrig ...
(Es ist nicht wahr)
Der französische Philosoph Michel Serres vergleicht in seinem eigenartigen Buch über Engel die mediale Kommunikation der Gegenwart mit der zwischen den Himmelswesen und Menschen. In beiden Fällen geht es um Botschaften, die schnell und körperlos stattfinden. Wie die physikalischen Kräfte, die benötigt werden, um weltweite virtuelle Verbindungen zu erzeugen, verfügen Engel über unendliche Energien und sind vielleicht Prototypen oder Symbole einer uralten Wunschvorstellung des Menschen.
Als ein besonderes Medium sieht auch Blandiana den Engel alias den Verstorbenen, der die Verbindung zwischen ihr und dem Kosmos herstellt, aber nicht, damit er die göttliche Botschaft zu der Dichterin bringt, sondern weil sie selbst etwas mitzuteilen hat:
Zu dir bete ich jetzt
du bist die Zwischeninstanz ...
Du bist die Rast wo meine Worte
in ein anderes Alphabet übertragen werden ...
und du schreibst meine Worte ab
ohne sie zu verstehen
und leitest sie sachte weiter.
(Zu dir bete ich jetzt)
Es gibt unterschiedliche Hypostasen von Engeln in Blandianas lyrischer Welt: von der poetischen Vorstellung, dass Engel „fallen“, weil sie Früchte an dem Himmelsbaum sind, und folglich auf die Erde prallen, wenn sie reif werden – bis zu den spielerischen, schamfreien:
nackten Engel, durch die Wälder lachend
die Wangen geschmiert mit Tau
die Zähne geschwärzt von Blaubeeren
mit Disteln und Blättern in den Federn verfangen.
(Schaukel)
Die blandianischen Engel neigen dazu, wenn sie altern, ihre göttliche Macht aufzugeben, um sich zu ... vermenschlichen:
Alte Engel, modrig riechend
mit Muff in den feuchten Federn
im schütteren Haar
die Haut rissig von Schuppenflechten ...
Zu traurig für die Verkündigung
zu schwach um das Feuerschwert zu heben
schläfrig lassen sie sich begraben wie Samen ...
mit rheumatischen Schmerzen an den Flügelgelenken ...
immer greiser, menschenhafter.
(Alte Engel)
Während ihrer abenteuerlichen Suche nach dem verlorenen Gatten ist der Mond wie in der Romantik das begleitende Licht. Allerdings ruft er keine träumerische Stimmung hervor, sondern führt, wie in einem früheren Gedicht in „das unerträgliche Licht der Schlaflosigkeit“ von der Angst begleitet, man werde sich nach dem Tod nicht wiederfinden:
Woher kommt die Macht seines fremden Lichtes
das mich zwingt, wach zu bleiben am Ufer
während der Fluss des Schlafs
glücklich in deine Richtung fließt
und ich mich auflöse
unter der bleiernen Last der Ermüdung
durch hellwache Gedanken auf dem Papier
in Verse gesetzt wie die Psalmen
während du, sternklarer Herr,
im ewigen Schlaf nach mir suchst.
(Warum lässt er mich nicht schlafen?)
Es bleibt nur noch die bedingungslose Hingabe an den Geliebten in einer Darstellung ohne Metaphern, die einer Epiphanie gleicht:
Ich kann nicht beten
weil ich weder betteln
noch huldigen kann
und ich bin nicht sicher
ob zwischen uns
die Worte Sinn machen.
Lieber neige ich den Kopf
ohne Gnade tief in den Nacken
meine Augen in deinen
Pantocrator!
(Ich kann nicht beten)
Verlockend ist ein Phantasieexperiment, wobei die Begegnung in einem begrenzten und extra dafür erschaffenen Raum stattfinden soll, während die Zeit sich paradoxal verhält und unendlich
wird:
Wir treffen uns wie in einer hohlen Kugel
aus Seifenwasser
die aufzublasen
mir manchmal gelingt
glänzend, durchsichtig
mit uns darin strahlend vor Glück
und wissend:
es ist nur für ein paar Sekunden.
Alles ist so seltsam
dass wer weiß, ob dort
eine Sekunde
nicht Millennien dauert ...
(Wir treffen uns wie in einer hohlen Kugel)
Manchmal, als wäre der Mann nur in einem fremden exotischen Land, versucht sie, ihm einfache Fragen zu stellen, die aber beängstigend wirken:
Die Blätter fallen
das Universum anzündend
mit räuberischer Aura
von parallelen Welten.
Gibt es auch bei euch Jahreszeiten?
Ist selbst Schönheit dort ein Pogrom?
(Die Blätter fallen)
Die Gegenstände, die dem Verstorbenen gehörten, könnten seine Gegenwart in der Abwesenheit verlängern, wie in einem Gedicht (Der Sinn der Einfachheit) von Jannis Ritsos: „Hinter einfachen Dingen verstecke ich mich, damit ihr MICH findet ...“
Aber bei dem Versuch, eine Kommunikation mithilfe der Dinge herzustellen, wird sie nur von der Traurigkeit des Mannes erfasst:
Aus dem Koffer
mit deinen beschriebenen Blättern
sickert das Licht
wie das Blut
aus einem geschundenen Heiligen.
(Was für ein Glanz strahlt der Schmerz aus!)
Nicht einmal eine ältere Fotographie im Handy macht ihn zugänglicher bei der Berührung des Gesichts: „dich streichelnd, bis das ganze Bild nur ein Auge ist – in der Pupille versteckt, wie ein krankes Tier, die Vorahnung“.
Mit einer Einfachheit, die fast dem Alltag gehört, schafft sie dennoch in einem der schönsten Gedichte dieses Bandes ein Bild, in dem das sonnige Lächeln des Mannes sich im vertrauten Zuhause mit der Hauskatze offenbart:
An den Feiertagen erscheinst du mir noch näher.
Gibt es auch bei euch Feiertage?
Oder du kommst einfach
um mich nicht allein zu lassen
wenn andere sich freuen ...
Dein Lächeln schwebt durchs Zimmer
wie ein Sonnenfleck
den die Katze ahnungsvoll
unruhig verfolgt.
(An den Feiertagen erscheinst du mir noch näher)
Und doch weiß sie, dass sie sich auf ein tragisches Spiel eingelassen hat, dass die Reise in die Unterwelt weder Traum noch Realität war, sondern eine literarische Erfahrung, denn sie kann nicht anders, als über den Geliebten zu schreiben. Aber solange sie über ihn schreibt, schafft sie es, seinen Tod als Realität zu exorzieren.
So wie irgendwo in Afrika die Urmenschen das Feuer anbeteten, das sie selber angezündet hatten, erfinde ich dich und dann rede ich mit dir.
Ich bitte dich um Ratschläge, auf die ich nicht höre, ich gebe dir meine Manuskripte zu lesen und ändere danach nichts.
Wichtig ist, dich in der Nähe zu spüren, nachdem ich vergesse, dass ich dich selbst erfand.
(So wie irgendwo in Afrika)
Man hat eine originelle Dimension des Ethos im Werk Ana Blandianas betont. Aber die Lyrikerin, die seit über einem halben Jahrhundert Gedichte schreibt, ist keine Moralistin, sie möchte nicht den Menschen zugunsten eines höheren Ziels verändern. Sie vertraut der kosmischen Ordnung und erahnt einen Zusammenhang mit dem Sinn der menschlichen Existenz. Wenn es Verfehlungen gibt, sogar von göttlicher Seite, bleibt der Dichterin nur die Macht des Wortes, um die ontische Ungerechtigkeit anzukla-
gen:
Gott der Libellen, der Nachtfalter
der Lerchen und Eulen
Gott der Regenwürmer, der Skorpione
und der Küchenschaben ...
ich würde alles geben um zu begreifen
was du spürtest
als du das Maß der Gifte, der Farben, der Düfte
vorgeschrieben
als du in einen Schnabel das Lied
und in den anderen das Gekrächze gelegt hast ...
ob du Gewissensbisse hattest
einige zu Opfern und andere zu Henkern gemacht zu haben ...
Gott der Schuld, weil du ganz allein entschieden hast
zwischen Gut und Böse
die Waage im Gleichgewicht zu halten
durch den blutenden Leib deines Sohnes
der dir nicht ähnlich ist.
(Gebet)
Offensichtlich will das Gedicht sagen, dass keine göttliche Kraft es schaffen könnte, den Kosmos vor der Zerstörung zu bewahren, wenn es den Menschen nicht gäbe, der als einziger fähig ist, sich aus Liebe zu opfern.
Die Mission des Dichters ist zu schreiben, alles in Worten festzuhalten, aber nicht weil er die Welt verbessern könnte, sondern weil „nichts existiert, was nicht geschrieben wurde“:
Jedes verschwiegene Gedicht, jedes Wort,
das nicht gefunden wird,
bringen das Universum in Gefahr.
(Biographie)
Gleichzeitig weiß die Dichterin, dass auch Gedichte in Vergessenheit geraten. Aber selbst deren Vergänglichkeit ergibt einen Sinn. Mit Humor betrachtet sie die Worte auf dem Papier, die sich wie alles andere der natürlichen Verwandlung unterwerfen:
Wie von Gedanken, die man nicht aufschreibt,
nur eine dumpfe Spur in Erinnerung bleibt –
wie von einem Fuß
im Sand, der ihm Schutz gab
so prägt sich unser Übergang durch Buchstaben
nur in die Substanz derer ein, die bald gewesen sein werden.
Was für eine fragile Nachwelt!
Manchmal stelle ich mir vor, wie Manuskripte
nicht anders als Laub im Kompost nützlich verfaulen.
(Wie von Gedanken, die man nicht aufschreibt)
In einer Zeit, in der die Menschheit biologische und mentale Experimente anstrebt und nicht einmal davor zurückscheut, mit Hilfe von riskanten Technologien eine Verschmelzung von Mensch und Maschine zu planen, um das Leben mit jedem Preis zu verlängern bzw. eines Tages Unsterblichkeit zu erreichen, glaubt eine Dichterin, dass Liebe die einzige universelle Kraft ist, die den Tod überwindet.
Ruxandra Niculescu