E-Book, Deutsch, 446 Seiten
Blackhurst Die stille Kammer
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-7325-0622-4
Verlag: Bastei Lübbe
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Psychothriller
E-Book, Deutsch, 446 Seiten
ISBN: 978-3-7325-0622-4
Verlag: Bastei Lübbe
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Susan Webster hat keinerlei Erinnerung an den schrecklichsten Abend ihres Lebens: Sie soll ihren eigenen Sohn erstickt haben. Jahre später entdeckt sie Fotos, die die Hoffnung schüren, dass ihr geliebter Sohn noch lebt.
Auf eigene Faust versucht Susan, den rätselhaften Bildern und ihrer eigenen Erinnerung auf den Grund zu gehen - und kommt dabei einem anderen grauenvollen Verbrechen auf die Spur, das sich vor zwanzig Jahren an einem Elite-College im Norden Englands ereignete ...
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Kapitel 4
Wie an den meisten Samstagen ist die Stadt gedrängt voll. Jugendliche, Paare und Mütter, die ihre mürrischen, quengelnden Kleinkinder hinter sich herzerren, besuchen die wenigen Geschäfte, die wir noch haben. »Die Rezession hat die Stadt hart getroffen«, erklärt Rosie Fairclough mir, während sie mir ein Riesenstück klebrigen, warmen Schokoladenkuchen serviert. »Wir brauchen mehr junges Blut wie Sie, das wieder Geld in die Stadt bringt.«
Fast hätte ich laut gelacht. Die neugierige Rosie wäre sicher ganz anderer Meinung, wenn sie eine Ahnung hätte, wer da in ihre verschlafene Kleinstadt gezogen ist. Da hätte der Landfrauenverband doch wirklich mal was zu klatschen.
Ich mache mich über den Schokoladenkuchen her, ein wenig zu gierig, und riskiere dabei einen verstohlenen Blick zum Fenster hinaus. Nichts als Straßen mit Kopfsteinpflaster und Leute, die ihre Wochenendeinkäufe erledigen. Ich schüttle den Kopf, komme mir albern vor und versuche, mir in Erinnerung zu rufen, dass ich nicht in einem Low-Budget-Spionagefilm lebe. Niemand beobachtet mich. Ich muss versuchen, alles zu vergessen, was heute Morgen geschehen ist, den dummen Streich, daher wende ich meine Aufmerksamkeit den anderen Gästen zu.
Eine Frau sitzt in der Nähe des Tresens und spielt gedankenverloren mit einem Stück Möhrentorte herum, ohne dabei zuzulangen, wie ich es gerade getan habe. Sie ist ungefähr so alt, wie meine Mutter jetzt wäre, allerdings wirkt sie nicht so, als müsste sie sich Gedanken um ihre Figur machen, und ihre Miene lässt vermuten, dass sie Sorgen hat. Ihr langes blondes Haar fällt ihr ins Gesicht, als sie auf die Zeitung vor sich starrt, und sie macht sich nicht die Mühe, es zurückzustreichen. Ich ertappe mich bei der Überlegung, was für eine Geschichte wohl bei ihr dahintersteckt. Streit mit dem Liebhaber? Ein Ehemann auf Abwegen? Oder etwas viel Schlimmeres?
Fast so, als hätte ich sie gerufen, blickt sie unvermittelt auf und ertappt mich dabei, wie ich sie anstarre. Peinlich berührt lasse ich meinen Blick zur Tür gleiten; es ist mir unangenehm, dass ich beim Gaffen erwischt wurde. »Nicht die Leute anstarren, Schätzchen«, pflegte meine Mutter zu sagen. »Das ist unhöflich.«
»Na, das hat ja nicht lange vorgehalten.« Rosie sieht, dass ich meinen Schokoladenkuchen schon verdrückt habe, und lächelt. »Möchten Sie noch ein Stück?«
O Gott, ja.
»O Gott, nein.« Ich lache ein wenig zu laut. Ich musste schon immer gegen mein inneres dickes Mädchen ankämpfen; Essen ist mein Trost. Wenn ich je das Essen verweigerte, pflegte meine Mutter meinen Vater anzusehen und zu flöten: »Oh-oh, Len, ich glaube, wir haben da ein Problem.« Sie zog mich damit auf, obwohl es ihre Schuld war, dass wir eine Familie von Genießern waren. Ihre selbst zubereiteten Mahlzeiten, besonders die Desserts, brachten meine Freundinnen dazu, für eine Essenseinladung Schlange zu stehen, und meine Pausenbrotdose war der Neid meiner Klassenkameraden. Biskuitrollen, Zitronenkuchen mit Guss, Himbeer-Baiser-Torte – ich war wie die Grundschulversion eines Crackdealers. Sehr zum Leidwesen meines Mannes konnte ich nie an die kulinarischen Fähigkeiten meiner Mutter heranreichen, und er musste sich mit einem verflixt guten Sonntagsessen einmal in der Woche zufriedengeben. »Meine Hüften würden mir das nie verzeihen«, sage ich. »Rosie, könnte ich Sie mal etwas fragen?«
Die Augen der älteren Frau leuchten auf, als hätte ich sie gefragt, ob es ihr etwas ausmachen würde, wenn ich ihr ein Gewinnlos im Mittwochslotto überließe. Rosie ist praktisch der Informationsdienst hier in der Stadt.
»Ich habe mich nur gefragt, wie die Leute hier in der Gegend so sind. Gibt es viel Ärger?«
Rosie schüttelt den Kopf. »Oh nein, Liebchen, also, samstags gelegentlich eine Prügelei unter Jugendlichen, aber sonst nicht viel. Warum, haben Sie Probleme mit irgendjemandem?«
Sofort bereue ich meine Frage. Mir war klar, dass Rosie eine Klatschbase ist, aber jetzt frage ich mich, ob sie das Zeug dazu hat, das nächste Puzzleteil aktiv ausfindig zu machen. Wird sie ins Internet gehen, sobald ich weg bin, um Nachforschungen über Emma Cartwrights geheime Vergangenheit anzustellen? Ach, Paranoia, meine alte Freundin, wie habe ich dich in der letzten Stunde vermisst.
»Ach, es ist eigentlich nichts«, lüge ich mühelos. »Heute Morgen lag ein Ei vor meiner Haustür, und da habe ich mich gefragt, ob die Einheimischen es vielleicht nicht so gern sehen, wenn Fremde zuziehen.«
Rosie wirkt enttäuscht. »Ach, das werden irgendwelche Kinder gewesen sein«, versichert sie. »Es ist hier nicht so wie in manchen Kleinstädten, wissen Sie, wo jeder alles über alle weiß. Wir kümmern uns eher um uns selbst. Ich würde mir deswegen keine Gedanken machen.«
»Nein, natürlich«, erwidere ich, erleichtert darüber, dass meine kleine Notlüge keine weiteren Nachfragen ausgelöst hat. »Genau das habe ich mir auch gedacht: nur ein dummer Streich.«
*
Das große Stück Schokoladenkuchen liegt mir schwer im Magen, als ich das Café verlasse, und Rosies Worte schwirren mir im Kopf herum: Hier ist es nicht wie in manchen Kleinstädten, wissen Sie, wo jeder alles über alle weiß. Bevor ich Oakdale verließ, wurde ich darauf vorbereitet, dass die Leute feindselig reagieren könnten, sollten sie herausfinden, wer ich bin. Auf Fackeln und Mistgabeln war ich vorbereitet; Stalking und psychologische Spielchen habe ich jedoch nicht erwartet. Denn blöder Witz hin oder her – Tatsache bleibt, jemand kennt meinen alten Namen. Was bedeutet, jemand weiß, was ich getan habe.
Die Glocke über der Tür des Feinkostgeschäfts am Markt bimmelt, als ich eintrete. Die Gourmetstadt Ludlow kann sich rühmen, mit die besten frischen, regionalen Delikatessen in ganz Shropshire zu haben, und jedes Jahr im September findet hier ein Feinschmecker-Festival statt. Das dicke Mädchen in mir liebt Ludlow einfach.
»Emma, wie schön, Sie zu sehen.« Carole strahlt, als sie mich in der Tür stehen sieht. »Wie geht’s?«
»Besser, wenn ich erst eine Schachtel von Ihrem Camembert und etwas von dem Krustenbrot habe.«
Carole verschwindet kurz und kehrt mit einer braunen Papiertüte zurück. Als sie die Tüte über den Ladentisch reicht, fühlt sie sich noch warm an, und der Duft von frischgebackenem Brot steigt mir in die Nase.
»Ich nehme noch eine Flasche Wein dazu.« Carole hebt die Augenbrauen. »Gibt’s was zu feiern?«
Ich lächle gezwungen. »Eher eine Art Frustessen. Vielleicht erzähle ich Ihnen irgendwann davon.«
Sie ist höflich genug, nicht weiter in mich zu dringen. Wir nennen uns beim Vornamen, seit ich ihr Feinkostgeschäft entdeckt habe, aber wir sind weit davon entfernt, Freundinnen zu sein. Ich glaube, ich werde mich nie mit jemandem anfreunden können, der meine Vergangenheit nicht kennt. Es ist einfach zu riskant.
»Lassen Sie es sich schmecken.« Sie nimmt mein Geld entgegen, und ich wage mich wieder auf die Straße hinaus. Mein Kopf rät mir, nach Hause zu gehen und das Foto zu vernichten, zu vergessen, dass es dieses Foto je gegeben hat, doch als ich mich auf den Nachhauseweg machen will, entdecke ich etwas Unmögliches. Vor mir geht eine Frau, sie ist schlank und hat lange, dunkle Haare. Sie beugt sich hinab, um den kleinen Jungen neben sich an die Hand zu nehmen. Den kleinen Jungen, der mich vorhin aus dem Foto heraus angestrahlt hat. Meinen Sohn.
*
Ich bemühe mich verzweifelt zu rufen, doch es schnürt mir den Atem ab. Stattdessen mache ich ein paar ruckartige Schritte vorwärts, und dann fange ich an zu laufen.
»Dylan!«, schreie ich. Er kann es nicht sein, das ist völlig unmöglich, und doch ist er hier, nach all diesen Jahren. Bei seinem Anblick möchte ich am liebsten auf die Knie fallen. Wie kann es sein, dass mein Sohn mir so nahe ist, nachdem er so lange so weit entfernt von mir war?
Ein paar Leute drehen sich nach mir um, aber mein Sohn und seine Entführerin schauen nicht zurück. Es könnte Einbildung sein, aber mir scheint, dass sie ihre Schritte beschleunigt. Jedoch nicht schnell genug; es dauert nur Sekunden, bis ich sie eingeholt habe.
»Dylan.« Ich bücke mich, um den kleinen Jungen am Arm zu packen, und erwische seine marineblaue Jacke. Adrenalin schießt durch meine Brust, als die Frau zu mir herumfährt.
»Was zum Teufel machen Sie da? Lassen Sie meinen Sohn los!«
Sie hebt ihn hastig hoch, und ich muss seine Jacke loslassen, als die Frau vor mir zurückweicht. Ihr Gesicht ist verzerrt vor Angst und Zorn.
»Das ist mein Sohn, Dylan, er ist mein …« Ich verstumme, als mich die Erkenntnis trifft wie ein Schlag. Das ist nicht mein Sohn. Mein Sohn ist tot, fort, und dieser kleine Junge klammert sich am Hals seiner Mutter fest, steif vor Angst wegen der verrückten Frau, die sie anschreit. Plötzlich sieht er überhaupt nicht mehr aus wie der Junge auf dem Foto; er ähnelt weder mir noch Mark noch sonst jemandem aus unserer Familie. Dieser kleine Junge gehört genau dahin, wo er ist: in die Arme seiner Mutter. Ich zögere und trete einen Schritt zurück. Am liebsten würde ich weglaufen, doch meine Beine gehorchen mir nicht. Als die Frau erkennt, dass ich nicht länger eine Bedrohung für sie oder ihr Kind darstelle, geht sie auf mich los.
»Sind Sie verrückt? Wie können Sie es wagen, meinen Sohn anzufassen? Ich sollte die Polizei rufen, Sie verdammte Irre!«
»Es tut mir leid, ich …« Ich finde keine Worte. Ich würde es gern erklären, aber wie? Wie beschreibt man Arme, die sich immer leer anfühlen? Ein Herz, das wegen des Verlustes schmerzt? Augen, die an jeder Straßenecke tote Kinder sehen? Wie soll man...