E-Book, Deutsch, 328 Seiten
Birr Wie sind Sie hier reingekommen?
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-910775-01-5
Verlag: SATYR Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 328 Seiten
ISBN: 978-3-910775-01-5
Verlag: SATYR Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Tilman Birr ist Jahrgang 1980, Schriftsteller, Musiker und Kabarettist. Nach dem Studium der Geschichte und Anglistik arbeitete er als Stadtführer, Texter und Historiker, bevor er die Bühne und das Schreiben zu seinem Hauptberuf machte. Sein Debüt, der komische Episodenroman »On se left you see se Siegessäule - Erlebnisse eines Stadtbilderklärers«, hat sich über 30.000 Mal verkauft. Es folgten zwei weitere Bücher, zwei Musikalben und fünf Soloprogramme. Seit 2016 ist er eine Hälfte des Akustikrockduos »Welthits auf Hessisch«. Tilman Birr lebt in Berlin und Frankfurt am Main.
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Sechs
Sieben
Acht
Neun
Zehn
Elf
Zwölf
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Fünfzehn
Sechzehn
Siebzehn
Achtzehn
Neunzehn
Zwanzig
Einundzwanzig
Zweiundzwanzig
Dreiundzwanzig
Vierundzwanzig
Fünfundzwanzig
Sechsundzwanzig
Siebenundzwanzig
Achtundzwanzig
Neunundzwanzig
Dreißig
Einunddreißig
Zweiunddreißig
Dreiunddreißig
Danke
VIER
Wolfgangs Oma hatte immer gesagt: »Junge, lern anständig für die Schule, sonst wirst du irgendwann Optiker.«
Wolfgang hatte nicht gewusst, was daran so schlimm sein sollte. Hatte Optiker im veralteten Wertesystem seiner Oma als unehrenhafter Beruf gegolten, so wie früher Kesselflicker oder Scherenschleifer? Wer gar nichts kann, muss Brillen verkaufen? Erst im Erwachsenenalter hatte Wolfgang herausgefunden, dass das norddeutsche Idiom seiner Großmutter schuld an seiner Verwirrung war, dass es nicht Optiker, sondern »Opticker« heißen musste und dass das die hamburgische Bezeichnung für einen ungelernten Arbeiter war, der im Park den Müll aufsammelt.
Arbeit galt in Wolfgangs sozialdemokratischer Familie als wichtige und ernste Angelegenheit. Wolfgangs eigenes Verhältnis zu Arbeit war jedoch durch seinen allerersten Job nachhaltig gestört. Nachdem in seinem siebzehnten Lebensjahr die Fixkosten für Bier und Zigaretten deutlich angestiegen waren und abzusehen war, dass das erst mal so bleiben würde, hatte er an einer Tankstelle als Autoeinseifer angefangen. Sein Chef, Herr Hengstle, war ein Choleriker und Schikaneur, der einmal am Tag einen Ausraster hatte. Dann beleidigte er jeden Angestellten, der ihm unter die Augen trat, nur um danach wieder den Benzfahrern in den Enddarm zu kriechen. Aber auch die Benzfahrer selbst waren nicht ohne gewesen. Manche hofften geradezu darauf, dass ihr geliebtes Auto mit einem Kratzer aus der Waschanlage kam, damit sie einen Grund hatten, den wehrlosen Einseifer anzubrüllen. Drei Monate hielt Wolfgang das aus, bis er sich eines Morgens vor Angst übergeben musste. Dann war er einfach nicht mehr hingegangen. Wenn das Arbeit ist, hatte er damals gedacht, dann möchte ich bitte niemals arbeiten.
Jetzt musste er allerdings. Das Geld, das seine Eltern ihm monatlich überwiesen, reichte gerade für Miete und Essen. Jede darüber hinausgehende Freude war damit nicht zu finanzieren. Kurz hatte Wolfgang überlegt, ob er sich nicht einfach nur von Kartoffeln ernähren und dafür auf die Qual eines Nebenjobs verzichten könnte. Er hatte sorgfältig abgewogen: die Liebe zu Bier und Hanf auf der einen Seite, die Abneigung gegen Arbeit auf der anderen. Bier und Hanf hatten gewonnen. Der bärtige Jugendpfarrer in Löhne hatte also recht: Liebe ist immer stärker als Hass. Außerdem musste ja nicht jeder Nebenjob so schrecklich sein wie der an der Tankstelle. Man würde sicher auch arbeiten können, ohne an einen Choleriker zu geraten, aber man würde nicht Bier und Hanf konsumieren können, ohne sie vorher käuflich zu erstehen. Das hatten schon einige versucht und war nie gut geendet.
Wolfgang ging los, erwarb in einem arabischen Schnellimbiss ein sehr kleines Glas Tee und damit das Recht, eine Stunde lang durch das dort ausliegende Stadtmagazin Zitty zu blättern, die erste Anlaufstelle für Jobsuchende. Die meisten Angebote klangen schrecklich: »Outbound Callcenter Agent«, Aushilfe im Café, Catering auf »coolen Events« (wahrscheinlich Firmenfeiern von Steuerberatern), »ein spannendes Team erwartet dich«. Die knappste Anzeige lautete so: »Theater sucht Studenten für Einlass und Kasse. Studentenstatus wichtig.«
Das war doch was. Was konnte man da schon falsch machen? Etwas Besseres als ein »spannendes Team« finde ich überall, dachte Wolfgang, rief die angegebene Telefonnummer an und sprach mit einer sehr freundlichen Frau Sandberg, die ihn gleich für den folgenden Tag um elf zum Gespräch einlud. Er solle einfach am Bühneneingang seinen Namen sagen, dort wisse man schon Bescheid.
Am nächsten Tag fuhr Wolfgang fast eine Dreiviertelstunde in Richtung Westen und erschien pünktlich um fünf vor elf am Bühneneingang. In der abgewetzten Loge saß ein Pförtner, der aussah, als säße er dort schon seit den Fünfzigerjahren.
»Hallo«, sagte Wolfgang. »Ich heiße Schneider. Ich bin hier wegen dem Job.«
»Hallo, ick heiße Hofmeister«, sagte der Pförtner. »Ick bin hier, weil ick hier anjestellt bin.«
»Ich hab einen Termin, ich soll zu …«
»Jaja, weeß ick schon«, unterbrach ihn der Pförtner. »Sie gehen hier wieder raus, einmal quer über den Hof und durch die grüne Stahltür. Dit is die Kantine, da hilft man Ihnen weiter.«
»In der Kantine?«, fragte Wolfgang. »Nee, ich wollte eigentlich zu …«
»Doch, doch, dit stimmt schon«, sagte der Pförtner. »An Tagen wie heute ist die Bewerbung erst ma in der Kantine. Sonst würden Sie sich hier hoffnungslos verlaufen. Gehnse ma rüber, da sitzt jemand und weiß Bescheid.«
»Alles klar, danke«, sagte Wolfgang.
»Tjaja …«, sagte der Pförtner.
In der Kantine war eine Art Empfangstisch aufgebaut, dahinter saß eine Dame mit wilder Frisur und las.
»Hallo«, sagte Wolfgang höflich. »Ich komme wegen dem Job. Ich hab um elf eine Verabredung bei …«
»Ja, ist schon klar«, sagte sie und reichte Wolfgang einen A5-Zettel mit einem schief kopierten Kontaktdatenformular, das er auszufüllen hatte.
»Damit gehen Sie hier den Gang entlang, dann in den zweiten Stock in Zimmer 204. Da macht jemand mit Ihnen weiter.«
Wolfgang bedankte sich und fragte sich, wie viele Leute sich wohl noch auf diesen Job bewarben. Das Treppenhaus war kalt und roch nach Schmieröl, die Wände glänzten grau von Hunderttausenden Berührungen. Im Zimmer 204 saß eine hübsche Frau mit einem Maßband um den Hals und rauchte. Als sie Wolfgang sah, lächelte sie und sagte: »Ah ja! Also dann bitte mal hier an die Wand stellen.«
Wolfgang musste die Arme ausbreiten, gerade stehen und tief einatmen, während die Frau ihm ihr Maßband auf verschiedene Körperteile legte und ab und zu eine Zahl murmelte. Wolfgang fand das irgendwie lustig. Das letzte Mal, dass er vor jemandem Turnübungen machen musste, war bei der Musterung gewesen. Hoffentlich musste er sich nicht gleich noch ausziehen.
»Wofür brauchen Sie das denn?«, fragte er.
»Na ja, deine Maße müssten wir schon kennen, oder? Wäre doch ganz praktisch.«
»Ach so, ja … natürlich«, sagte Wolfgang.
Nachdem die Frau die Messergebnisse auf Wolfgangs Zettel vermerkt hatte, erschien ein überarbeitet aussehender junger Mann in Cargohosen und mit viel Werkzeug am Gürtel. Dies wäre der Kollege von der Bühnentechnik, sagte die schöne Frau, der würde Wolfgang nun mitnehmen.
»Du bist ein bisschen spät dran«, sagte der junge Mann. »Die anderen sind schon fast durch.«
»Tatsächlich?«, sagte Wolfgang. »Aber ich hab doch einen Termin um elf.«
»Das kann überhaupt nicht sein. Wir vergeben keine Termine. Alle haben um 9:30 Uhr zu erscheinen und dann wird gewartet.«
Wolfgang fragte nicht weiter.
Es ging Treppen hinauf und hinunter, durch Türen und lange Gänge.
Vor einer Tür saß ein Mann mit einem Klemmbrett.
»Ich hab hier noch einen«, sagte der Überarbeitete.
»Wunderbar, her damit«, sagte der mit dem Klemmbrett. »Einmal Zettel.«
Wolfgang reichte ihm sein Formular und bekam im Gegenzug ein A4-Blatt ausgehändigt. Der Überarbeitete öffnete die Tür, sagte: »Da drin warten, du wirst aufgerufen«, und verschwand.
Der Raum sah aus wie das Wartezimmer einer sehr schäbigen Arztpraxis in Kasachstan. Auf angegrauten Schalenstühlen, die irgendwann mal strahlend orange gewesen sein müssen, saßen sechs Leute: Ein paar Herren unter dreißig, zwei davon in sehr modischer Kleidung, eine Frau in bunten Klamotten, eine bebrillte Dame um die fünfzig, die Wolfgang an seine frühere Französischlehrerin erinnerte, und ein Mann mit Bierbauch, der aussah, als hätte er vierzig Jahre lang in Köpenick Wasseruhren abgelesen. Die Berliner Version der Village People, dachte Wolfgang. Am Ende des Raums lag eine zweite Tür. Dahinter hörte man jemanden schreien. Wolfgang sah auf das Blatt. Ein einziger Absatz stand darauf:
Finde die, deren Namen hier geschrieben stehen. Es steht geschrieben, dass der Schuster bei seiner Elle bleiben soll, der Schneider bei seiner Leiste, der Fischer bei seinem Bleistift und der Maler bei seinem Netz. Ich aber werde geschickt, um die Personen zu finden, deren Namen hier stehen, und kann nicht herausfinden, welche Namen der Schreiber hier schrieb. Ich muss zu den Gelehrten. Recht bald.
Klingt wie Fantasy, dachte Wolfgang. Der junge Dalaman, Sohn der schönen Schafhirtin und des Dorfschmieds, mit wundersamer Zauberkraft gesegnet, erfährt seine Mission: Er muss die fünf Weisen des Turmes finden und das uralte Rätsel von Bogdingnag lösen. Nur so kann er...




