Birbaumer / Zittlau | Denken wird überschätzt | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 256 Seiten

Reihe: Ullstein eBooks

Birbaumer / Zittlau Denken wird überschätzt

Warum unser Gehirn die Leere liebt
16001. Auflage 2016
ISBN: 978-3-8437-1432-7
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Warum unser Gehirn die Leere liebt

E-Book, Deutsch, 256 Seiten

Reihe: Ullstein eBooks

ISBN: 978-3-8437-1432-7
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Kaum etwas macht uns mehr Angst als die innere Leere. Doch es gibt auch die produktive, gute Leere. Durch Meditation, Konzentration, Musik oder auch beim Sex können wir diesen Zustand erreichen - unser Gehirn liebt diese Leere, sie macht uns glücklich. Die Bestsellerautoren Niels Birbaumer und Jörg Zittlau zeigen uns, warum das so ist und weshalb Denken eigentlich überschätzt wird.

Niels Birbaumer, geboren 1945, ist Direktor des Instituts für Medizinische Psychologie und Verhaltensneurobiologie der Universität Tübingen. Er wuchs in Wien auf und studierte dort Psychologie und Physiologie. Gastprofessuren führten ihn in die USA, sogar bis nach Hawaii. Für seine Forschung erhielt er zahlreiche Auszeichnungen, darunter den Leibniz-Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft und 2010 die Helmholtz-Medaille für sein Lebenswerk. Sein Buch 'Dein Gehirn weiß mehr, als wir denken' war Wissenschaftsbuch des Jahres 2015 in Österreich.
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Kapitel 1
Irgendetwas geht immer: Wie wir die Leere aus unserem Leben vertrieben haben


»Hermann?«

»Ja?«

»Was machst du da?«

»Nichts.«

»Nichts? Wieso nichts?«

»Ich mache – nichts.«

»Gar nichts?«

»Nein.«

»Überhaupt nichts?«

»Nein. Ich sitze hier.«

»Du sitzt da?«

»Ja.«

»Aber irgendwas machst du doch?«

»Nein.«

»Denkst du irgendwas?«

»Nichts Besonderes.«

Die Szene mit dem Ehepaar – sie wuselt in der Küche herum und regt sich darüber auf, dass er einfach nur im Wohnzimmersessel sitzt – gehört zu den Klassikern unter den Sketchen von Loriot. Man kann sie natürlich als eine Überspitzung der Kommunikationsprobleme interpretieren, die zwischen den Geschlechtern auftreten. Aber der Dialog karikiert noch ein anderes Problem: nämlich unsere Unfähigkeit, das Nichts zu ertragen.

Denn Hermanns Frau leidet. Nicht darunter, dass sie selbst wieder mal in der Küche beschäftigt ist, sondern darunter, dass ihr Gatte einfach nur da sitzt. Ohne irgendetwas zu tun. Und damit nicht genug! Als sie ihn fragt, ob er wenigstens irgendetwas denke, gibt er zur Antwort: »Nichts Besonderes.« Das ist zwar nicht ganz dasselbe, als wenn er Nein gesagt hätte, aber fast. Denn wenn wir an nichts Besonderes denken, hat nichts mehr Bedeutung für uns, und damit ist das Denken praktisch überflüssig geworden. Was für ein menschliches Gehirn, das Anregungen und Verhalten stets über bedeutungsvolle Zusammenhänge und positive Ziele miteinander verknüpft, schlechthin nicht vorstellbar ist. Hermanns Frau wird daher erst recht zickig. Sie nervt ihren Gatten so lange, bis der schließlich die Fassung verliert und lauthals brüllt: »ICH SCHREIE DICH NICHT AN!«1

Wir wissen nicht, ob Hermanns Frau das Nichtstun und Nichtsdenken bei sich genauso wenig ertragen würde wie bei ihrem Mann. Aber wir müssen davon ausgehen. Denn das Leben des Homo sapiens – der ja kein Homo inanis (leer) ist – wird wesentlich davon geprägt, keine Leere zuzulassen. Weder bei anderen noch bei sich selbst. Und derzeit scheint dieses Merkmal gerade in den Wohlstandsgesellschaften besonders stark ausgeprägt zu sein.

Lieber Smartphone als Sex


Kaum ein Moment, in dem wir nicht irgendetwas tun oder zumindest irgendetwas konsumieren. Morgens läuft das Radio, und es werden erstmalig die Nachrichten auf dem Mobiltelefon gecheckt, während wir wie nebenbei ein Brötchen oder Müsli zu uns nehmen. Dann geht es zur Arbeit, wobei im Auto meistens wieder das Radio läuft oder in der Bahn erneut das Handy zum Glühen gebracht wird; manche schaffen sogar beides. Bei der Arbeit werden erst mal die Mails abgerufen. Und das geht oft so weiter, den ganzen Tag. Kanadische Forscher ermittelten in einem durchschnittlichen EDV-Unternehmen ihres Landes, dass die Mitarbeiter im Schnitt alle fünf Minuten von einer neuen E-Mail aus ihrer Arbeit gerissen werden, und dann machen sie sich innerhalb von sechs Sekunden daran, die Nachricht zu beantworten. In Deutschland ergab eine Umfrage, dass sich sechzig Prozent der Arbeitnehmer von der Flut der E-Mails auf ihrem Rechner gestört fühlen. Aber geändert, indem man sich beispielsweise selbst auf E-Mail-Diät setzt, wird nichts. Unter solchen Voraussetzungen ist es beinahe verwunderlich, dass überhaupt noch gearbeitet wird.

Mittags kommt spätestens wieder das Handy an die Reihe, wobei Schüler und Studenten in dieser Hinsicht von einem durchschnittlichen Berufstätigen nicht zu toppen sind. Eine Umfrage an amerikanischen Hochschulen ergab, dass die männlichen Studenten etwa acht und ihre Kommilitoninnen zehn Stunden täglich mit ihrem Smartphone beschäftigt sind. Sechzig Prozent der Befragten wollten nicht ausschließen, bereits süchtig danach zu sein. Dass es ihnen jedenfalls ungeheuer wichtig ist, belegt eine Forsa-Umfrage unter sechshundert deutschen Jugendlichen im Alter von 14 bis 19 Jahren. Gefragt wurde, worauf sie eine Woche lang am ehesten verzichten könnten. Das Ergebnis: Siebzig Prozent der jungen Frauen und sechzig Prozent der jungen Männer würden eher ohne Sex als ohne Smartphone auskommen.

Abends holt die ältere Generation dafür am Fernseher nach, was sie in Bezug auf den Medienkonsum tagsüber verpasst hat. Laut Bundesamt für Statistik sitzt der über fünfzigjährige Bundesbürger täglich fast dreihundert Minuten vor dem TV-Gerät. In der Altersgruppe der 39- bis 49-Jährigen sind es auch noch ungefähr 220 Minuten, also fast vier Stunden. Die jüngeren Jahrgänge sehen zwar seltener fern, doch wenn sie es tun, sind sie gleichzeitig per Smartphone oder Laptop im Internet aktiv. Bereits im Jahr 2011 ermittelte eine Yahoo-Studie, dass 88 Prozent aller User unter dreißig Jahren auf diese Art zu medialen Multitaskern werden. Man neigt nicht zur Realitätsferne, wenn man diese Quote für heute auf fast hundert Prozent schätzt – und das nicht nur in den USA.

Bevor wir jedoch der Versuchung erliegen, den Medienkonsum als Hauptverantwortlichen für die Unfähigkeit zum Nichtstun zu geißeln, sollten wir bedenken, dass er eingebettet ist in die Erlebnis- und Ergebnisorientierung unserer Gesellschaft, die ihre Mitglieder – wie andere Gesellschaften auch – in ein bestimmtes Verhaltensschema zwängt. Und zwar in ein Schema, das wesentlich von der Angst geprägt ist, irgendetwas zu verpassen.

Die Zapper-Mentalität


Der Terminus »Erlebnisgesellschaft« geriet 1992 in Deutschland in die wissenschaftliche und politische Diskussion, als der Bamberger Soziologe Gerhard Schulze ein Buch zu dem Thema veröffentlichte.2 Seine – durch empirische Studien solide untermauerte – These: Der moderne Mensch sieht in der Erlebnisorientierung das ideale Leben. Wobei diese Erlebnisse durch einen Markt mit vielen Angeboten gesteuert werden. Und weil dieser Erlebnismarkt seine Umsätze steigern will, kann er sich nicht mit den bereits vorhandenen Angeboten begnügen – er muss immer neue erschaffen. Weswegen, so die Analyse Schulzes, »im Akt des Konsumierens schon das Drängen des nächsten Angebots spürbar ist«. Die Abwechslung werde »zum Prinzip erhoben« und die Taktung des Erlebens immer hektischer. Was man beispielsweise am Zappen während des TV-Konsums sehen kann, das Schulze »als Symptom einer allgemeinen Entwicklung« versteht. Im Gehirn verbirgt sich hinter diesem Phänomen der Erregungskreis zwischen Großhirn und vorderen Basalganglien, der uns zu jenen Ereignissen vorantreibt, die wir in der Vergangenheit als positiv-belohnend erlebt haben.

Das Problem dieser allgemeinen gesellschaftlichen Zapper-Mentalität: Man denkt bei allem, was man tut, bereits daran, was man stattdessen oder zumindest als Nächstes tun könnte. Die Erlebnisse, so Schulze, verlören dadurch an Nachhaltigkeit, brächten kaum mehr als eine »punktuelle Befriedigung«, und dies wiederum führe zu einer »permanenten Steigerung des Appetits«. Nach dem Muster, das auch Philosophen wie Epikur und Schopenhauer als Hauptursache des menschlichen »Jammertals« ermittelt haben: Wer viele Bedürfnisse befriedigen will, kann gar nicht wunschlos glücklich werden, sondern nur wunschvoll unglücklich, weil es ihn – mit stetig steigernder Gier – von einem Bedürfnis zum nächsten treibt.

An diesem Punkt wird nun, so der Tübinger Kulturwissenschaftler Hermann Bausinger, die Erlebnis- zur »Ergebnisgesellschaft«3 . Denn wenn das Erlebnis so punktuell ist, dass eigentlich nichts mehr richtig erlebt wird, muss man sich die Frage stellen, was den Einzelnen dann noch antreibt. Bausingers Antwort: »Es geht nur noch um das bloße Abhaken.« Und damit nur noch um das Ergebnis.

Am Beispiel des TV-Zappens lässt sich nachvollziehen, was Bausinger damit meint. Wenn wir mehr oder weniger pausenlos von einem Kanal zum anderen wechseln, bekommen wir ja jeweils nur minimale Ausschnitte von dem mit, was gesendet wird. Laut einer Studie von SevenOne Media schaltet der durchschnittliche Zapper über hundertvierzig Mal pro Tag um, er bleibt nicht einmal hundert Sekunden bei einem Kanal hängen. Das ist selbst bei einer Vormittags-Talkshow zu wenig, um nennenswerte Inhalte mitbekommen zu können, und bei einem Spielfilm erst recht. In so kurzer Zeit kann kein dauerhaftes Erleben und Einprägen stattfinden. Das Einzige, was stattfinden kann, sind zwei Ergebnisbefunde. Der erste: »Aha, das läuft also gerade auf dem Kanal XY.« Der zweite: »Wie langweilig.« Und dann wird auch schon weitergezappt, bis zu 140 Mal pro Tag.

Das Erleben wird also auf das stakkatohafte Abhaken von kurzfristigen Ergebnissen reduziert. Was natürlich, insofern es ja nicht nur beim TV-Konsum stattfindet, Konsequenzen für den Alltag hat. Beispielsweise dergestalt, dass man von den Freundeszahlen auf Facebook auf den eigenen Beliebtheitsgrad schließt, beim Sex immer mindestens zehn Stellungen durchspielt oder den Kellner im Restaurant mit Sonderwünschen nervt. Und wenn das milliardenschwere DAX-Unternehmen mit zweistelligen Umsatzzuwächsen prahlt, obwohl die bloß günstigen Währungskursen geschuldet sind, oder sich der lernfaule Schüler per Anwalt zum Abitur klagen lässt, wird sogar das Leistungsprinzip zugunsten des Ergebnisprinzips aufgegeben. Nach dem Motto: Ist doch egal, wie – Hauptsache, die Resultate stimmen.

Am Ende bleibt die Erlebnisgesellschaft und ihre Kulmination in der Ergebnisgesellschaft auch nicht ohne Folgen für die Psyche ihrer Mitglieder. Und zwar nicht nur dergestalt, dass die Menschen ihre Ergebnisquote...


Birbaumer, Niels
Niels Birbaumer, geboren 1945, ist Direktor des Instituts für Medizinische Psychologie und Verhaltensneurobiologie der Universität Tübingen. Er wuchs in Wien auf und studierte dort Psychologie und Physiologie. Gastprofessuren führten ihn in die USA, sogar bis nach Hawaii. Für seine Forschung erhielt er zahlreiche Auszeichnungen, darunter den Leibniz-Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft und 2010 die Helmholtz-Medaille für sein Lebenswerk. Sein Buch "Dein Gehirn weiß mehr, als wir denken" war Wissenschaftsbuch des Jahres 2015 in Österreich.

Zittlau, Jörg
Jörg Zittlau studierte Philosophie, Biologie und Sportmedizin. Als freier Journalist schreibt er unter anderem für die Welt, bild der wissenschaft und Psychologie heute. Er ist Autor mehrerer Bestseller und lebt mit seiner Familie in Bremen.

Niels Birbaumer, geboren 1945, studierte Psychologie und Neurophysiologie in Wien und London. er leitet das Institut für medizinische Psychologie und Verhaltensneurobiologie an der Universität Tübingen. Birbaumer hat zahlreiche Gastprofessuren im Ausland inne.

Jörg Zittlau studierte Philosophie, Biologie und Sportmedizin. Als freier Journalist schreibt er unter anderem für die Welt, bild der wissenschaft und Psychologie heute. Er ist Autor mehrerer Bestseller und lebt mit seiner Familie in Bremen.



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