Binebine | Willkommen im Paradies | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 216 Seiten

Reihe: Arabische Welten

Binebine Willkommen im Paradies

Roman aus Marokko
1. Auflage 2017
ISBN: 978-3-85787-957-9
Verlag: Lenos
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman aus Marokko

E-Book, Deutsch, 216 Seiten

Reihe: Arabische Welten

ISBN: 978-3-85787-957-9
Verlag: Lenos
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Unter dem umgekippten Boot am Strand herrschte ein Friede, den Nuara mit ihrem Kind für nichts in der Welt eingetauscht hätte. Sie hat sich hier versteckt, um nicht von der Küstenwache entdeckt zu werden. Die Schreie des Babys drohten sie und die Gruppe Flüchtlinge, die gemeinsam am Strand von Tanger auf das Boot des Schleppers warten, zu verraten - so kurz vor dem Ziel, der Festung Europa. Einer von ihnen ist der junge Asûs, der mit Verschmitztheit und Ironie die Geschichten seiner Schicksalsgenossen wiedergibt. Er erzählt aber auch, wie sie, vor Kälte und Angst zitternd, auf das Zeichen zum Aufbruch warten und wie sie versuchen, die Lichter am Horizont zu deuten - künden sie vom gelobten Land, oder sind sie eine Falle? Mit 'Willkommen im Paradies' wird einer der wichtigsten Romane Mahi Binebines in einer überarbeiteten Übersetzung neu aufgelegt.

Mahi Binebine, geboren 1959 in Marrakesch. Studium der Mathematik in Paris. Lehrer. Hinwendung zur Literatur und Malerei. Heute gilt er als bekanntester Maler Marokkos, seine Bilder hängen u.a. im New Yorker Guggenheim-Museum. Sein schriftstellerisches Werk - er schrieb acht Romane - wurde in verschiedene Sprachen übersetzt und mehrfach ausgezeichnet. Nach Jahren in Frankreich und den USA lebt Mahi Binebine seit 2002 wieder in Marrakesch. www.mahibinebine.com.

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1
In meinem Dorf hatten uns die Alten so manches Mal vom Meer erzählt, auf tausenderlei verschiedene Arten. Manche verglichen es mit der Unermesslichkeit des Himmels: eines Himmels aus Wasser, der über unendlichen, undurchdringlichen Wäldern schäumt, die von Gespenstern und wilden Ungeheuern bewohnt sind. Andere behaupteten, es sei noch riesiger als die Flüsse, Seen, Teiche und alle Bäche der Erde zusammen. Die Weisen vom grossen Platz indes waren sich in dieser Frage einig und versicherten, dass Gott dieses Wasser zurückhalte, um die Erde am Tag des Jüngsten Gerichts von ihren Sündern reinzuwaschen. Es war Nacht. Eine dunkle, leicht dunstige Nacht. Versteckt hinter einem Felsen, hörten wir das Tosen der Wellen und den Wind. Murâd hatte gesagt, das Meer sei zurzeit ruhig. Wir hatten ihm geglaubt. Wir waren bereit, alles zu glauben, sofern man uns erlaubte zu gehen. So weit weg wie möglich. Für immer. Ein schwarzer Schatten erhob sich neben dem Boot: Es war der Schlepper; seinen Namen kannten wir nicht. Wir begnügten uns damit, ihn in ängstlicher Ehrerbietung Chef zu nennen, so wie man einen Lehrer gerufen hätte, der seinen Stock schwingt, einen zwielichtigen Gendarmen mit grausamem Blick, einen Hexenmeister, der mit Schicksalen jongliert, jeden Menschen, in dessen Händen unsere Zukunft lag. Aus seiner tief ins Gesicht gezogenen Kapuze drang dann und wann ein seltsames Murren. Ich wusste nicht, ob es Angst oder Kälte war, die Reda, meinen Cousin, schlottern liess. Beides vielleicht. Wir alle hatten Angst und froren, aber Reda schien es am schlimmsten erwischt zu haben. Bleich und angespannt, klammerte er sich an seine Adidas-Tasche und klapperte mit den Zähnen. Unentwegt. Kaum hatte er sich eine Zigarette angezündet, stürzte sich der Schatten auf ihn, entriss sie ihm und zerkratzte ihm dabei die Lippen. Reda muckte nicht auf. Er zitterte weiterhin, klapperte mit den Zähnen. Neben mir stillte Nuara ihr Baby. Unmöglich, an ihrem runden, ein wenig aufgedunsenen Gesicht das Alter abzulesen. Ihr Kopf, von festgeflochtenen Zöpfen bekrönt, bewegte sich im Rhythmus eines stummen Wiegenliedes. Aus ihrer Bluse hing eine schlaffe Brust. Ich betrachtete sie aufmerksam, liess die Spitze, die in den winzigen Mund geschoben war, nicht aus den Augen. Der Kleine, dessen Brüllen wir fürchteten, bearbeitete sie mit beiden Händchen. Der Schlepper hatte sich klar ausgedrückt: »Ein Ton, ein falscher Schritt, und wir enden alle im Loch!« Aber um welches Loch, um welchen Abgrund, grosse Götter, mochte es sich wohl handeln? Gab es ein tieferes, ein dunkleres als jenes, in das uns die Not getrieben hatte? Unter uns befanden sich Kâssim Dschûdi, ein Algerier aus Blida, der zu einer Zeit Lehrer gewesen war, als in seinem Land noch Frieden herrschte, Pafadnam und Yarcé, zwei Malier, von denen man nur das Weisse der Augen sah, und Jûssuf, vorgeblich aus Marrakesch – sein stark ausgeprägter Akzent wies auf berberische Herkunft hin, aus dem Mittleren Atlas zweifellos. Die kleine Gruppe gab sich gelassen. Für den Riesen Pafadnam war es der dritte Ausreiseversuch. Hätte er uns das bloss nicht gesagt! Am Vorabend im Café hatte uns Murâd, der Kompagnon des Schleppers, dennoch versichert, das Überqueren der Strasse von Gibraltar sei nur eine Sache von wenigen Stunden. »Einmal durch die Badewanne!«, hatte er gescherzt. Ich lachte; nicht so Reda, der uns, von schrecklichen Bauchschmerzen gequält, jede Viertelstunde verliess, um ebenso blass zurückzukehren, wie er gegangen war. Murâd, der mit seiner kleinen Statur, der Arroganz, der gepflegten Erscheinung und dem Galgenhumor an die Iberer in Tanger erinnerte, hatte uns gewarnt: »Wenn dieser Idiot seinen Dünnschiss nicht in den Griff kriegt, ist er raus.« Als er das hörte, wäre mein Cousin beinahe ohnmächtig geworden, und die Dinge verschlimmerten sich noch. Von ihm strömte plötzlich ein widerlicher Gestank aus, der die Tischgesellschaft die Flucht ergreifen liess. Die gesamte ausser mir, wohlgemerkt. Die Luft war stickig. Im Radio skandierte das Nationalorchester ein patriotisches Lied. Kif- und Tabakrauch paarten sich und hüllten die blaue Zimmerdecke in Nebel. Reda wagte nicht, sich zu bewegen. Er verharrte auf der Stuhlkante sitzend, die Hände an die Lehnen des Plastiksessels geklammert. Zunächst noch zaghaft, wurde das Murren unserer Tischnachbarn umso heftiger, je mehr sich der Gestank ausbreitete, und gipfelte schliesslich darin, den Kellner zu alarmieren, der herbeieilte, bereit zuzubeissen wie ein Tier, dessen Revier man beschmutzt hat. Er erfasste die Situation sofort und fing lauthals an zu schreien. Ich erhob mich mit geschwellter Brust, um seinen Beleidigungen ein Ende zu machen. Doch als ich bemerkte, dass ich ihm nur bis zu den Schultern reichte, mässigte ich meinen Protest: »Dieser junge Mann ist krank, mein Herr!« – »Ich bin nicht seine Mutter, Mistkerl!«, schimpfte er und packte Reda am Hemdkragen. Als ich versuchte, mich einzumischen, erhielt ich einen Kinnhaken, der mich einige Augenblicke ausser Gefecht setzte. Ich fand mich also damit ab, ihnen zu folgen. Auf der Terrasse hatte sich eine plötzliche Stille breitgemacht, aller Blicke waren auf uns gerichtet. Der Kellner des Cafés, dessen schrille Stimme in seltsamem Gegensatz zu seiner imposanten Statur stand, stiess Reda fluchend nach draussen. Eine feine Urinspur folgte ihnen. Jemand begann zu lachen. Dann ein Zweiter. Und eine Lachsalve brach los. Reda zeigte keine Reaktion; er schien anderswo zu sein, liess sich wie ein Müllsack wegräumen. Getragen vom Gelächter der Gäste, vollendete der Kellner seinen Bravourakt triumphierend mit einem kräftigen Fusstritt, der meinen Cousin in den Rinnstein beförderte. Ich konnte Reda nicht am Boden sehen. Ich habe es nie ertragen. Schon als Kind hatten ihn alle im Dorf, bis hin zum schwächlichsten unserer Kameraden, gequält. Beim geringsten Streit lähmte ihn seine unheilbare Angst. Er kauerte sich zusammen, schützte sein Gesicht mit beiden Armen und wartete darauf, dass ich ihn erlöste. Ich habe ihn immer verteidigt. Das ist mich oft teuer zu stehen gekommen, aber ich habe es stets getan. Denn Reda ist von meinem Blut. Und so bückte ich mich auch jetzt vor dieser Terrasse, die von Faulenzern bevölkert wurde, von Schuhputzern, Zeitungsverkäufern, kleinen Gaunern, heruntergekommenen Beamten und anderen Nichtsnutzen, bückte mich und half »meinem Blut« auf. Ich wagte es nicht, diese Versammlung von Barbaren zu beschimpfen; in meiner Kehle jedoch köchelten Lästerungen, wie sie der Himmel selten zu hören bekommen hatte. Wenn sie auch nur einen Bruchteil des Hasses und der Verachtung wahrgenommen hätten, die in meinen Augen funkelten, hätten sie sofort aufgehört, zu lachen und mit dem Finger auf uns zu zeigen. Denn ein Mann aus dem Süden, wie ich einer bin, ist – wenn er erniedrigt wird – unberechenbar, zu allen Verrücktheiten fähig. Reda taumelte ein wenig, stützte sich auf meine Schulter. Sein Kopf wackelte. Wir entfernten uns langsam. Leise. Ich hätte ihm erklären wollen, auf welch schreckliche Art ich vorhatte, mich zu rächen: Dieser Mistkerl wird nicht ungeschoren davonkommen, ich werde ihn kriegen, du wirst sehen; ich habe schon eine Idee … Ein Hinterhalt … In der Nacht … In einer dunklen, verwinkelten Gasse. Er wird nur noch Sterne sehen. Ich habe gut daran getan, mein Springmesser zu behalten; mein kleiner Bruder hätte es so gern gehabt! Beinahe hätte ich es ihm damals vor unserer Abreise überlassen. Der Schlingel war schon im Morgengrauen aufgestanden und stand da, vor dem staubigen Lastwagen, der uns, Reda und mich, in den Norden bringen sollte; er schaute mich mit seinen feuchten Augen an, ohne mich um etwas zu bitten, aber ich wusste, wie er es begehrte, dieses Messer … Du siehst, ich hatte recht, nicht nachzugeben. Es ist immer gut, sein Springmesser bei sich zu haben. Ich werde diesen Lump zur Ader lassen; er ist gross, aber ich werde ihn überraschen; ich werde ihm einen grossen Schmiss beibringen, damit er sich an mich erinnert. Das sind die Worte eines Sohnes des Tassaout. Das kannst du mir glauben … So brütete ich über den blutrünstigen Plänen einer aufgeschobenen Rache. Reda erfuhr nie etwas davon. Er trottete mit hängenden Armen an meiner Seite, seine Tasche über die Schulter gehängt. Wir gingen zum öffentlichen Brunnen; ein wenig Körperpflege war dringend notwendig. Ich sage das nicht, um ihn schlechtzumachen, aber mein Cousin stank penetrant nach Aas. Die gebratenen Sardinen, die wir zu Mittag am Hafen in uns hineingestopft hatten, trugen sicherlich ihren Teil dazu bei. Ihr lächerlicher Preis hätte mich im Übrigen alarmieren müssen. Aber ich gab vor, nichts zu riechen. Die untergehende Sonne tauchte Mauern, Geschäfte, Tiere und Menschen in ihren Pfirsichglanz. Zum Brunnen war es nicht mehr sehr weit. Der Schwarm Rotznasen, die drumherum spielten, war nicht dazu angetan, mich zu beruhigen. Ich wusste, wozu diese Giftzwerge fähig waren, würden sie Reda dabei überraschen, wie er seine intimen Waschungen auf offener Strasse vollzog. Ich war mir der schrecklichen Wildheit bewusst, die dieses Gesindel befallen konnte. Als ich noch klein war, Gott möge mir vergeben, waren die Momente, in denen sich ein Bettler am öffentlichen Brunnen wusch, eine wahre Wonne für uns gewesen. Wir passten wie Katzen genau den Augenblick ab, in dem er seinen Hintern im Freien hatte, um unversehens aufzutauchen und ihm alles Elend dieser Welt anzutun. Wir stahlen sein Bündel oder auch sein Käppchen, oder aber wir zogen an seiner Kapuze, um ihn aus dem Gleichgewicht zu bringen. Das Schauspiel war zu lustig! Ihn so zu sehen – klitschnass, den Sirwal bis zu den Knien herabgezogen, unfähig, uns zu folgen, schäumend vor Wut, wetternd und fluchend – liess uns aufjauchzen. Wir wälzten uns auf...


Mahi Binebine, geboren 1959 in Marrakesch. Studium der Mathematik in Paris. Lehrer. Hinwendung zur Literatur und Malerei. Heute gilt er als bekanntester Maler Marokkos, seine Bilder hängen u.a. im New Yorker Guggenheim-Museum. Sein schriftstellerisches Werk - er schrieb acht Romane - wurde in verschiedene Sprachen übersetzt und mehrfach ausgezeichnet. Nach Jahren in Frankreich und den USA lebt Mahi Binebine seit 2002 wieder in Marrakesch. www.mahibinebine.com.



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