Binebine | Die Engel von Sidi Moumen | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 157 Seiten

Reihe: Arabische Welten

Binebine Die Engel von Sidi Moumen

Roman aus Marokko
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-85787-905-0
Verlag: Lenos
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman aus Marokko

E-Book, Deutsch, 157 Seiten

Reihe: Arabische Welten

ISBN: 978-3-85787-905-0
Verlag: Lenos
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Jaschin erzählt die Geschichte seines Lebens - und wie er es beendete. Inspiriert von der Geschichte um die Attentäter von Casablanca vom 16. Mai 2003, hat Mahi Binebine einen Roman über marokkanische Jugendliche geschrieben, die von Islamisten zu einem Selbstmordanschlag in einem Luxushotel verführt werden.
Jaschin wächst mit acht Brüdern in Sidi Moumen auf, einer Barackensiedlung vor den Toren Casablancas. Den Tag verbringt er mit den »Etoiles«, seinen Freunden im örtlichen Fußballklub. Die Jugendlichen schlagen sich mit allerlei Gelegenheitsarbeiten durch: Sie durchwühlen die Abfallberge und verkaufen das Brauchbare, putzen Schuhe von Touristen, stehlen auch mal und prügeln sich. Der Fußball ist einer der wenigen Lichtblicke in ihrem Leben. In dieser Lage kommt Abu Subair gerade recht: Er unterstützt die Jungen mit Geld und Jobs. Sie freunden sich mit ihm an und lauschen seinen Einflüsterungen. Abu Subair verheißt ihnen das Paradies, dessen Pforte ganz nahe sei - was hätten sie denn schon zu verlieren? Angesichts von Armut und Gewalt, von unerfüllten Träumen, von Enttäuschungen, Wut und Trauer hat der Fanatismus der bärtigen Extremisten leichtes Spiel. Mahi Binebines Roman ist gut recherchiert, voller Tragik aber auch reich an Humor. Er wurde unter dem Titel »Les Chevaux de Dieu« verfilmt.

Binebine Die Engel von Sidi Moumen jetzt bestellen!

Weitere Infos & Material


3
Nabîl hatte dunkelblonde Haare und helle Augen. Eigentlich müsste seine Wiege anderswo gestanden haben. Er glich uns überhaupt nicht. Wenn er an Festtagen seine Lumpen auszog, hätte jeder geschworen, dass er aus der anderen Welt stammte. Ein umgekehrt Illegaler; einer dieser Christenmenschen aus dem Norden, die nach Art der Hippies ein wenig an unserer Armut nippen wollen. Nabîl aber war wirklich einer der Unsrigen. Wir waren auf demselben Mist gross geworden, hatten uns im gleichen Dreck gewälzt. Seine Schönheit hatte er von seiner Mutter, Tamu, einer Prostituierten, die sich entschieden hatte, ihre Reize den Nichtstuern von Sidi Moumen anzubieten; eine Pasionaria des billigen Sex. Mit ihren fast kommunistischen Tarifen war sie durchdrungen von der Mission eines Service public. Tamu wurde grosser Respekt entgegengebracht, in unserem Viertel und auch in den benachbarten Bidonvilles. Nicht wenige meinten, sie könnte, wenn sie sich besser zurechtmachen würde, ihr Gewerbe ohne weiteres überall ausüben, sogar in den Vierteln der Reichen. Ihr heiteres Gesicht mit den Goldzähnen strahlte einen herzhaften Charme aus, und ihre in Seidendschellabas eingehüllten achtzig Kilo milchweisses Fleisch machten die Männer verrückt, wenn sie vorüberging. Sie trat auch manchmal als Sängerin bei Zeremonien auf, wenn Hochzeiten, Beschneidungen oder Namensgebungen2 gefeiert wurden. So kam es, dass die Frauen der Cité ihre Dienste in Anspruch nahmen, obwohl sie ihr immer auch ein wenig misstrauten. Tamu war nicht im mindesten nachtragend, sie war sich ihrer Talente bewusst und bot ihr Können auch in den armseligsten Behausungen gerne an. Wie keine Zweite konnte sie eine Soiree auf Touren bringen. Mit Leib und Seele stürzte sie sich ins Festgetümmel, tanzte und wiegte sich mit ihrem Tamburin im Arm in den Hüften, als stünde sie unter Strom. Sie flirtete mit den Augen wie die indischen Tänzerinnen, und die Herzen der Männer flogen ihr zu. Ihre hohe Stimme tönte aus den Lautsprechern, die auf dem Dach montiert waren und das Glück in die umliegenden Baracken trugen. Nabîl lebte allein mit seiner Mutter in einer abgelegenen Hütte in der Nähe des öffentlichen Brunnens. Tagsüber musste er draussen bleiben, denn zu Hause empfing seine Mutter ihre Kunden. Aus diesem Grund gehörte er zu den Ersten, die am Morgen auf der Deponie aufkreuzten, und er verliess sie erst bei Anbruch der Dämmerung. Er arbeitete für Hâmid, der ihn gut behandelte und auch beschützte. Wehe dem, der es gewagt hätte, ihn den Sohn einer Hure zu nennen! Hâmid, der schnelle Fäuste hatte, bestrafte den Schuldigen auf der Stelle. Nach Murâds Verschwinden wurden Nabîl und ich unzertrennlich. Manchmal half ich ihm auf der Deponie beim Suchen nach Knochen, Glas und Metallstücken. Ich stöberte nach Hörnern von Schafböcken, die im Suk, wo man Kämme aus ihnen machte, sehr gefragt waren. Ich hatte es auch übernommen, den Gummimantel von den elektrischen Kabeln abzulösen, um das Kupfer zu gewinnen. Wenn er mir sein Taschenmesser lieh, schaffte ich zehn Drahtrollen pro Tag. Nabîl musste drei Jutesäcke füllen, die ihm mein Bruder am Morgen gab. Er entledigte sich seiner Arbeit stets mit links; ob es regnete oder stürmte, am Abend waren die Säcke gefüllt und ordnungsgemäss zugebunden. Eingesammelt wurden sie von einem einäugigen Alten mit einer Holzkarre, die von einem spindeldürren Maultier gezogen wurde. Hâmid nahm sich nicht einmal die Mühe nachzusehen, ob Nabîl seine Arbeit gut gemacht hatte. Er vertraute ihm. Nabîl schummle nicht, meinte er, im Unterschied zu den übrigen Schlingeln, die sich vor der Arbeit drückten und ihre Zeit mit Leimschnüffeln verbrachten. Obwohl Nabîl mehr verdiente als die anderen, hinderte ihn seine Freigebigkeit daran, etwas zurückzulegen. Immer wieder teilte er sein Essen mit mir, eine Büchse Sardinen, ein Brot und eine grosse Flasche Coca-Cola. Wir machten es uns in dem Unterschlupf bequem, den er aus Holzlatten und Karton gebaut hatte, taten uns an den Köstlichkeiten gütlich und redeten von der Stadt, die wir eines Tages besuchen würden. Seine Mutter hatte sie ihm in allen Details beschrieben. Ich glaube nicht, dass er übertrieb. Das einzige Mal, wo es mir vergönnt war, die Stadt zu besichtigen, war auch das letzte. Danach verschwimmt alles in meiner Erinnerung. Nabîl träumte davon, seinen Unterschlupf in ein richtiges Haus umzubauen. Im Kopf hatte er schon alles geplant: Zwei Zimmer, eine Kochecke und ein Salon sollten es sein. Was die Toilette anbelangt, würde er es mit allen Übrigen halten und sich auf der Deponie erleichtern. Aber ein solches Projekt war schwer zu realisieren. Immer wenn es ihm gelungen war, ein Blechdach oder einen guten Balken zu finden, wurden sie ihm gestohlen. Doch er gab nicht auf. Ich hatte versprochen, ihm zu helfen, sobald er sich ernsthaft an die Arbeit machen würde. Mein Bruder Hâmid auch. »Unter Businessmen muss man sich beistehen«, meinte er. Er hatte Nabîl auf eine leerstehende Baracke aufmerksam gemacht, wo er sein Material aufbewahren konnte – Plastikbahnen, Stangen, Ziegel, Bretter, kurz: alles, was man brauchte, um ein wetterfestes Dach zu fertigen, das gegen Nässe, Wind und anderes Ungemach schützte. Das war Nabîls Traum. Ich könne bei ihm wohnen, meinte er, wenn ich eines Tages auf eigenen Beinen stehen wolle. Wir würden ein Kohlenbecken installieren, einen schönen Topf besorgen und köstliche Tajines schmoren. Es sei nur eine Frage der Zeit. Mit viel Arbeit und Ausdauer würden wir es schaffen. Von da an wurde mir zu Hause alles zu eng. Wir schliefen zu sechst in einem Raum, der etwa so gross war wie ein Keller. Ich konnte weder das Schnarchen noch die Gerüche nach Schweiss, Unterhosen, Schuhen und dem DDT-Pulver mehr ertragen, das Jamma gewissenhaft jeden Abend unter die Bastmatten streute, die uns als Betten dienten. Es stimmt, auch ich begann von einem Raum für mich ganz allein zu träumen. Mit einem richtigen Bett mit Matratze, unerreichbar für Skorpione und andere Tierchen, ausser vielleicht für Wanzen, aber die haben mich nie wirklich gestört. Mir sind sie jedenfalls lieber als der unerträgliche Geruch nach Insektenpulver, der einem schier den Atem nimmt. In meinem Zimmer würde es kein Naphthalin geben. Es ist mir schleierhaft, warum Jamma die Motten so sehr fürchtete; wir besassen nur wenig Wollzeug und Kleider, so dass unsere Hütte der letzte Ort war, den sich diese Viecher zum Fressen aussuchen würden. Aber so war Jamma eben, die sauberste, die fürsorglichste Frau, die mir je begegnet ist. Der Morgen begann stets damit, dass sie einen von uns Buben weckte, damit er am Brunnen Wasser hole. Die Kleinen schonte sie. Man musste mehrmals gehen, bis das grosse Tongefäss voll war. Dann besprengte sie den kleinen Hof in ihrem täglichen Kampf gegen den Staub und goss die Basilikumtöpfe, die vor den Zimmern standen und die Mücken abhalten sollten. Schliesslich füllte sie den Kessel, erhitzte Wasser, damit wir uns waschen konnten, und bereitete das gemeinsame Frühstück vor. Beim Essen schaute sie uns gerne zu. Über jeden von uns wachte sie wie eine Henne über ihre Küken. Wir waren ihre Männer. Neun Kerle und der Vater, der früh gealtert in einer Ecke hockte, wo er ununterbrochen seine Gebetskette aus Bernstein durch die Finger gleiten liess. Er betete stets im Sitzen, gab vor, zum Aufstehen keine Kraft mehr zu haben. Früher hatte er in den Gruben gearbeitet, nun war er mager und ausgemergelt, wie das Brachland, das früher einmal die Industriezone gewesen war und wo er sein ganzes Leben verbracht hatte. Jamma brachte ihm seine Griesssuppe und schüttelte wortlos die Kissen hinter seinem Rücken. Dann unterzog sie, wie ein Korporal, unsere Kleider einer genauen Inspektion – ein fehlender Knopf an einem Hemd, ein Loch im Pullover oder in einer Socke lösten lauten Protest aus: »Was, wollt ihr mich vor den Nachbarn blamieren?« oder: »He, zieh das sofort aus, ich bin noch nicht tot!« Sie holte den Nähkasten. »Jaschin«, rief sie, »du mit deinen guten Augen, fädle mir die Nadel ein.« Ich war sehr zufrieden, dass ich zu Hause in einem Punkt besser war als die anderen. Ich feuchtete den Faden an und führte ihn auf Anhieb durch das Nadelöhr. Jamma lächelte mir zu. Ich mochte es, wenn sie lächelte. Nabîl stand manchmal schon bei Tagesanbruch vor unserer Tür. Kaum hörte Jamma ihn pfeifen (so machte er sich jeweils bemerkbar), tauchte sie ein Stück warmes Brot in den Teller mit dem Olivenöl und sagte zu mir: »Da, gib das deinem Freund.« Nabîl strahlte übers ganze Gesicht, er war hungrig und nahm es gerne. Er bat mich um ein Glas Wasser, um den Mund zu spülen, denn in Sidi Moumen knirschte es wegen des allgegenwärtigen Staubs stets zwischen unseren Zähnen. Dann verschlang er das Brot, bevor er zur Arbeit ging. Nabîl war beileibe nicht ärmer als wir, überhaupt nicht. Es war einfach so, dass seine Mutter, die Künstlerin, am Morgen ausschlafen wollte. Sie arbeitete bis spätnachts und konnte unmöglich früh aufstehen. Um sie nicht zu wecken, verliess er die Baracke auf Zehenspitzen, wie ein Dieb. Übrigens frage ich mich, wie man überhaupt schlafen konnte bei dem Krach, den die Müllwagen am Morgen veranstalteten. Aber in unserer Umgebung gewöhnt man sich an alles, auch an den Geruch nach Fäulnis und Tod, der uns vertraut geworden ist und an uns haftet. Wir bemerkten ihn gar nicht mehr. Sidi Moumen würde die Seele abhandenkommen, wenn er wie durch ein Wunder plötzlich verschwände. Die Luft würde uns zweifelsohne fad und langweilig vorkommen; Hunde und Katzen würden verschwinden und mit ihnen die Schwärme von Möwen, die das Gebiet in Beschlag genommen haben und unsere stickige, verdorbene Atmosphäre der Meeresluft und die Müllmenschen den Hochseefischern vorziehen. Sogar...


Mahi Binebine, geboren 1959 in Marrakesch (Marokko). Studium der Mathematik in Paris. Lehrer. Hinwendung zur Literatur und Malerei. Heute gilt er als bekanntester Maler Marokkos, seine Bilder hängen u.a. im New Yorker Guggenheim-Museum. Sein schriftstellerisches Werk wurde in mehrere Sprachen übersetzt und u.a. mit dem Prix de l'Amitié Franco-Arabe ausgezeichnet. Nach Jahren in Frankreich und den USA lebt Mahi Binebine seit 2002 wieder in Marrakesch.



Ihre Fragen, Wünsche oder Anmerkungen
Vorname*
Nachname*
Ihre E-Mail-Adresse*
Kundennr.
Ihre Nachricht*
Lediglich mit * gekennzeichnete Felder sind Pflichtfelder.
Wenn Sie die im Kontaktformular eingegebenen Daten durch Klick auf den nachfolgenden Button übersenden, erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Ihr Angaben für die Beantwortung Ihrer Anfrage verwenden. Selbstverständlich werden Ihre Daten vertraulich behandelt und nicht an Dritte weitergegeben. Sie können der Verwendung Ihrer Daten jederzeit widersprechen. Das Datenhandling bei Sack Fachmedien erklären wir Ihnen in unserer Datenschutzerklärung.