E-Book, Deutsch, 216 Seiten
Reihe: Arabische Welten
Binebine Der Himmel gibt, der Himmel nimmt
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-85787-951-7
Verlag: Lenos
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman aus Marokko
E-Book, Deutsch, 216 Seiten
Reihe: Arabische Welten
ISBN: 978-3-85787-951-7
Verlag: Lenos
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Krümelchen wurde in der Medina von Marrakesch geboren und überflügelt seine fünf Geschwister schon als Säugling in der Kunst des Bettelns: An arme Frauen vermietet, beschert er seiner Familie ein florierendes Geschäft. Doch das Talent wird ihm bald zum Verhängnis, denn seine Mutter unternimmt alles, um das rentable Baby am Wachsen zu hindern. An einen Kinderwagen gefesselt und körperlich verkümmert, findet er immer neue Wege, sich als Attraktion zu inszenieren und den Leuten Staunen, Mitleid und Geld zu entlocken. Als er bei einem spanischen Professor heimlich lesen und schreiben lernt, eröffnen ihm die Bücher eine neue Welt. Sein Blick auf das Leben verändert sich radikal. Mit der ersten Liebe gelingt ihm die Emanzipation von der Mutter und der Beginn eines eigenständigen Lebens.
Mahi Binebines wunderbare Entwicklungsgeschichte gibt den Vergessenen dieser Welt eine Stimme. Sie beleuchtet die allzu bekannte, tragische Situation vieler Kinder in Armut aus einer Perspektive, deren Humor und Menschlichkeit überraschen. Sie ist kein Abgesang, sondern eine Hymne auf das Leben, die Bildung und die Poesie.
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3 Schwierig, noch wie ein Säugling auszusehen, wenn man drei Jahre alt ist. Der Konkurrenzkampf wurde hart, denn es gab Babys, die man schon für einen Pappenstiel mieten konnte. Meine Glückssträhne war nicht für die Ewigkeit, das wussten wir. Auch göttliche Gaben verkümmern im Lauf der Zeit und gehen ein. Damit ich konkurrenzfähig blieb, kontrollierte Mutter meine Ernährung aufs genaueste, sie war nun eingeschränkt auf Magermilch, Eisenkrauttee und leichte Gemüsesuppen, die ich im Fläschchen zu mir nahm. Einzige Ausnahme: der Freitag, an dem es unmenschlich gewesen wäre, mir den Kuskus vorzuenthalten. Aber auch da bereitete Mutter nur in kleinen Mengen Sultansbuletten für mich zu, aus Griess, Kürbis, Rüben und Fleisch, die sie mir in den Mund steckte: ein köstlicher Moment, den ich immer ungeduldig erwartete! Im Gegensatz zu meinen Kollegen bettelte ich freitags nicht an den Moscheen- und Friedhofstüren, wenn auch das Geschäft dort florierte. Mutter war zu stolz dafür: Es war der Beweis, dass sie nicht aufs Geld aus war und es nicht dem Stil des Hauses entsprach, sich mit den Armen aus der Gosse auf eine Stufe zu stellen. In Wirklichkeit machte sie aus der Not eine Tugend: Die Bettlerinnen hatten meine Gegenwart nicht nötig, denn am Tag des Herrn waren die Gläubigen sowieso grosszügig. Mutter hatte es sich angewöhnt, meine Beine mit Bändern zu umwickeln, die sie so fest zurrte, dass sich mein Körper damit abfand, sein Wachstum auf später zu verschieben. So eingeschnürt, sah ich weiterhin wie ein Baby aus. Mein abgezehrtes Gesicht und mein Kopf, kaum grösser als eine Pampelmuse, verrieten den Trick nicht. Die Passanten spürten in mir etwas Merkwürdiges, konnten es sich aber nicht erklären. Waren es meine in ein Säuglingsgesichtchen eingesetzten Erwachsenenaugen? Jedenfalls war die Verwirrung, in die sie diese Anomalie brachte, hervorragend für das Geschäft: Da sie stehen blieben, um mich anzuschauen, waren sie umso leichter zu angeln. Ich verdiente also weiterhin gewitzt meinen Lebensunterhalt und den der Meinen. Aber die Zeit arbeitete gegen uns, denn allem und jedem zum Trotz entwickelte ich mich. Und je mehr Mutter mich beobachtete, umso mehr peinigte sie die Angst, mich wachsen zu sehen. Anfangs hatte sie mich bis zur Taille in ihre Bandagen gewickelt, aber je mehr Veränderungen, echte oder eingebildete, sie an meinem Körperumfang bemerkte, umso höher ging sie mit dem Stoff hinauf und umso fester zurrte sie ihn. Immerhin hörte sie unter den Achseln auf und liess meine Arme frei, denn das war praktischer, um an eine Brust heranzukommen, an ein Spielzeug oder um die Intimität einer Zufallsmama auszukundschaften. So kam es vor, dass ich meine Hand etwas unterhalb des Nabels spazieren führte und, wenn man mir keinen Widerstand entgegensetzte, dieses verlockende Gebiet mit den einzigartigen Ausdünstungen erforschte; blind berührte ich dieses feuchte Relief, das manchmal rau und dicht behaart, manchmal heiss und glatt war und aus Graten und Einbuchtungen bestand, und dabei zeichnete ich im Geist die Umrisse dieses merkwürdigen Tiers nach. Ich fand Gefallen daran, ich genoss diese gesegneten Momente, die ein jäher Klaps unweigerlich unterbrach. Ich beruhigte mich dann zwar, gab aber noch lange nicht klein bei. Sobald ich eine neue Mama bekam, musste ich auf die eine oder andere Weise ihr Tier betasten. Es brauchte Jahre, ehe ich endlich eines in Wirklichkeit sah. Es war Mûnia, die mir diese Gnade schenken würde, in ihrem möblierten Zimmer in unserer ersten Nacht in Casablanca. Ich werde Ihnen ihre Geschichte später erzählen. Unsere Geschichte … Gegenwärtig bin ich noch in diese Mumienbänder eingewickelt, die Mutter jeden Tag fester anzog. Ich spürte meine Füsse nicht mehr, das Blut zirkulierte kaum noch, aber ich konnte in aller Ruhe den oberen Teil meines Körpers benützen, und davon machte ich frisch-fröhlich Gebrauch. Es tat so gut, ungeniert zu niesen: Ich spürte dann, dass ich existierte. Als ich merkte, dass schon eine Vogelfeder, die ich in die Nasenlöcher steckte, dieses köstliche Beben in meiner Brust auslöste, machte ich es zu meinem Lieblingsspiel. Auch hustete ich, wie es mir passte, ohne ersichtlichen Grund. Wenn ich sah, dass ein Fahrrad zu nahe kam oder die monströsen Hufe eines Maultiers sich auf uns zubewegten oder ein Hund sein Bein an der Mauer neben uns heben wollte, wedelte ich so heftig mit den Armen und stiess so durchdringende Schreie aus, dass der ganze Platz alarmiert war. In Wirklichkeit erregte mich die nahende Gefahr nicht so sehr wie der Genuss, zu schreien und dann das Echo meines Gebrülls zu hören und seine Wirkung zu geniessen. Dieses Verhalten beunruhigte Mutter, denn es wies in die Richtung einer unabwendbaren Entwicklung. Auch wenn sie das Wachstum meiner Knochen und meines Geistes unterdrücken wollte, die Natur trat mehr und mehr in ihr Recht. Mutter spürte die Grenzen des menschlichen Eingreifens in das Werk Gottes, und dieser Befund deprimierte sie. Sie vertraute sich Tante Sinab an, die allerdings hielt sie für verrückt und fügte noch hinzu, es sei eine Sünde, ein dreijähriges Kind in Wickeltücher einzuzwängen, im Himmel werde sie einmal Rechenschaft darüber ablegen müssen. Das verschlimmerte nur die mütterlichen Ängste. Und da sie üblicherweise die Qualen des Tages in der Nacht cash bezahlen musste, bekam Mutter wieder ihre Schlafstörungen. Ihre Albträume fingen immer gleich an, variierten aber je nach der Schwere ihres Jammers. Einer quälte sie ganz besonders, und schon der Gedanke an ihn liess sie erschauern. Tante Sinab, die sich hineinversetzte, erzitterte und versteckte aus Abscheu ihr Gesicht hinter den Händen, wenn Mutter die Details erzählte: Sie liegt ausgestreckt auf einem Sofa und hält mich in den Armen, drückt mich zärtlich an sich, hebt mich hoch, um mit meinem mumifizierten Körper Flugzeug zu spielen. Mutter mochte es, wenn ich bei dieser Flugnummer lachte, die gewöhnlich in einem Schmuse- und Küsschentornado endete. Plötzlich werde ich schwerer. Und immer voluminöser. Ihre Arme geben nicht nach, sie halten es aus. Ihre Finger krallen sich in meine Achseln und verschwinden nach und nach darin. Mein Gewicht nimmt stetig und gleichmässig zu. Offenbar ist es Ziel unsichtbarer Mächte, dass es gar nicht mehr aufhören will. Mutter schwitzt und wehrt sich in irrsinniger Wut, bis sie nicht mehr kann. Bis zur völligen Erschöpfung. Da gibt sie auf. Widerwillig. Sie nimmt sich ihre Kapitulation übel und schaut zu, wie ich auf ihrem Bauch lande. Und dieser Bauch ist schön gross und bequem. Das mildert meinen Sturz ab. Zwei-, dreimal pralle ich auf, dann hüllt mich köstliche Wärme ein. Ich lasse es mir darin wohl sein, strecke mich aus und werde zusehends dicker, fettleibig wie ein Sumoringer mit Babykopf. Ich wiege eine Tonne. Vielleicht tausend. Mutter kann kaum noch atmen. Vergeblich versucht sie sich zu befreien, denn mein Fleisch nimmt überhand, es bedeckt sie überall, quillt über ihre Brüste, über Arme, Hals, Gesicht und deckt sie schliesslich vollständig zu. Sie erstickt. Ihre abgebrochenen Nägel können sie nicht befreien. Ich spüre ihre Kratzer nicht mehr. Schreien ist unmöglich, ihr Mund ist voll. Sie fängt zu kauen an. Der Geschmack ist bitter. Es ist, als ob sie ihr eigenes Fleisch ässe. Brechreiz. Ihr ist übel. Ihre Augen sind geschlossen. Jemand hat ihre Lider mit schwarzem Faden zugenäht. Aber trotzdem nimmt sie die Metamorphose wahr, sie kann es nicht fassen: Ich bin jetzt ein Kamel, ausgestattet mit prächtigen Höckern, sie betastet mich und lächelt. Meine Speicher sind prall mit Fett gefüllt. Das beruhigt sie. Sie streichelt mich, schmeichelt mir, sie weiss nicht, dass ich mich gleich umdrehen und sie unter meiner Verzweiflung erdrücken werde. Sie ist regungslos, stumm und besiegt. Wartet auf ein Ende, das nicht kommt. Sie stimmt Gebete an, Koranverse, in denen sich die Worte vermischen, zwischen Hölle und Paradies dahintreiben, wo die Engel völlig ungestraft mit Dämonen flirten. Endlich kommt die unausweichliche Rutschpartie, in der ihr Geist in Feuer und Blut versinkt und die ihr den Magen umdreht. Mit übermenschlicher Anstrengung sucht sie Befreiung in einem frischen Luftstrom, mit dem aber nicht zu rechnen ist. Hustend, schweissgebadet wacht sie auf. Sie spuckt, beschimpft den Dschinn, dessen Machenschaften sie beinahe hinweggerafft hätten. Dieser Traum vergiftete immer wieder die Nächte meiner Mutter. Der Grund? Mein Herumtoben, mein ausgelassenes Treiben, das die Bettlerinnen mit der Zeit für unerträglich hielten. Sie erhoben sogar Anspruch auf eine Anpassung meines Mietpreises, um den Unannehmlichkeiten, die ich verursachte, Rechnung zu tragen. Sie behaupteten, dass sich manche Passanten wegen meiner Ungezogenheit von ihnen abwandten, denn ich erinnerte sie an die Unarten ihrer eigenen Nachkommenschaft, und sie hätten mich lieber verkloppt als ein Almosen gegeben. Aber bei Geldangelegenheiten wurde Mutter wieder zur furchteinflössenden Geschäftsfrau. Mit Klauen und Zähnen verweigerte sie noch die geringste Preissenkung und drohte, sich schlimmstenfalls höchstpersönlich draussen hinzuhocken und das Vermögen einzusammeln, das Gott der Frucht ihres Leibes im Überfluss schickte. Wenn die Bettlerinnen nicht zufrieden waren, sollten sie doch woandershin: Es gab genug Hinkebeine in der Medina … Nach stundenlangem Hin und Her rauften sich die Frauen zusammen: Mutter lenkte ein und kam auf die früheren Tarife zurück, wenn auch nur für eine begrenzte Dauer. Sie lud die Bettlerinnen zum Tee ins Haus ein, wo sich der Streit in Wohlgefallen auflöste. Beim Abschied besiegelten sie ihr Einvernehmen mit innigen Umarmungen, denn letzten Endes lag niemandem etwas daran, sich gegenseitig die Tour zu vermasseln. Mutter versprach, so...