Bille | Dunkle Wälder | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 160 Seiten

Bille Dunkle Wälder

Roman
1. Auflage 2013
ISBN: 978-3-85869-569-7
Verlag: Rotpunktverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection

Roman

E-Book, Deutsch, 160 Seiten

ISBN: 978-3-85869-569-7
Verlag: Rotpunktverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection



Blanca, eine Frau um die fünfzig, verbringt den Sommer in einem Chalet in den Walliser Bergen. Weit weg von den Menschen verlebt sie ihre Tage. Nur gelegentlich kommt ihr Mann aus dem Tal herauf, einzig Hund und Katze sind ihre Begleiter. Vor ihrem Auge erstreckt sich ein dichter, dunkler Wald. Sie beginnt, ihn zu erkunden, mit jedem Tag taucht sie tiefer ein, verirrt sich, verliert sich, verschmilzt mit der gewaltigen Natur. Dabei begegnet ihr Guérin, ein Knecht, der von Hof zu Hof wandert und sie fortan mit Geschenken aus dem Wald überrascht. Diese menschliche Urgestalt, roh und zart zugleich, erschreckt sie und zieht sie magisch an. - Als Blanca eines Tages tot in ihrem Chalet aufgefunden wird, glaubt man gleich an ein Verbrechen. Von Corinna Billes letztem Roman geht die hypnotische Kraft eines Traums aus. Vordergründig erzählt sie von Blumen, Pilzen, Bäumen - doch der Leser spürt, dass Unheimliches, ja eine zunehmende Todesahnung dahinter lauert. Dabei lotet sie die menschliche Einsamkeit zwischen nackter Angst und Momenten grenzenloser Freiheit aus und dringt in ihrer schlichten, direkten Sprache zum Wesentlichen vor.

S. Corinna Bille gilt als eine der bedeutendsten Schriftstellerinnen der Westschweiz. Sie wurde 1912 in Sierre im Wallis geboren als Tochter des Malers Edmond Bille und einer Bergbäuerin. 'Lehrjahre' in Paris und Zürich. Später 'Nomadenleben' im Wallis, gemeinsam mit anderen Schriftstellern, darunter Maurice Chappaz, den sie 1947 heiratet. 1979 verstarb sie an ihrem Geburtsort. Corinna Bille hat mit ihren anrührenden Schilderungen von Mensch und Landschaft der Walliser Bergwelt ein Denkmal gesetzt. Für ihr Werk wurde sie 1974 mit dem Schillerpreis und 1975 mit dem Prix Goncourt de la Nouvelle ausgezeichnet. Der Roman Dunkle Wälder, in dessen Schauplatz unschwer das Walliser Chalet Les Vernys des Autorenpaars zu erkennen ist, erschien erstmals 1989. Chappaz hat das Werk, an dem sie mehr als zehn Jahre gearbeitet hat, anhand ihrer Anmerkungen bearbeitet und herausgegeben.
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In der zweiten Nacht allein schlief sie ruhiger und stand nicht so früh auf. Da Blanca nicht zur Hausfrau geboren war, glaubten gewisse Frauen, sie sähe die Flecken und den Staub nicht. Irrtum! Aber sie wollte sich eben nicht die meiste Zeit ihres Lebens damit abgeben. Die gleichen Frauen hatten gespottet: »Er kauft hektarweise Gestrüpp, aber seine Frau kriegt nie ein neues Kleid.« Ach, ihre Freundinnen! Blanca hatte immer Mühe gehabt mit ihnen. Dauernd wurde sie bemitleidet: »Die Schönheit vorbei, die Intelligenz hinüber! Sie verdummt wie eine Dienstmagd, wie eine Sekretärin und wie ein Engel.« Ach! Als wenn sie alles in Blanca zerstören wollten. Aber nichts war je wirklich in ihr zerstört worden, alles wuchs wieder, lebte wieder auf wie in diesen wilden Wäldern hier.

Es war merkwürdig, absurd, vielleicht sogar lächerlich, aber sie hatte immer den Eindruck gehabt, unsterblich zu sein. Erst hatte sie geglaubt, dass sie nicht altern würde. Zwar wusste und vor allem spürte sie wohl: Sie würde altern, sie würde sterben; aber das Gefühl von Unsterblichkeit blieb. »Vielleicht liebe ich ja die Natur so sehr, dass ich mich für ebenso unsterblich halte wie sie? Ist es das?«, fragte sie sich. Ja, nichts in ihr würde je zerstört werden.

Blanca kochte nicht mehr, ernährte sich von Brot, Butter, Käse, Schokolade, lediglich Wasser stellte sie auf, für Tee und zum Zähneputzen. Schließlich aß sie kaum mehr etwas und schlief sehr wenig, so sehr ersetzte ihr das Glück Nahrung und Schlaf. »Vielleicht ernährt mich ja die Luft«, dachte sie. Sie gab sich der Einsamkeit hin. Nichts ging sie etwas an, kein Kochtopf, kein Besen. Sie konnte sich ihren kleinen Zeichnungen und ihrer Lektüre widmen. Ja, das erinnerte sie an die Zeit ihrer ersten Lieben, diese Begeisterung, dieses Atemholen in der Natur, dieses unermüdliche Staunen. Ein stärkerer Duft, den sie nicht mehr ergründen wollte, versenkte sie in eine wohlige Mattigkeit, in der sie kaum noch ihren Herzschlag spürte, der hier heftiger war als unten in der Ebene. Sie wurde träge, wie sie es schon lange nicht mehr gewesen war. Es hätte wohl noch einige Fliesen zu putzen gegeben und einige Stoffe zu nähen. Aber das würde sie erledigen, wenn ihr Mann wieder da war. Dann, das wusste sie, würde sich eine gewisse Verzauberung lösen, er würde unwissentlich dieses wunderbare Band zerschneiden, das sie mit der Erde so natürlich verband wie das Atmen. »Man soll dem Schöpfer den Vorzug vor seiner Schöpfung geben«, hatte Clemens einmal zu ihr gesagt.

»Ich bin glücklich, ich bin glücklich …«, erklangen ihre Worte. Hund und Katze hörten zu. Sie hörten immer zu, wenn sie laut sprach, mit einem Quäntchen Verrücktheit, das ihr nichts ausmachte.

»Ja«, sagte sie zu Mora, der im Liegen die Unterseite seines Kinns so dem Himmel zuwenden konnte, dass er ihr damit zu verstehen gab: Ich bin auch glücklich. »Das hast du gut gemacht, dass du zurückgekommen bist. Du wirst alle die Mäuse fressen, die ins Chalet herein wollen. Wenn du verloren gegangen wärst, dann wäre eine richtige Wildkatze aus dir geworden, du bist ihnen ähnlich, nur dass dir dieser schwarze Streifen auf dem Rückgrat fehlt. Heute (sie wandte sich an den Cockerspaniel) werde ich ein wenig das Land ablaufen. Du kommst mit. Der Wald da unten verlockt mich, ich möchte seine Blätter und Nadeln und seine Stämme und dieses dunkle Licht aus der Nähe sehen. Und über diese Wiese dort gehen, deren helles Grün silbrig durchsetzt ist von allerlei Astern und Schierlingen.«

Sie nahm also einen krautigen Weg bergab, der Hund schlich hinter ihr her. Manchmal warf sie ihm einen Stein zu. Bald war sie am Waldrand.

»Ich betrete meinen Wald.« Es war wirklich das erste Mal in ihrem Leben, dass sie so etwas erlebte. Sie hatte Gärten und sogar Bäume und Hecken besessen, aber einen echten Wald? Nie. Andächtig ging sie in diesem Schatten weiter. Plötzlich hielt eine warme, nach Rinde duftende Strömung sie auf. Hier wichen die Bäume auseinander und ließen die Sonne herein, und unter einer Lärche lag ein großer Stein, auf den sie sich setzte. Wie die schönsten Wälder, die ich je gesehen habe, nein, schöner als alle schönen Wälder. Aber sie wollte noch weiter hinunter. »An den Felsen ist die Grenze«, hatte ihr Mann gesagt. Sie wollte es sehen. Üppig und glänzend wuchs das Gras auf dem steilen Abhang, dann sah sie die Felsen. Ja, sie war am äußersten Rand ihres Lands angelangt, wenige Schritte vor dem Abgrund. Und genau da zeichnete sich links von ihr, zwischen dem Abgrund und dem Wald, ein kleiner Pfad ab, der von einer tiefen, von Erlen umstandenen Wiese herkam. Mit unsäglichem Glücksgefühl folgte sie ihm. Ein Weg von uns, für uns …

Würde sie Schlangen begegnen? Vielleicht. Aber das wären dann Schlangen. Sie empfand Zuneigung zu ihnen. Der Pfad führte immerzu und immer weiter durch diese Mischung von Kiefern, Birken und Lärchen. Hatte sie jetzt ihr Land verlassen? Sie wusste es nicht. Ein anderer kleiner Weg, der ein wenig breiter war, bot sich ihrem Blick, dann verschwand er unter den Stämmen. Hier gab es keine Felsen, aber der immer noch abschüssige Wald wurde dunkler. Blanca konnte nicht widerstehen. Sie ging immer weiter hinunter. Egal, sie wollte es sehen. Wenn sie immerzu so weiterging, kam sie dann nicht ganz hinunter ins Tal? Denn sie hatte von einem Weg gehört, der von ihrem Chalet aus dorthin führen sollte. Also gut, von jetzt an gehe ich wieder hinauf. In einer Bergspalte machte sie kehrt, neben einer mit grauer Erde bedeckten Erhebung, und weiter weg sah sie unter sich einen Felssporn, der von Bäumen bekrönt war, ihre Wurzeln ernährten sich wohl mehr vom Himmel als von der Erde. »Das wird ja immer besser!«, staunte sie. Blanca hatte diesen Bug hinter dem Vorhang der Zweige nicht vermutet, er bewegte sich mit, als sie weiterging, in einem Blau, so kräftig, dass es ganz dunkel wurde. Etwas außer Atem dachte sie, dass sie nun wohl wirklich ihr Land hinter sich gelassen hatte. Wo war das Chalet? Sie kletterte hoch, und bald sah sie es durch die Lärchen hindurch wie einen kleinen honigfarbenen Würfel. Sie blieb stehen und schaute sich um. Da, einige Heidelbeersträucher, und auf fast schwarzem Boden zwei Orchideen: Waldvögelein, selten, noch nie gesehen. Die Aufregung benahm ihr plötzlich den Atem, und dabei wollte sie doch diese Luft fortwährend tief einatmen. Ich werde noch eine zweite Jugend erleben. Ach! Schon lange war sie nicht mehr so glücklich gewesen, so erfüllt von einem weiten, sanften, erträglichen Glück. Denn manches Glück ertrug sie schlecht, aber dieses hier war genau für sie gemacht, es entsprach ihren Geheimnissen und war ganz natürlich: Es ängstigte sie nicht. Ein verrücktes Glück kann wie eine Krankheit sein, dachte sie.

Sie stieg immer noch hinauf und erkannte bald die Kiefer wieder, deren rosa Ast in ihr die doppelte Vision von einer Schaukel und einem Erhängten ausgelöst hatte. Der Weg ging nun hinter dem Grenzgatter weiter. Sie kroch darunter durch und war auf der Wiese vor dem Chalet angelangt.

Als sie ankam, war ihr Mann schon da, saß auf der Terrasse im Osten und hatte sein Hemd zum Trocknen über das Geländer gehängt.

»Hast du den Schlüssel gefunden?«

Sie küssten sich, und sie flüsterte ihm in sein schönes feines Männerohr: »Danke für das Land.« Er schien sich zu freuen.

»Du errätst nie, was ich unten erlebt habe«, sagte er.

»Nein.«

»Ich war auf der Beerdigung vom Unternehmer Famattre. Stell dir vor: Gleich an die Zeremonie des Pfarrers schloss sich eine Freimaurer-Zeremonie an! Ein paar schwarz angezogene Typen mit drei Rosen in der Hand haben den Priester im Messgewand in dem Moment umringt, als er sich umdrehte, er ließ es geschehen, und einer von ihnen sprach ein Grußwort: Unser Bruder Roland …«

»Wenn ich daran denke, was man uns in der Schule weismachen wollte«, sagte Blanca, plötzlich bedrückt, »dass der Teufel höchstpersönlich ihre Versammlungen leitet.«

»Die besten Absichten bringen den Teufel zurück.«

»Arme Kirche! Sie will sich ändern und verfällt ins andere Extrem.«

»Es ist nie zu spät.«

»Doch! Stell dir vor: die protestantischen Reformatoren, die das fünfhundert Jahre vor uns herausgefunden haben, gelten nun als Genies.«

»Du übertreibst.«

»Und was ist mit der Liebe?«, sagte Blanca, »ich hab mir nie Gedanken darüber gemacht, ob ich dabei nun sündige oder nicht. Aber ich habe eine Freundin, die bekam jedes Jahr ein Kind. Als sie nach dem sechsten wirklich genug hatte, traute sie sich nicht mehr zur Beichte. Sie sagte: Da machen mir die Priester ein...


S. Corinna Bille gilt als eine der bedeutendsten Schriftstellerinnen der Westschweiz. Sie wurde 1912 in Sierre im Wallis geboren als Tochter des Malers Edmond Bille und einer Bergbäuerin. "Lehrjahre" in Paris und Zürich. Später "Nomadenleben" im Wallis, gemeinsam mit anderen Schriftstellern, darunter Maurice Chappaz, den sie 1947 heiratet. 1979 verstarb sie an ihrem Geburtsort. Corinna Bille hat mit ihren anrührenden Schilderungen von Mensch und Landschaft der Walliser
Bergwelt ein Denkmal gesetzt. Für ihr Werk wurde sie 1974 mit dem Schillerpreis und 1975 mit dem Prix Goncourt de la Nouvelle ausgezeichnet. Der Roman Dunkle Wälder, in dessen Schauplatz unschwer
das Walliser Chalet Les Vernys des Autorenpaars zu erkennen ist, erschien erstmals 1989. Chappaz hat
das Werk, an dem sie mehr als zehn Jahre gearbeitet hat, anhand ihrer Anmerkungen bearbeitet und herausgegeben.



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