E-Book, Deutsch, 165 Seiten
Biewer / Kremsner / Proyer Inklusive Schule - Handlungsfeld motorische und kognitive Entwicklung
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-17-034743-4
Verlag: Kohlhammer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 165 Seiten
ISBN: 978-3-17-034743-4
Verlag: Kohlhammer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Das Buch präsentiert Überblickswissen zu motorischen und kognitiven Beeinträchtigungen. Bewusst verabschiedet es sich von sonderpädagogischen Zugängen und der traditionellen fachrichtungsorientierten Sicht (der Geistig- und Körperbehindertenpädagogik). Unter inklusiver Perspektive erfolgt die Auseinandersetzung mit Begriffen und Theoriezugängen der Vergangenheit und Gegenwart. Für die zukünftige Entwcklung propagiert es ein pädagogisches Handeln und eine Unterrichtsgestaltung, die selbstbestimmtes Lernen fördert und Leichte Sprache und Unterstützte Kommunikation als Mittel zum Abbau von Barrieren betrachtet. Im Ausblick verweist es auf ungelöste Probleme und offene Fragen, um schulische Inklusion zu realisieren.
Weitere Infos & Material
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Grundlegende Begriffe und Systematiken sowie deren Kritik aus der Perspektive Inklusiver Pädagogik
Worum es geht
Dieses zweite Kapitel erläutert Bezeichnungen für die Bezugsgruppen im Handlungsfeld kognitive und motorische Entwicklung. Dabei skizziert es zunächst die Begriffsgeschichte, bevor auf aktuelle Termini in pädagogischen und insbesondere schulischen Kontexten eingegangen wird. Aus der Fülle möglicher somatischer Faktoren, welche die motorische und kognitive Entwicklung beeinträchtigen können, beschreibt das Kapitel einige besonders häufige Beispiele anhand von Darstellungen der einschlägigen, überwiegend medizinischen und psychologischen bzw. von diesen Disziplinen allzu oft geprägten (sonder-)pädagogischen Literatur. Auch in heute verwendeten Begriffen spiegelt sich eine Entwicklung wider, die vom medizinischen Modell von Behinderung ausgeht, tendenziell in traditionellen Ansätzen einer Heil- und Sonderpädagogik vertreten ist und über das soziale Modell von Behinderung der Disability Studies bis hin zum menschenrechtlich orientierten Zugang Inklusiver Pädagogik reicht. Wenn mit einem Begriff ein Gegenstand oder Sachverhalt benannt wird, der diesen von anderen unterscheidet, können wir von Klassifizierungen sprechen. Es sind alltägliche Vorgänge, die uns helfen, einzelne Merkmale zu Gruppen zusammenzufassen. Ohne Klassifizierungen ist es nicht möglich, unseren Alltag zu gestalten. Wenn Banane, Apfel, Birne und Pflaume als Obst bezeichnet werden, ist dies eine Klassifizierung, die wir im Alltag durchführen und die vermutlich kaum auf Kritik stoßen wird. Im Wissenschaftsbereich sind Klassifizierungen oder Kategorisierungen Teil normierter Begriffssysteme, die Aussagen über ihren Gegenstandsbereich ermöglichen. Sie vereinfachen die Kommunikation, da komplexe Sachverhalte nicht immer wieder aufs Neue erklärt werden müssen, sondern an einem gemeinsamen fachlichen Wissen angeknüpft und darauf Bezug genommen wird. Wissenschaft benötigt Begriffe, um diejenigen Inhalte zu benennen, über die sie Aussagen trifft. Diese sind zumindest innerhalb der Sozialwissenschaften in den seltensten Fällen einheitlich und werden mitunter vehement diskutiert. Klassifizierungen im Kontext von Bildung und Erziehung bewegen sich in hochkomplexen Strukturen, die unterschiedliche Deutungen zulassen. Dazu gehören auch Klassifizierungen von Beeinträchtigungen motorischer und kognitiver Entwicklungen, die aber auch eine Hilfe für professionelles Handeln darstellen können. Leider werden aber auch Personen oder gar Personengruppen auf der Grundlage bestimmter Zuschreibungen klassifiziert. Diesen Umstand versucht die Inklusive Pädagogik zu kritisieren, während sie, wie auch in diesem Buch ersichtlich, mitunter selbst nicht umhinkommt, diese Klassifizierungen zu benutzen und damit sicherlich ein Stück weit auch zu reproduzieren. Die Wahl der benutzten Termini kann zu Problemen führen, insbesondere wenn es sich um komplexe und strittige Sachverhalte oder gar um Bezeichnungen für Personen(-gruppen) handelt und Termini aus unterschiedlichen Begriffssystemen gewählt werden können. Demnach sind gewählte Begriffe sorgsam zu reflektieren und beständiger Kritik zu unterziehen. 2.1 Begriffe der Vergangenheit
Die motorische und kognitive Entwicklung von Kindern kann durch somatische Beeinträchtigungen erschwert sein. Hierfür wurden seit den ersten Beschreibungen der Phänomene unterschiedliche Begriffe verwendet, die später stigmatisierende Funktionen erlangten und teilweise immer noch im (alltagssprachlichen) Gebrauch sind. Daher lohnt sich ein Blick zunächst auf die Genese von Begriffen. Im 19. Jahrhundert wurden Begriffe wie ›Idioten‹ oder ›Krüppel‹ verwendet, die heute nur noch als Schimpfwörter zu finden sind – und zwar sowohl in der Alltagssprache als auch in damaligen Fachveröffentlichungen, beispielsweise in der Medizin. Sierck (1987) skizziert die Zugänge zu bzw. Haltungen gegenüber so bezeichneten Personen(-gruppen) im Verlauf der Geschichte folgendermaßen: Er sieht ›Krüppel‹ als denjenigen Begriff an, der anfangs Verwendung für alle Gruppen behinderter Menschen fand. Das (frühe) Christentum betrachtete ›Krüppel‹ als leidende Brüder bzw. Schwestern, die aus Mitleid versorgt werden müssten – gipfelnd in der regen Gabe von Almosen, um sich von eigenen Sünden freizukaufen. Diese Praktiken werden gegenwärtig auch im globalen Kontext (z. B. religiös geprägt) verhandelt und beeinflussen die Ausgestaltung u. a. der Bildungsangebote für behinderte Menschen mit. Mit dem Ende der frühen Neuzeit wandelte sich dieses Bild, und ›Krüppel‹ wurden im christlich geprägten Raum als ›Wesen fremder Welten‹ auf dem Scheiterhaufen verbrannt, weil bei ihnen – übrigens Martin Luther folgend – die Hand des Teufels »die Taubheit, die Stummheit, die Lahmheit und das Fieber« (Sierck 1987, o. S.) verursache. In den folgenden Dekaden und Jahrhunderten überlebten ›Krüppel‹ vorwiegend durch Almosen und Bettelei, aber auch dadurch, dass sie z. B. im Zirkus oder am Hof zur Schau gestellt wurden (vgl. ebd.). Mit der Aufklärung wandelte sich das Interesse an der bislang breit gefassten und kaum ausdifferenzierten Personengruppe der ›Krüppel‹: Bedingt wurde dies einerseits durch die sich langsam, aber stetig entwickelnden Fortschritte in der Medizin, insbesondere durch die Entstehung der Orthopädie. Mit den langen Aufenthaltszeiten der Kinder in den orthopädischen Kliniken entstanden erste Versuche, strukturierte Bildungsprozesse auch dort anzubieten (vgl. Möckel 2007). Schulen, die im Kontext von Beeinträchtigungen der motorischen Entwicklung Relevanz besitzen, fanden sich im deutschsprachigen Raum ab dem frühen 19. Jahrhundert als ›Krüppelschulen‹, die räumlich an orthopädische Anstalten angebunden waren. Der Fokus in diesen Einrichtungen lag auf der medizinischen Behandlung der Schüler:innen insbesondere mit Geräten und Hilfsmitteln (vgl. ebd.). Der Begriff ›Krüppel‹ wurde nunmehr vorwiegend für jene Personen gebraucht, die in ihrer motorischen Entwicklung behindert wurden; er fand bis weit ins 20. Jahrhundert hinein Verwendung. Andererseits ist jedoch auf die mit der Industrialisierung einhergehenden gesellschaftlichen Verschiebungen hinzuweisen, die insbesondere auf die wirtschaftliche ›Verwertbarkeit‹ von Menschen abzielen. Bezogen auf den Kontext Schule lässt sich hier etwa feststellen, dass »die im 17. und 18. Jahrhundert erfolgende Transformation der Elementarschulen einen Prozess dar[stellt], in dessen Rahmen über eine Modifizierung der schulinhärenten Strukturen und Praktiken gesunde, ausnutzbare Körper hervorgebracht werden sollen, die für die entstehende kapitalistische Ökonomie der Frühmoderne verwertbar sind« (Buchner 2018, 62). Der Begriff der körperlichen Behinderung wurde als positiv konnotierte Bezeichnung in den 1920er Jahren eingeführt. Eine terminologische Neuorientierung wurde nötig, weil es bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts bei Eltern und betroffenen Menschen ein breites Unbehagen mit dem Begriff ›Krüppel‹ gab, der sowohl in Gesetzestexten als auch in der Bezeichnung von Institutionen weit verbreitet war (vgl. Wilken 1983). Schulen, die Behinderungen im Bereich der kognitiven Entwicklung fokussieren, etablieren sich ebenfalls ab der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts; die dieser Personengruppe zugeordneten Menschen wurden als ›Kretine‹, ›Blödsinnige‹ oder ›Idioten‹ bezeichnet (vgl. Gstach 2016). Ab dem Ende des 19. Jahrhunderts entwickelte Kraepelin (1916) das weit verbreitete Modell der »Allgemeinen psychischen Entwicklungshemmungen (Oligophrenien)«, mittels dem die zuvor üblichen Bezeichnungen ›Schwachsinn‹, ›Blödsinn‹ und ›Kretinismus‹ durch den Übergriff ›Oligophrenie‹ abgelöst werden. Das Kraepelin-Modell wurde im Weiteren mit den 1905 von Binet-Simon beschriebenen kindlichen Entwicklungsstufen verknüpft, sodass letztlich drei Formen der ›Oligophrenien‹ unterschieden wurden (vgl. 273–297): Idiotie wurde mit der kindlichen Entwicklung vom Ende des 1. bis zum 6. Lebensjahr gleichgesetzt. Imbezillität wurde mit der kindlichen Entwicklung vom Ende des 6. Lebensjahres bis zum Beginn des 14. Lebensjahres verglichen. Debilität entspricht diesem Modell zufolge der Entwicklung vom beginnenden 14. bis zum vollendeten 18. Lebensjahr. (vgl. 281f.) Dieses Modell hat sich rasant und großflächig verbreitet,...