Bierhoff Spielunterbrechung
12001. Auflage 2012
ISBN: 978-3-8437-0333-8
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Man muss nicht schnell laufen, man kann auch richtig stehen
E-Book, Deutsch, 304 Seiten
Reihe: Ullstein eBooks
ISBN: 978-3-8437-0333-8
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Oliver Bierhoff war 17 Jahre Fußball-Profi, Europameister, Vize-Weltmeister und Deutschlands Fußballer des Jahres 1998. Er ist einziger deutscher Torschützenkönig in Italien und wurde mit dem AC Mailand italienischer Meister. Seit Juli 2004 ist er Manager der deutschen Fußball-Nationalmannschaft. Neben seiner sportlichen Laufbahn hat Bierhoff ein wirtschafts-wissenschaftliches Studium als Diplom-Kaufmann erfolgreich abgeschlossen.
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Fußball – Mikrokosmos und Spiegelbild der Gesellschaft
Spielunterbrechung: Das ist kein Wort, das Fußballfans gern hören. In meinen Jahren als Spieler und Manager jedoch habe ich festgestellt: Der Sinn oder Unsinn einer Spielunterbrechung hängt davon ab, aus welcher Perspektive man sie betrachtet und was man daraus macht. Wenn wir die Rolle des Zuschauers verlassen und zum Akteur werden, ist eine Spielunterbrechung eine äußerst produktive Angelegenheit.
Als früherer Spieler und heutiger Manager der deutschen Fußballnationalmannschaft habe ich Spielunterbrechungen über die Jahre immer mehr zu schätzen gelernt – nicht nur auf dem Fußballfeld. Während des Spiels gibt eine Unterbrechung Spielern und Trainer die Möglichkeit, durchzuschnaufen, sich vom hohen Tempo des Spiels zu erholen. Man hat Zeit, sich untereinander auszutauschen, Gedanken zu sammeln, zu analysieren und taktische Korrekturen vorzunehmen. Meist ist eine durch Foulspiel begründete Spielunterbrechung auf dem Platz zu kurz. Mehr als ein schnelles Zurufen ist da selten möglich.
Fußballspieler kennen aber auch noch andere Formen der Spielunterbrechung, die dem Denken mehr Raum geben. Das sind zum Beispiel die Ruhephasen bei internationalen Turnieren, wenn innerhalb kürzester Zeit Spiel auf Spiel folgt. Die Ruhe nach dem Spiel, allein auf dem Zimmer oder mit den Kollegen am Tisch. Aber auch die Phasen nach einer Sperre oder Verletzung, durch die man kurzfristig aus dem Alltag mit der Mannschaft herausgerissen wird. Diese Pausen außerhalb des Spielfelds geben den Spielern und allen anderen Beteiligten Zeit zum Nachdenken und Reflektieren.
Manchmal sind diese Unterbrechungen sehr einschneidend, etwa wenn es darum geht, dass der Verein gewechselt wird oder die Karriere aufgrund von Alter oder einer massiven physischen Verletzung beendet werden muss. Auch diese Spielunterbrechungen ermöglichen es den Spielern, sich aus dem hohen Tempo und der Alltagsroutine auszuklinken.
Das Leben eines Profifußballers ist von der Notwendigkeit ständiger Präsenz und schneller Leistungssteigerung geprägt. Das bringen die hohen Anforderungen und Ansprüche der Vereine, Medien, Sponsoren, der Öffentlichkeit und – nicht zu vergessen – des Freundes- und Familienkreises mit sich. Allein die Folgen dieses Drucks können freiwillige und unfreiwillige Auszeiten herbeiführen. Leider werden freiwillige Pausen meist noch als Schwächen in diesem »harten Männergeschäft« betrachtet.
Es gibt also verschiedene Spielunterbrechungen: Auf manche würden wir lieber verzichten, andere sehnen wir regelrecht herbei. Eins aber gilt für jede Spielunterbrechung: Sie wird wertvoll, wenn wir sie zu nutzen wissen. Wenn wir uns die richtigen Fragen stellen und herausfinden, was wir aus ihr lernen können.
Ich habe in meiner Zeit als Spieler selbst Spielunterbrechungen erlebt. Und ich habe gelernt, sie zu nutzen. Durch sie habe ich Zeit gehabt zu verstehen, wie ich und meine Umwelt funktionieren, wie ich mich verhalte und was ich in bestimmten Situationen selbst verbessern oder zumindest verändern kann. Wäre ich nicht hin und wieder stehen geblieben oder zum Stehenbleiben gezwungen worden – ich hätte mich nicht umschauen können. Und ich hätte nicht erkennen können, was um mich herum passierte. Dabei habe ich interessante Beobachtungen gemacht und gelernt, Zusammenhänge besser zu verstehen. Ich konnte meine persönlichen Erfahrungen leichter einordnen und habe daraus wichtige Schlüsse gezogen. In Bezug auf manche Themen habe ich durch Spielunterbrechungen sogar meine Einstellung geändert. Das ist wie beim Training. Die Trainingslehre sagt uns, dass der Körper nach einer intensiven Belastung Pausen zur Regeneration und Entwicklung auf eine nächste Stufe braucht. Das Gleiche gilt für den Geist. In unserer heutigen schnelllebigen Zeit mit ständigen Eindrücken, Herausforderungen und Aktivitäten kommen wir geistig selten zur Ruhe. Wann kann sich der Kopf erholen?
Viele Menschen fragen mich, was ich damals, 1996, beim Golden Goal gefühlt habe. Die enttäuschende Antwort ist: gar nichts. Ich war voll auf mein Spiel konzentriert, und hinterher waren die Gefühle so intensiv, dass ich sie erst einige Tage später verarbeiten konnte. In der Spielunterbrechung des Urlaubs, fern von intensiven Eindrücken, die mich davon abgehalten hätten. Alles braucht seine Zeit.
Heute bin ich davon überzeugt, dass es wichtig ist, sich Zeit zu nehmen und diese Auszeiten gezielt zu nutzen. Sie geben unseren Ideen Raum zu reifen. Sie verleihen unseren Entscheidungen die nötige Klarheit.
Spielunterbrechungen können Ausgangspunkt für neue Perspektiven sein. Und diese neuen Sichtweisen und Überlegungen bedürfen einer offenen, toleranten und vorurteilsfreien Geisteshaltung, was ich mit dem Untertitel »Man muss nicht schnell laufen, man kann auch richtig stehen« ausdrücken will.
»Man muss nicht schnell laufen, man kann auch richtig stehen« – das ist ein Satz, den ich gegenüber Mehmet Scholl geäußert habe. Mehmet hatte mich in der Kabine nach dem Europameisterschaftsfinale in London 1996 mal wieder auf den Arm genommen und mich bei meinen Spitznamen »Speedy« gerufen. Eine halbe Stunde zuvor hatten wir mit einem 2:1-Sieg gegen die Tschechische Republik den EM-Pokal gewonnen, nach 1972 und 1980 zum dritten Mal. Beide Tore erzielte ich, darunter das erste Golden Goal in der Fußballgeschichte.
»Speedy« nannte mich Mehmet, der für seine witzigen, oft ironischen Sprüche bekannt ist, zum ersten Mal beim Training. Eine Anspielung auf meine nicht allzu große Schnelligkeit. Wahrscheinlich hatte ich mal wieder einen Pass von ihm nicht erreicht. Und dann, nach dem Führungstreffer der Tschechen im EM-Finale 1996, war ich in der 69. Minute für – ja, Mehmet Scholl eingewechselt worden. Nach Erzählungen soll er über diese Auswechslung auf dem Weg zur Bank geschimpft haben wie ein Rohrspatz. Der Rest ist Geschichte. Und als wir uns am Ende in der Kabine freudig in den Armen lagen und er mich mal wieder spaßhaft »Speedy« nannte, gab ich ihm diese Antwort: »Man muss nicht schnell laufen, man kann auch richtig stehen.«
Trotz offensichtlicher Schwächen kann man also Erfolg haben. Denn es ist möglich, diese Schwächen mit anderen Fähigkeiten zu kompensieren. Etwa genau dort zu stehen, wo andere vielleicht erst noch schnell hinlaufen müssen. Das ist das Schöne am Fußball: Es haben bei ihm große und kleine, langsame und schnelle Spieler Erfolg, technisch versierte und solche, die vor Energie sprühen und am liebsten immer vorpreschen. Im Leben außerhalb des grünen Rasens ist es meiner Meinung nach nicht anders. Es gibt erfolgreiche Menschen, die eine Bilderbuchausbildung genossen haben und deren Weg vorgezeichnet war. Wenn man die Biographie von John F. Kennedy liest, entsteht der Eindruck, dass er einfach Präsident der USA werden musste. Andere wiederum erzielen größte Erfolge gegen alle Widerstände mit Autodidaktik, Visionen und unkonventionellen Methoden. Steve Jobs ist dafür ein gutes Beispiel. Mit seiner Leidenschaft für Technologie, Innovation und Design ist er ohne Studienabschluss zum Pop-Star des Silicon Valley aufgestiegen, spektakulär gescheitert, nur um bei Pixar mit »Toy Story« ein neues Zeitalter der Animationsfilme einzuleiten und nach seiner Rückkehr zu Apple unser aller Leben endgültig zu revolutionieren.
Bei einer Spielunterbrechung gilt es aber nicht nur darum innezuhalten und nachzudenken, sondern dies auch mit Toleranz und Offenheit für die verschiedenen Wege und Seiten des Lebens zu tun. Häufig urteilen wir schon im Voraus, ohne weitere Kenntnisse, bewerten, wie oder was jemand ist, wie er etwas macht oder erreicht. Nicht selten denken wir in Kategorien von Schwarz und Weiß, anstatt die vielen Schattierungen dazwischen zu sehen, die uns möglicherweise ganz anders urteilen lassen würden. Während der EM-Zeit 1996 erfuhr ich durch Mehmet und durch andere, dass die Grauzonen zwischen »Speedy« und dem Golden Goal wahrgenommen wurden. Ich hatte das Glück, dass ich durch meinen Erfolg Vorverurteilungen widerlegen konnte. Zumindest wurden sie hinterfragt.
So ist es oft, im Fußball wie im Leben: Unsere wichtigsten Lektionen müssen wir uns selbst erarbeiten. Mit unserer ganzen Persönlichkeit müssen wir uns dahinterklemmen, wenn wir Vorurteile überwinden und Veränderungen erreichen wollen. Doch ohne persönliche Beispiele, ohne die Impulse von anderen würde uns vieles verschlossen bleiben. Immer wieder habe ich festgestellt, dass sich meine Begegnungen und Erkenntnisse in der Welt des Fußballs auch auf mein Privatleben auswirkten. Insofern kann ich sagen: Der Fußball mit all seinen Facetten gilt für mich als Schule des Lebens.
Viele meiner Beobachtungen, Erfahrungen und Schlussfolgerungen habe ich aufgeschrieben. Diese Sammlung von Eindrücken und Gedankenspielen habe ich über die Jahre durch Zeitungsartikel und Zitate aus Büchern ergänzt, die meine Ansichten spiegelten oder auch erweiterten. Im Laufe der Zeit ist eine stattliche Anzahl von Notizen zusammen gekommen. Daraus ist dieses Buch entstanden, mit dem Anspruch, Impulse zu setzen – und zwar über den Fußball hinaus. Auch wenn ich in einigen Punkten deutlich Stellung beziehe und eine klare Meinung habe, bedeutet das nicht, dass es nicht auch eine andere Seite gäbe. Platon, der griechische Philosoph, schrieb in der Apologie des Sokrates: »Ich weiß, dass ich nichts weiß.« Im Fußball können wir erleben, was alles möglich ist.
Keineswegs will ich endgültige Ansichten formulieren, denn so etwas gibt es nicht. Meine Überlegungen sollen Ausgangspunkte sein,...