E-Book, Deutsch, 204 Seiten
Bick Unscharfe Männer
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-95520-767-0
Verlag: dotbooks
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Roman
E-Book, Deutsch, 204 Seiten
ISBN: 978-3-95520-767-0
Verlag: dotbooks
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Martina Bick wurde 1956 in Bremen geboren. Sie studierte Historische Musikwissenschaft, Neuere deutsche Literatur und Gender Studies in Münster und Hamburg. Nach mehreren Auslandsaufenthalten lebt sie heute in Hamburg, wo sie an der Hochschule für Musik und Theater arbeitet. Martina Bick veröffentlichte zahlreiche Kriminalromane, Romane und Kurzgeschichten und war auch als Herausgeberin tätig. Für ihre Arbeit wurde sie mehrfach ausgezeichnet. 2001 war sie die offizielle Krimistadtschreiberin von Flensburg. Bei dotbooks erscheinen ihre Romane »Unscharfe Männer«, »Die Landärztin« und die Fortsetzung »Neues von der Landärztin«, die im Sammelband »Das kleine Pfarrhaus auf dem Land« zusammengefasst sind, die 20er-Jahre-Krimis »Die Polizeipsychologin - Im Dunkel der Stadt« und »Die Polizeipsychologin - Der Tote im Viktoriapark« sowie die Krimi-Reihe um Hauptkommissarin Marie Maas, die folgende Bände umfasst: »Der Tote und das Mädchen. Der erste Fall für Marie Maas« »Tod auf der Werft. Der zweite Fall für Marie Maas« »Die Tote am Kanal. Der dritte Fall für Marie Maas« »Tödliche Prozession. Der vierte Fall für Marie Maas« »Nordseegrab. Der fünfte Fall für Marie Maas« »Tote Puppen lügen nicht. Der sechste Fall für Marie Maas« »Totenreise. Der siebte Fall für Marie Maas« »Heute schön, morgen tot. Der achte Fall für Marie Maas«
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Kapitel 1
Freitag vor Pfingsten fing Lu an, ihre Wohnung zu putzen. Mit Pfingsten hatte das weniger zu tun, vielmehr mit der Ankunft von Karlheinz.
»Ich bekomme Besuch aus Stuttgart, Annmarie. Hier, lies mal.«
Sie zeigte Annmarie eine Postkarte, auf deren Vorderseite der »Goldene Fisch« von Paul Klee abgebildet war.
Annmarie lehnte in der Haustür, betrachtete abwechselnd den Wischlappen, der wie eine tote Katze auf dem Fußboden lag, Lus zerzausten Knoten, zu dem sie die halblangen, blonden Haare hochgebunden hatte, und die Postkarte, auf der in einer ziemlich unleserlichen Handschrift ein Datum dick unterstrichen war: »2. Juni. Gegen Abend. Hoffentlich paßt Dir das. Gruß Karlheinz.« Mehr konnte sie ohne Brille nicht entziffern.
»Und deshalb machst du Hausputz? Du hast ja sogar die Gardinen abgenommen.«
Lu war ein bißchen verlegen. Die Gardinen waren sowieso fällig gewesen. Außerdem war Karlheinz Nichtraucher, und in den Gardinen hielt sich der Gestank so lange. Sie mußte ihn ja nicht gleich vergraulen.
»Meinst du, man kriegt das wieder hin mit Teppichschaum?« Auf dem berberweißen Velours fiel neben verschieden großen und verschieden getönten Flecken und der durchgetretenen Stelle gleich hinter der Türschwelle Rollo auf, das Riesenbaby, der sich mit ausgestreckten Pfoten auf dem Rücken wälzte und abwechselnd nach rechts und links schnappte, als wolle er seine eigene Zunge fangen. Dann sprang er auf und leitete seine Begrüßung mit einem Kontrollschnüffeln an den intimen Körperteilen ein. 53 cm Risthöhe waren ihm dabei eine gute Hilfe, und er brauchte sich nicht, wie seine kleineren Kollegen, auf die Hinterbeine zu stellen.
Annmarie verscheuchte ihn und zeigte auf die Teppichstelle, auf der Rollo sich eben noch gewälzt hatte. Eine Spur von schwarzen Hundehaaren markierte den Ort des Geschehens. »Ich glaube, die Mühe kannst du dir sparen.«
Auch Annmaries Einkaufskorb wurde einer gründlichen Kontrolle unterzogen, dann untersuchte Rollo den Wischlappen, der immer noch im Flur lag, und begab sich in die Küche.
»Und was ist das für ein Typ?«
»Karlheinz ist Student, Nichtraucher, vielversprechend anständig und wohlerzogen. Das genügt doch wohl, um für ihn hier ein bißchen Ordnung zu schaffen, oder?«
Lu zwängte sich zwischen Wischeimer und Nachbarin durch die Tür und kletterte über die Kisten im Flur. Kurzzeitige Untermieterinnen hatten ihre alten Schuhe hinterlassen, Posterrollen, einen Sessel, der nie abgeholt worden war, einen Karton Krimis, die selbst Thea zu hart waren – und die konnte einiges ab –, und einen alten Schwarzweißfernseher, der brummte und das Bild wegkippte, wenn es spannend wurde.
All das wollte sie heute auf den Boden schaffen. Drei-Zimmer-Wohnung, das hörte sich großzügig an, und in den hohen Hamburger Altbauwohnungen konnte damit auch ein Palast gemeint sein, aber leider gehörte Lus Erdgeschoßwohnung nicht in diese Kategorie. Ihre Wohnung war eher ein Tunnel, der von der Helmutstraße, in deren Hausnummer sechs sie sich befand, bis in den Hinterhof zum Andersenplatz reichte. Dort diente ein immerhin handtuchgroßer Garten Rollo im Hochsommer als Räkelwiese – im Frühling, Herbst und Winter war es ihm da draußen natürlich zu unwirtlich. Drei Zimmer, Duschklo und Küche reihten sich wie aufgefädelt aneinander, begleitet von einem Flurschlauch, der im Falle von Untermieterinnen, mit denen man sich nicht verstand, sehr problematisch werden konnte. Carol zum Beispiel, eine Amerikanerin, die ihrer großen Liebe nach Hamburg gefolgt war und sich nach sechsmonatigem Honeymoon bei Lu als Untermieterin wiederfand, verzweifelt, depressiv und unerträglich, hatte immer demonstrativ ihre Zimmertür geschlossen, wenn Lu sich aus ihrem Hinterzimmer mit Blick auf den Garten in Richtung Küche in Bewegung setzte. Der Flur war knapp ein Meter zwanzig breit, dafür sieben Meter lang, da gab es kein Ausweichen. Man mußte hautnah aneinander vorbei. Und je mehr Kisten und Kartons, seien sie nun dem Nachlaß von Untermieterinnen oder Lus eigenem Sammeltrieb geschuldeter Plunder, sich im Flur an der Wand stapelten, desto hautnäher wurde die Begegnung. Die niedrigen Decken und die wenigen Sonnenstrahlen, die das Erdgeschoß erreichten, taten ein übriges, um den Tunnelcharakter zu verstärken.
Aber für Lu war ihre Wohnung ein Traumschloß, ein Versteck vor dem Rest der Welt, eine Oase der Ruhe, ein Nest, eine geräumige Hundehütte. Ein Ort, um den sie heiß gekämpft hatte. Und den Mietvertrag, allein auf ihren Namen, hätte sie sich zu Anfang am liebsten gerahmt an die Wand gehängt. Hier bin ich. Alle anderen haben zu klingeln.
»Hier.« Lu öffnete die Tür zum Mittelzimmer. »Habe ich nicht ein schönes Gästezimmer eingerichtet?«
Annmarie sah auf die Matratze am Boden, den beigefarbenen Sessel, der einmal ihrer eigenen Couchgarnitur angehört hatte, den Campingtisch mit dezenter Tischdecke. Das Fenster lag ganz in der Ecke und ging auf den Schacht.
»Willst du nicht ein paar von deinen Fotos aufhängen?«
Ich bin ein Voyeur. Ich bin so ein Schwein, das anderen Leuten in die Fenster guckt. Von morgens bis abends tue ich nichts anderes, als auf meiner Fensterbank zu lehnen und das Haus gegenüber zu beobachten. Und es geht viel vor in diesem Haus voller Schweine.
Es ist ekelhaft, was die Leute treiben, ich bin ja gezwungen, es mit anzusehen, ich weiß Bescheid. Und ich merke mir alles: Es wird einmal zur Sprache kommen. Am besten im Blick habe ich die kleine Schlampe im Erdgeschoß. Sie hat einen separaten Eingang, und ich bekomme genau mit, was vor sich geht. Die ist die Schlimmste von allen. Jede Bewegung von ihr registriere ich. Ihr Köter bellt ja laut genug, wenn sie das Haus verläßt. Sollte ich einmal eingenickt sein, werde ich gleich wieder wach von dem Gekläff. Jetzt hat sie auch noch die Gardinen abgenommen. Um so besser für mich.
Ich bin nur ein Wichser. Das gebe ich zu. Ich bin ein Spanner.
Bevor Lu zur Arbeit ging, hatte Rollo Anspruch auf seine morgendliche Runde. Er belauerte ihr Frühstück, und wenn sie dann aufstand, sich die Schuhe anzog und zur Hundeleine griff, war es aus mit seiner Fassung. Mit akrobatischen Verrenkungen und Luftsprüngen feierte er seinen Erfolg, und sein lautes Gekläff hallte zusammen mit Lus nutzlosem »Rollo, still jetzt«, »Rollo, bist du jetzt still«, »Verdammt, halt jetzt die Klappe« durch die Helmutstraße.
»Er freut sich doch so«, sagte die alte Dame von gegenüber, die sommers wie winters ihren grauen Kamelhaarmantel trug. »Er ist so ein guter Hund.«
Aber Lu konnte sich nicht an das heftige Gebell in ihrem Rücken gewöhnen, während sie die Haustür abschloß. Es tat ihr in den Ohren weh, und die Tür mußte trotzdem verschlossen werden. Rollo konnte auch anders bellen, bedrohlich tief und rollend oder ganz leise und wachsam. Das war in Ordnung. Nur dieses aufsässige Gekläff brachte sie auf die Palme. Es wurde eingesetzt, um sie unter Druck zu setzen, wie Strafmandate, Prüfungen oder Nörgelei. Und Lu haßte es, unter Druck gesetzt zu werden.
In der Fränkelallee strömten die Kinder zur zweiten Schulstunde. Rollo suchte sich seinen Weg durch die bunten Anoraks.
»Paß auf, ein riesengroßer Hund«, schrien sich die Kinder zu. Aber Rollo kümmerte sich gar nicht um sie. Seitdem Kampfhunde Kinder und Erwachsene angefallen und gebissen hatten und die Medien sich auf das blutrünstige Thema stürzten, hatte die Angst vor großen Hunden pathologische Ausmaße angenommen. So gefährlich manche Hunde und besonders ihre Halter sein mochten und zu allen Ängsten Anlaß gaben, so gut paßte die neue Panik ins Stadtbild: Alles, was unberechenbar, wild, neugierig oder ungezügelt ist, gehört eingesperrt und angeleint. Kein Tier achtet die Grenzen von mein und dein. Rollo steckte seine schwarze Nase in jede Einkaufstüre, die er erreichen konnte. In Tabakläden stand er sofort hinter dem Tresen und bettelte um Frolics. Eine offene Tür zum Schlachterladen begriff er als Einladung. Er sprang an fremden Autos hoch, wenn darin ein Kollege kläffte, und zerkratzte den Lack mit seinen abgewetzten Krallen. Vor allem aber bepinkelte er Gartenzäune, Mülleimer, Fahrräder, lieber noch Motorräder unter großen Plastikplanen und früher auch die Straßenauslagen der Obst- und Gemüsehändler. Bis Lu einmal einen häßlich grauweiß-gestreiften Baumwollrock kaufen mußte, weil Rollo ihn als zu seinem Revier gehörig gekennzeichnet hatte. Seither hatte sie ihm die Pinkelei an jedweden Geschäftsauslagen abgewöhnt.
Trotzdem konnte Lu nicht einsehen, warum sie Rollo an die Leine legen sollte. Er hatte nie begriffen, vernünftig damit umzugehen, sondern legte sich mit der Kraft seiner 45 kg in die Seile, als wären seine Vorfahren Schlittenhunde gewesen und nicht Schäferhunde aus der Beauce, einem stillen, landwirtschaftlich genutzten Departement zwischen Paris und Rennes. An jeder Straßenkreuzung wartete sie auf ihn und stand grundsätzlich an roten Ampeln, weil Rollo während der Grünphasen nicht aufzutauchen pflegte. Rollo gab das Tempo an, und das war geprägt von gut, mittelgut und schlecht riechenden Stellen und nicht von Ampeln, Uhren und Terminkalendern. Lu kassierte gleichmütig die Beschimpfungen der Mitbürger und Mitbürgerinnen, die sich – mit oder ohne Pinscher – empörten, wie man ein so gefährliches Tier frei herumlaufen lassen konnte. Denn gefährlich war er, weil er groß und schwarz wie ein Brikett war.
»Das sagen alle, daß ihr Hund nicht bissig ist. Aber das kann man doch nie wissen!« schrien ihr mindestens einmal am Tag kompakte Herren in Wolljacken und...




