E-Book, Deutsch, 240 Seiten
Reihe: Küsten Krimi
E-Book, Deutsch, 240 Seiten
Reihe: Küsten Krimi
ISBN: 978-3-96041-207-6
Verlag: Emons Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Autoren/Hrsg.
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1 Der leise winselnde Ton, mit dem das Handy ihres Tischnachbarn signalisierte, dass es eine SMS empfangen hatte, erinnerte Anne an das Geräusch von Teddy, dem alten Familienhund, wenn ihm mal wieder jemand auf den Setter-Schweif getreten war. Das Winseln drang durch all das Gerede und Geraune der zahlreichen Kaffeetrinker und -trinkerinnen schmerzlich an ihr Ohr. Ihr Tischnachbar schien es nicht zu bemerken. Er nutzte die kurze Pause in der Tageshetze dazu, in die Zeitung zu schauen, und war ganz in seine Lektüre vertieft. Anne saß auf einer Bank direkt am Fenster des Cafés und blickte auf die Rathausstraße und auf die hintere Ecke der Petrikirche. Vor ihr stand eine dickwandige weiße Tasse mit einem großen Cappuccino, auf dessen Milchschaumdecke sie extraviel Kakao gestreut hatte. Als sie den ersten Schluck genommen hatte, dachte sie daran, dass er bald schon ausgetrunken sein würde, und es tat ihr bereits jetzt leid, dass das Vergnügen dann vorbei wäre. Noch ehe die Tasse leer war, sah sie sich schon wieder die Trageriemen ihrer Umhängetasche über den Kopf werfen, die Tasse auf den überquellenden Geschirrwagen stopfen und aus der Tür drängeln, zu ihrem Fahrrad, zurück nach Hause. Wohin auch sonst? In den letzten Wochen hatte sie schon alle Museen abgeklappert. Häufig ging sie auch in die Nachmittagsvorstellungen der Kinos, die dann so angenehm leer waren. Aber so oft gab es keine neuen, sehenswerten Filme in Hamburg, und gute Filme schaute sie sich nicht gern ein zweites Mal an. Womöglich gefielen sie ihr dann nicht mehr. Sie ging auch nicht gern einkaufen, shoppen, Schnäppchen jagen. Sie hatte alles, was sie brauchte, und sie brauchte nicht viel. Das einzige, was ihr fehlte, war eine Aufgabe, und genau die sollte sie im Augenblick nicht haben. Sie sollte sich erholen. Sie hatte ein Burn-out-Syndrom – aber so nannte man das inzwischen ja nicht mehr. Jedenfalls war es keine Krankheit. Burn-out war viel mehr – oder viel weniger, ganz wie man es sehen wollte –, hatte der Arzt ihr erklärt. Auf jeden Fall war sie vom Dienst suspendiert, arbeitslos, vielleicht für immer. Sie war keine Polizistin mehr. Aus und vorbei. Vorbei die Eile, immer drei Schritte ihrer Zeit und sich selbst voraus sein zu müssen. Vorbei der Stress, immer in Bewegung, immer im Dienst zu sein. Vorbei die schlaflosen Nächte, die zu vielen Tabletten und der zu viele Alkohol, um doch noch ein bisschen schlafen zu können. Nicht vorbei aber war dieses Gefühl von Müdigkeit tief in ihr drinnen, von unendlicher Erschöpfung, das wie eine Sandbank, die bei Ebbe aus dem Meer auftauchte, immer größer und größer wurde. Eine bleierne Erschöpfung, ein Satt-und-müde-Sein, das sich einfach nicht wegschlafen ließ. Das ihr schon lange Angst bereitet hatte. Zuerst hatte sie gedacht, es wäre das Älterwerden. Aber da war sie erst dreißig Jahre alt gewesen. Später war sie dann schon fünfunddreißig gewesen, und die Sandbank wurde immer größer. Wenn es keine Krankheit war, was machte sie dann falsch in ihrem Leben? Schließlich hatte sie tatsächlich einen Fehler begangen. Einen großen, nicht wiedergutzumachenden Fehler, wie ihn nur Polizisten machen können, ausgebrannte, überforderte, übermüdete Kriminalpolizisten im Dauerdienst. Bei einem Einsatz gegen eine Drogenbande hatte sie unangemessen scharf reagiert, mit katastrophalen Folgen. Es hatte eine Anzeige gegen sie gegeben, jede Menge Zeugen. Man konnte den Vorfall nicht vertuschen. Sie wurde suspendiert, es wurde eine Untersuchungskommission eingesetzt. Wenn die zu dem Ergebnis kommen würde, sie zu entlassen – »vorzeitige Beendigung einer Beamtenstellung auf Lebenszeit« hieß das im Amtsdeutsch –, wäre sie Ende dreißig und hätte nichts gelernt, womit sie zukünftig ihren Lebensunterhalt verdienen könnte. Der Typ am Tisch neben ihr hatte seine Zeitungslektüre beendet und prüfte nun auf seinem Handy die neuen Nachrichten. Dann tippte er darauf herum, hielt es ans Ohr und meldete sich mit einem kurzen »Ich bin’s«. Seine Stirn zerfurchte sich, seine Miene drückte Gereiztheit aus. Nacheinander stieß er dreimal kurz »Ja« und einmal »Nein« aus. Dann nahm er das Handy vom Ohr, starrte das Display wie einen unbekannten Fremdkörper an und schaltete das Gerät aus. Seine Stirn entspannte sich wieder. Bei geschäftlichen Telefonaten war man in der Regel höflicher, es musste sich also um ein privates Gespräch gehandelt haben. Ein sehr privates. Vermutlich mit seiner Frau oder Lebensgefährtin. Warum tat man sich das bloß an, dieses Maß an Nähe, das es erlaubte, grenzenlos unhöflich und kurz angebunden miteinander umzugehen?, dachte Anne. Die meisten ihrer Kollegen waren Weltmeister in dieser Art von Kommunikation gewesen. Ungeheuer charmant und einfühlsam, solange sie etwas von einem wollten, und kalt wie die Fische, abweisend und unerreichbar, wenn sie es bekommen hatten. Für gewöhnlich waren doch alle Menschen empfänglich für Freundlichkeit und Charme. Mit ein bisschen davon kam man so viel weiter im Leben. Aber bei der Polizei stand Freundlichkeit nicht hoch im Kurs. Keiner ihrer Kollegen hatte im Sinn, seiner Kundschaft das Herz aufzuschließen, im Gegenteil. Besonders als Frau musste man sich ein Verhalten dieser Art schnellstens abgewöhnen. Sowohl dem Klientel gegenüber als auch den Kolleginnen und Kollegen. Je länger man bei der Truppe war, desto misstrauischer und unfreundlicher wurde man. Sie alle sahen zu viel Elend und Not, sie erlebten zu viel Gemeinheit und Grausamkeit. Männer wie Frauen bekamen schnell heraus, dass Freundlichkeit und Gutmütigkeit absolut keine Erfolgsrezepte im Polizeidienst waren, und dann legten sie sich einen Panzer zu, einen ruppigen Stil, der von Wachsamkeit und Unverbindlichkeit geprägt war. Und wie wurde man den jemals wieder los? Selbst jetzt, da sie nicht mehr im Dienst war, war ihr Umgangston immer noch schroff und unfreundlich. Genauso wie ihre Einstellung zu ihren Mitmenschen. Der kurz angebundene Nachbar legte seine Zeitung sorgfältig zusammen und verstaute sie in seinem Aktenkoffer. Er erhob sich, kontrollierte den Sitz seiner Hose und des makellos weißen Oberhemds und verschwand, ohne sein Geschirr abgeräumt zu haben. Ein Glücksgefühl durchströmte Anne bei dem Gedanken, dass weder ein solches noch ein ähnliches Exemplar der Spezies Mensch irgendwo auf sie wartete. Während sie die letzten Schlucke ihres Cappuccinos genoss, der schon fast zu sehr abgekühlt war, verbat sie es sich, die beiden SMS zu lesen, die inzwischen auf ihrem Handy eingegangen waren. Sicher nur Werbung ihres Providers, wer sonst sollte sie auf diesem Wege erreichen wollen? Sie war ja fast immer zu Hause, wer etwas von ihr wollte, konnte sie auf dem Festnetz anrufen. Lieber hing sie ihren Gedanken nach, führte ihre Beobachtungen und Überlegungen weiter. »Man kann sich stets nur auf eine Sache konzentrieren«, hatte irgendein Hirnforscher heute Morgen im Radio verkündet. Na prima, hatte sie gedacht und war unter die Dusche gegangen. Aber galt das nicht nur für Männer? Frauen konnten sich doch ständig auf viele Dinge gleichzeitig konzentrieren. Als sie das Wasser abgestellt hatte, war der Hirnforscher immer noch auf Sendung gewesen. »Sie meinen Achtsamkeit, wie man sie aus dem Zen kennt?«, hatte der Moderator ihn gefragt. »Genau. Achtsamkeit ist die wichtigste Methode, unsere körperlichen und seelischen Befindlichkeiten aufzuspüren. Dazu muss man den Blick nach innen richten und aus den automatisierten Gewohnheiten aussteigen. Im japanischen Zen-Buddhismus ist Achtsamkeit ein zentrales Thema.« Schon in dem Augenblick war ihr der Gedanke gekommen, einfach wegzufahren und alles hinter sich zu lassen, was sie an ihren alten Job erinnerte. Ganz kurz und klar, wie die meisten der Ideen, die ihr ausgeruhtes Hirn früh am Morgen durchkreuzten. Die wichtigsten von ihnen kamen im Laufe des Tages noch einmal zurück. Sie brauchte sie sich nicht aufzuschreiben. Der Gedanke, aus dem gewohnten Leben auszubrechen, verknüpfte sich sofort mit einem herrlichen Gefühl von Freiheit und Weite, das sich bei ihr in letzter Zeit nur noch bei der Lektüre von guten Romanen eingestellt hatte. Es wirkte wie eine Mischung aus Angeregtheit und Stille, wie früher eine Zigarette oder auch wie der gute Kaffee, den sie gerade getrunken hatte. Vielleicht musste sie wirklich einen Neuanfang wagen, um ihr Leben wieder in den Griff zu bekommen. Ein anderes Leben, einfacher, langsamer, ohne Job und Terminkalender, ohne PC, Datenbanken und Handy. Anne reloaded, sozusagen. Eine neue Festplatte anschaffen, zurück auf null gehen. Bevor es zu spät und das Leben vorbei war. Der letzte Schluck Kaffee schmeckte angenehm süß, weil das Kakaopulver sich auf dem Milchschaumrest am Boden gesammelt hatte. Das Café war inzwischen noch voller, der Geräuschpegel noch höher geworden. Es schien Anne, als wäre für eine Weile der Ton ausgefallen gewesen. Nun setzte alles in doppelter Lautstärke wieder ein. Sie brachte ihre Tasse zum Geschirrwagen – er war zwar über und über beladen, aber sie fand noch ein kleines Plätzchen, um sie abzustellen – und schaute im Hinausgehen endlich auf das Handydisplay. Eine SMS von ihrem Provider mit Informationen zu Sonderangeboten und eine SMS von Britt. Britt schrieb – und vernachlässigte dabei wie immer die Rechtschreibung aufs Unerträglichste: »Kannst heuteabend mal rüberkomdm. Ich hab geerbt. Es Gibt sekt b.« »Gern«, simste Anne mit einem Daumen zurück, während sie zu ihrem Fahrrad ging und mit der anderen Hand den...