E-Book, Deutsch, 280 Seiten
Beyer / Plewnia Handbuch des Deutschen in West- und Mitteleuropa
1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-8233-0174-5
Verlag: Narr Francke Attempto Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Sprachminderheiten und Mehrsprachigkeitskonstellationen
E-Book, Deutsch, 280 Seiten
ISBN: 978-3-8233-0174-5
Verlag: Narr Francke Attempto Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Dieses Handbuch liefert einen Überblick über Beschaffenheit und soziolinguistische Situation des Deutschen am Rande des geschlossenen deutschen Sprachgebietes in West- und Mitteleuropa. Dabei werden in einer Zusammenschau sowohl deutschsprachige Minderheiten als auch Mehrsprachigkeitskonstellation unter Beteiligung des Deutschen in den Blick genommen. Gemein ist allen Szenarien, dass sie unmittelbar an ein Gebiet mit deutschsprachiger Mehrheitsbevölkerung grenzen, Deutsch einen offiziellen Status besitzt, jedoch nicht unbedingt die volle Funktionsbreite abdeckt. In sieben Gebietsartikeln wird jeweils ein Überblick über Demographie, Geschichte sowie politische und rechtliche Lage der Minderheiten gegeben. Zusätzlich wird für jedes Gebiet eine Beschreibung der Kompetenz- und Sprachgebrauchssituation wie auch der soziolinguistischen Situation mit ihren je spezifischen Standard-Substandard-Verteilungen geboten. Schließlich werden auch Spracheinstellungen der Sprecher und die visuell realisierte Sprache im öffentlichen Raum (Linguistic Landscapes) erläutert.
Dr. Rahel Beyer ist wissenschaftliche Angestellte am Institut für Deutsche Sprache in Mannheim.
Dr. Albrecht Plewnia ist Leiter des Programmbereichs 'Sprache im öffentlichen Raum' am Institut für Deutsche Sprache in Mannheim.
Autoren/Hrsg.
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5 Soziolinguistische Situation
5.1 Kontaktsprachen In Nordschleswig werden mehrere Nationalsprachen, Regionalsprachen und Dialekte gesprochen. Dänisch ist die offizielle Sprache, Deutsch ist als Minderheitensprache anerkannt, und sowohl die Dänen als auch die deutsche Minderheit sprechen den dänischen Dialekt Sønderjysk (Südjütisch). Dazu kommen weitere dänische und deutsche regionale Varietäten und die Sprachen und Dialekte von Migranten. 5.2 Die einzelnen Sprachformen des Deutschen 5.2.1 Regionaler Standard Die offizielle Sprache der deutschen Minderheit ist Hochdeutsch, mündlich und schriftlich. Als Norm gilt dabei weithin ein am norddeutschen Regionalstandard orientierter Standardbegriff. Am ehesten wird diese Standardsprache von denjenigen Mitgliedern der Minderheit gebraucht, die in Schleswig-Holstein aufgewachsen sind. Die Mitglieder, die in Nordschleswig geboren sind, aber in Deutschland studiert oder gearbeitet haben, beherrschen ebenfalls sehr oft diesen Standard; er ist aber nicht ihre tägliche Umgangssprache. 5.2.2 Umgangssprache Nordschleswigdeutsch – eine regionale Minderheiten-Kontaktvarietät Die meisten Mitglieder der Minderheit, die in Nordschleswig geboren sind und dort leben und deren Eltern dänische Staatsbürger sind, sprechen Nordschleswigdeutsch. Sie sprechen diese regionale Kontaktvarietät unabhängig davon, ob ihre Muttersprache Deutsch oder Sønderjysk ist. Mitglieder der Minderheit mit deutscher Staatsbürgerschaft, die als Erwachsene nach Nordschleswig gezogen sind, passen sich selten der regionalen Minderheitsvielfalt an. Sie selbst verwenden Hochdeutsch oder eine am norddeutschen Regionalstandard orientierte Varietät. Ihre Kinder, die in Nordschleswig in der Minderheit aufwachsen, neigen jedoch dazu, sich an Nordschleswigdeutsch zu gewöhnen; sie erwerben es typischerweise von ihren Freunden im Kindergarten und in der Schule. In der Minderheit und bei ihren Repräsentanten besteht ein Bewusstsein dafür, dass Nordschleswigdeutsch anders ist als Hochdeutsch, und es besteht die Tendenz, diese Vielfalt als regionale Varietät zu pflegen. Die wichtigsten Merkmale, die diese Varietät charakterisieren, liegen in der Prosodie. Zunächst wird das dänische Intonationsmuster auf das Deutsche übertragen. Das dänische Intonationsmuster unterscheidet sich vom deutschen vor allem in Fragen und in nicht-abschließenden Sätzen. Der deutsche Aufwärtston, der lokal für die letzten Worte der Phrasen verwendet wird, wird durch ein fallendes Grenztonmuster in den Fragen und einen geraden Ton in den nicht-abschließenden Phrasen ersetzt. Im Bereich der Lexik wird das dänische Betonungsmuster oft auf Wörter mit ähnlicher Schreibweise in dänischer und deutscher Sprache übertragen. Die Wörter aktiv und Asphalt zum Beispiel werden dem Dänischen entsprechend oft auf der ersten Silbe betont und nicht auf der zweiten Silbe wie im Hochdeutschen. Die Wörter elendig und konservativ folgen dem dänischen Betonungsmuster, indem sie auf der zweiten Silbe betont werden, nicht auf der ersten Silbe. Dabei kann die Betonung unabhängig von ihrer Position in einem Lexem abweichen (Pedersen 2000: 213). Auf der segmentalen phonetischen Ebene können die Vokale nach dem dänischen Vokalsystem mit 25 Vollvokalen ausgesprochen werden, während Hochdeutsch nur 14 Vollvokale hat. Deutsche Konsonantencluster, die es im Dänischen nicht gibt, zum Beispiel initiales /sch-/ und finales /-ch/ weichen in ihrer Realisierung leicht von der hochdeutschen Form ab (Pedersen 2000: 213, Westergaard 2008: 361). Innerhalb der Semantik zeichnet sich das deutsche Lexikon durch lexikalischen Transfer von Sønderjysk und Standarddänisch ins Deutsche aus. Die gebräuchlichsten Arten sind Lehnwörter, Lehnübersetzungen und Lehnübertragungen. Dänische Namen oder Bezeichnungen von Mehrheitsinstitutionen werden in Nordschleswigdeutsch häufig verwendet, entweder als Lehnwörter, wie zum Beispiel statsminister, oder als Lehnübersetzungen, wie zum Beispiel ‚Regionsrat‘ für das dänische regionsråd. Sie gelten als kreative Ausdrucksformen, die den Anwendungsbereich der Minderheitensprache um ein Vokabular erweitern, das für die sprachliche und soziale Situation der Minderheit nützlich ist und oft kein Äquivalent im binnendeutschen Standard hat. Ein Beispiel für Lehnübertragung ist das deutsche Wort ‚Frucht‘, das dem dänischen Wort frugt ähnlich ist und anstelle von ‚Obst‘ verwendet wird (Pedersen 1988: 6). Ein weiteres Beispiel ist das dänische Wort kamp (‚Kampf‘). Diese Bezeichnung, die auf Dänisch nicht nur den kriegerischen Kampf oder einen Wettkampf bezeichnet, sondern hier auch für Spiele zwischen Mannschaften verwendet wird, erhält beispielsweise im Deutschen eine Erweiterung des Inhalts, so dass sie in der gleichen Bedeutung wie ihr dänisches Äquivalent verwendet werden kann. In der Deutschen Volksgruppe gehört es demnach zur Alltagssprache vieler, zum Beispiel ein Handballspiel als „Kampf“ zu bezeichnen. Beispiel 9.4: ja also wir haben nur einen kampf verloren. (Westergaard 2008: 437f.) Lehnübersetzungen von ganzen dänischen Verbalphrasen ins Deutsche sind oft erfolgreiche Strategien, aber manchmal ergeben sich auch unidiomatische Ausdrücke. Sie sind typisch für die Minderheitensprache, wie zum Beispiel die Phrase ‚Sie sagt Entschuldigung‘, die auf Dänisch hun siger undskyld basiert und weniger auf Standarddeutsch (‚Sie bittet um Entschuldigung‘) (Pedersen 1988: 6). Im Deutschen Volkskalender Nordschleswig werden solche Beispiele von Lehnwörtern und Lehnübersetzungen oft unter der Rubrik „Sprachblüten“ aufgeführt, was eine positive Einstellung widerspiegelt. Einige Beispiele aus dem Jahr 2004: „Echte nordschleswigsche Worte: sippen (‚Tau springen‘), cykeln (‚Fahrrad fahren‘), Gehstrasse (‚Fußgängerzone‘)“ (Deutscher Volkskalender Nordschleswig 2004: 62; die zugrundeliegenden dänischen Etyma sind sjippe, cykle und gågade). Auch wenn Nordschleswigdeutsch eine mündliche Varietät ist, erscheinen solche Sprachkontaktphänomene auch in geschriebenen Texten. Viele Jahre lang stand auf dem Schild des Kirchenbüros in Tingleff/Tinglev ‚Kirchenkontor‘ (dän. kirkekontor), eine Kombination von Deutsch Kirchen und dem dänischen Lehnwort kontor. Inzwischen wurde die Bezeichnung in ‚Kirchenbüro‘ geändert. Auch im Volkskalender sind viele Beispiele für Lehnübersetzungen wie Gehstrasse, Apenrade (in einer Bildunterschrift im Volkskalender 1972: 95) zu finden. Auch in Werken von Schriftstellern aus der Minderheit finden sich Lehnübersetzungen aus dem Dänischen, zum Beispiel Eisenkratt zu dänisch egekrat oder kämpft mit den Weinen (Westergaard 2000: 28). Beim Nomen ‚Weinen‘ handelt es sich um eine direkte Übersetzung des Dänischen gråden, das anstelle des deutschen ‚Tränen‘ verwendet wird. In der Zeitung Der Nordschleswiger erscheinen Lehnwörter wie Borgmester und Statsminister, die wie deutsche Substantive mit initialer Majuskel geschrieben werden. Solche dänischen Wörter, die zum politischen Wortschatz gehören, werden heute oft als Doppelformen geschrieben, etwa „Regierungschef (Statsminister)“, um auch die Leser außerhalb der Grenzregion über dänische Bezeichnungen zu informieren. Abb. 4: Kirchenkontor 5.3 Sprachenwahl: Code-Switching, Sprachmischung In zweisprachigen Minderheitsfamilien gibt es in der Regel eine vorherrschende Muttersprache, jedoch können zu bestimmten Anlässen auch andere Sprachen zu Hause gebraucht werden. Wenn Deutsch die Muttersprache ist, können sie zu Sønderjysk oder Standarddänisch wechseln, wenn Familienangehörige, Freunde oder Nachbarn, die der dänischen Mehrheit angehören, ihre Wohnung oder ihr Haus betreten. Auch wenn die Besucher Deutsch als Fremdsprache beherrschen, ist der Wechsel zu Dänisch in vielen Haushalten eine häufige Reaktion. Umgekehrt ist es auch typisch für Minderheitenfamilien mit Sønderjysk als Muttersprache, zu Deutsch zu wechseln, wenn ihre Besucher aus Deutschland kommen oder neu angesiedelte deutsche Migranten sind – unabhängig davon, ob die Neuankömmlinge Dänisch als Zweitsprache beherrschen. In solchen Situationen wird die Sprachwahl in hohem Maße von der Muttersprache des Besuchers bestimmt und nicht von der Alltagssprache des Hauses. Trotz gemeinsamer Merkmale bei der Wahl der Muttersprache unterscheidet sich die Entwicklung bezüglich Standarddänisch als Muttersprache innerhalb der deutschen Minderheit von derjenigen der Mehrheit. Während die Kinder der Mehrheitsgesellschaft, die nach dem Jahr 2000 geboren wurden, inzwischen eher einsprachig in Standarddänisch statt bivarietär (Sønderjysk und Standarddänisch) aufwachsen, werden die Kinder der Minderheit immer noch bivarietär in Dänisch und zweisprachig mit Deutsch und Dänisch sozialisiert. Die Minderheit betont oft den hohen Stellenwert des Sønderjysk-Dialekts innerhalb der Minderheit. Sie ist sehr stolz darauf, als zukünftiger Träger des dänischen Dialekts angesehen zu werden (Pedersen 1992: 135) – eine Annahme, die daher rührt, dass die meisten dänischen...