E-Book, Deutsch, 216 Seiten
Reihe: Blaue Reihe
Beyer Husserls Philosophie
unverändertes eBook der 1. Auflage von 2025
ISBN: 978-3-7873-4924-1
Verlag: Felix Meiner
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 216 Seiten
Reihe: Blaue Reihe
ISBN: 978-3-7873-4924-1
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Christian Beyer ist Professor für Theoretische Philosophie an der Universität Göttingen; Lehr- und Forschungsaufenthalte u.a. in Stanford, Oslo und Sheffield. Seit 2019 ist er gewähltes Mitglied der Norwegischen Akademie der Wissenschaften. Seine Forschungsschwerpunkte sind u.a. Husserls Phänomenologie und ihr Verhältnis zur älteren (u.a. Bolzano, Frege) und neueren analytischen Philosophie.
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Kapitel 2: Husserl über Begriffe
Begriff ist ein schlüpfriger Begriff. Der Terminus wird in Philosophie und Kognitionswissenschaft nicht einheitlich verwendet. Eine gewisse Kernbedeutung lässt sich ausmachen, aber diese ist vage: Begriffe gelten allenthalben als Komponenten oder „Konstituenten“ von „Gedanken“; wobei die jeweils zugrundeliegende Vorstellung eines Gedankens so stark variiert, dass man (schon aus kategorialen Gründen) eigentlich nicht von einem gemeinsamen Untersuchungsgegenstand namens „Begriffe“ sprechen kann.2
Wenn nach einem gemeinsamen Bezugspunkt der heute unter dem Schlagwort „Begriffe“ geführten Debatte(n) gefragt wird, so wäre wohl am ehesten Jerry Fodors Buch Concepts anzuführen (vgl. Fodor 1998). Fodors Adäquatheitsbedingungen für eine Theorie der Begriffe sind alles andere als theorieneutral, was seinen Grund darin hat, dass Fodor seine eigene, „repräsentationalistische Theorie des Geistes (representational theory of mind)“ als „the only game in town“ betrachtet (ebd., 22). Diese Konzeption fasst Begriffe, grob gesprochen, als Komponenten intentionaler Zustände auf. Solche Zustände sind nach Fodor Relationen, in denen Lebewesen zu mentalen Repräsentationen (z. B. mentalen Bildern) stehen, die jeweils als Vehikel (Träger) ihres intentionalen Gehalts fungieren. Dabei stellt der intentionale Gehalt (auch: die „Bedeutung“) des intentionalen Zustands die Information dar, die der Zustand (dank einer kausal-nomologischen Beziehung der Kovariation) trägt – etwa die Eigenschaft, Wasser, d. h. H2O, zu sein. Begriffe sind nach Fodor Bestandteile solcher mentalen Repräsentationen und enthalten kausal-funktional individuierte mentale Gegebenheitsweisen (etwa die Wasser- oder die davon verschiedene H2O-Gegebenheitsweise) intentionaler Gehalte bzw. Gegenstände (vgl. Fodor 1998, Kap. 1).
Obwohl diese kontroverse Begriffsauffassung in Fodors Adäquatheitsbedingungen einfließt, bilden sie so etwas wie eine allgemein anerkannte Verhandlungsbasis in der Theorie der Begriffe:
- 1.
- Begriffe sind (in einem prägnanten Sinne) mentale Entitäten, die in Kausalbeziehungen zu (anderen) Entitäten stehen können.
- 2.
- Begriffe sind auf Gegenstände anwendbar, derart dass diese unter Begriffe fallen.
- 3.
- Begriffe sind Konstituenten von mentalen Repräsentationen mit propositionalem Gehalt, und oftmals auch von (anderen) Begriffen, derart dass der intentionale Gehalt, den eine (propositionale oder sub-propositionale) mentale Repräsentation trägt, eine Funktion des intentionalen Gehalts ihrer Konstituenten ist.
- 4.
- Viele Begriffe werden erlernt.
- 5.
- Begriffe sind öffentliche Gegenstände, derart dass in verschiedenen Personen ein und derselbe Begriff (qua Typ) instanziiert sein kann (vgl. ebd., Kap. 2).
Diese Bedingungen können uns dazu dienen, Husserls Auffassung von Begriffen in den verschiedenen Entwicklungsphasen seiner Phänomenologie zu beleuchten, und damit auch zentrale Ideen seines Denkens. Ich orientiere mich dabei an den folgenden Schriften:
- 1.
- Philosophie der Arithmetik (1891)
- 2.
- Intentionale Gegenstände (1894) und Logische Untersuchungen (1900/01)
- 3.
- Ideen (1913)
- 4.
- Krisis (1930er Jahre)
1.
Husserls Erstling, die Philosophie der Arithmetik, wird zwar üblicherweise seiner vorphänomenologischen Phase zugerechnet, enthält aber bereits einige wesentliche Gedanken seiner Phänomenologie, die man hier gleichsam in statu nascendi studieren kann. Außerdem – und das ist im vorliegenden Zusammenhang wichtiger – entwickelt Husserl hier eine interessante Methode der Begriffsanalyse, die deskriptive Psychologie und Erkenntnistheorie miteinander verbindet und die sogleich auf die Analyse arithmetischer Grundbegriffe angewandt wird – eine Begriffssorte, die bei Fodor gar nicht thematisiert wird.
Die Meinung ist weitverbreitet, dass die Position, die Husserl in diesem Werk entwickelt, ein Paradebeispiel jener „psychologistischen“ Auffassung von Mathematik und Logik darstellt, welche Husserl dann im ersten Band seiner Logischen Untersuchungen scharf und mit zahlreichen [...] Argumenten angreift (vgl. Soldati 19983, 117ff.): die Auffassung nämlich, wonach die Gesetze der Mathematik und Logik von psychologischen Gesetzen des Denkens abhängen, die sich auf notwendige Voraussetzungen oder gar vollkommen kontingente empirische Tatsachen bezüglich des menschlichen Geistes zurückführen lassen. Husserl leistet dieser Auffassung selber Vorschub, wenn er im Vorwort der Logischen Untersuchungen schreibt, es sei dem Verfasser der Philosophie der Arithmetik u. a. um eine „psychologische[...] Begründung des Logischen“ zu tun gewesen (vgl. Hua XVIII, 6f.).
Das Hauptziel der Philosophie der Arithmetik besteht jedoch in der Klärung arithmetischer Grundbegriffe, und in den Logischen Untersuchungen verfolgt Husserl dann ein ganz ähnliches Ziel hinsichtlich der Grundbegriffe dessen, was er „reine Logik“ nennt. Wie wir sogleich sehen werden, wirft Husserl Gottlob Frege in der Philosophie der Arithmetik vor, gewisse arithmetische Grundbegriffe in einer Art und Weise zu definieren, die deren gedanklich-begrifflichem Gehalt unangemessen ist. (Frege, dessen kritische Besprechung der Philosophie der Arithmetik aus dem Jahre 1894 einen der Kausalfaktoren zu bilden scheint, die für Husserls spätere Psychologismus-Kritik verantwortlich sind (vgl. Føllesdal 1958 und Patzig 1958), war sich der Zielsetzung der Philosophie der Arithmetik, Begriffe zu klären, offenbar bewusst, wie sein Brief an Husserl vom 24. Mai 1891 zeigt, in dem er Husserls „Begriffe“ sogar mit seinen Prädikat-„Sinnen“ gleichsetzt (vgl. Mohanty 1982, 117ff.). In seiner späteren Rezension ignoriert er diesen Punkt allerdings.)
Im Anschluss an Stumpf lässt sich Husserl in der Philosophie der Arithmetik von der methodischen Strategie leiten, dass sich der Gehalt eines Begriffs am besten dadurch klären lässt, dass man – aus der Perspektive der Ersten Person („ich“) – seinen psychologischen Ursprung untersucht, also die psychischen Erlebnisse, die im Zuge der Ausbildung des Begriffs bzw. beim Erlernen des Begriffs auftreten würden (vgl. Willard 2003, xvi f.).
Es ist alles andere als klar, wie sich dieser Ansatz zum Psychologismus im eben erläuterten Sinne des Wortes verhält. In der Sekundärliteratur findet sich dazu die Unterscheidung zwischen einem „starken“ und einem „schwachen“ Psychologismus. Der starke Psychologismus behauptet, dass die Logik ein Zweig der Psychologie ist. Der sog. schwache Psychologismus betrachtet psychologische Forschung hingegen lediglich als ein unentbehrliches Mittel der Begriffsklärung im Bereich der elementaren Logik und Mathematik (vgl. Mohanty 1982, 20). Diese letztere Auffassung vertritt der Verfasser der Philosophie der Arithmetik zweifellos. Damit ist aber noch keineswegs entschieden, ob er die Gesetze der Logik in irgendeinem Sinne als von psychologischen Gesetzen abhängig betrachtet.
Die Philosophie der Arithmetik ist jedenfalls ein kleines Meisterwerk der Psychologie in der Tradition Brentanos. Beispielsweise antizipiert Husserl unter dem Titel „figurales Moment“ einen wichtigen Begriff der Gestaltpsychologie, den Begriff einer Gestaltqualität (vgl. von Ehrenfels 1890):4
Man spricht z. B. von einer Reihe von Soldaten, einem Haufen Äpfel, einer Allee Bäume, einer Kette Hühner, einem Schwarm Vögel, einem Zug Gänse usw. In jedem dieser Beispiele ist die Rede von einer sinnlichen Menge untereinander gleicher Objekte, die ihrer Gattung nach auch benannt sind. Aber nicht dies allein ist ausgedrückt – dazu würde der Plural des Gattungsnamens allein ausreichen -, sondern eine gewisse charakteristische Beschaffenheit der einheitlichen Gesamtanschauung der Menge, die mit einem Blick erfaßt werden kann, und in ihren wohlunterschiedenen Formen den wesentlichsten Teil der Bedeutung jener den Plural einleitenden Ausdrücke Reihe, Haufen, Allee, Kette, Schwarm, Zug usw. ausmacht. (Hua XII, 203f.)
Anschauungen, die ein solches figurales Moment besitzen, berechtigen uns, etwas als eine sinnlich-einheitliche Menge oder Gruppe oder Vielheit, oder als einen konkreten Inbegriff, zu klassifizieren. Husserl zufolge erlaubt uns der Begriff eines figuralen Moments somit, ein epistemisches Problem zu lösen, das eine gewisse Verwandtschaft mit dem später von Wittgenstein diskutierten Problem des Regelfolgens aufweist:
Woher wissen wir, daß der Prozeß der Kollektion auch nur um einen Schritt fortsetzbar ist, daß außer dem faktisch Kolligierten noch etwas zu Kolligierendes übrig ist? Woher wissen wir, daß eine „Gesamtkollektion“ zu intendieren sei? (Hua XII, 197)
Indem Husserl an dieser Stelle auf den Begriff eines figuralen Moments zurückgreift, der einen deskriptiven Zug unserer alltäglichen Erfahrung von dergleichen wie sinnlichen Mengen, Gruppen oder kollektiven Inbegriffen darstellt, bezieht er diese auch formal zu fassenden Konzepte auf ihre begrifflichen Wurzeln innerhalb dessen zurück, was er später die alltägliche Lebenswelt nennen wird (s. u., Abschnitte 3 und 4). Hier nehmen...