Beston | Das Haus am Rand der Welt | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 224 Seiten

Beston Das Haus am Rand der Welt

Ein Jahr am großen Strand von Cape Cod

E-Book, Deutsch, 224 Seiten

ISBN: 978-3-86648-348-4
Verlag: mareverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



September 1926. Henry Beston bezieht ein kleines Holzhaus am Meer, das er sich im Jahr zuvor hat bauen lassen, um dort seinen Urlaub zu verbringen. Geplant waren zwei Wochen, doch er bleibt ein ganzes Jahr; ein Jahr, in dem er seine Umwelt auf sich wirken lässt, sie untersucht und auf diese Weise verstehen lernt. Beston hält sämtliche Beobachtungen in Notizbüchern fest, er beschreibt das Gesehene und Erlebte farbig und detailliert: den Zug der Seevögel, den Rhythmus von Ebbe und Flut, die Formen der Dünen und der Wellen, die Geräusche der Brandung und sogar den Wandel der Gerüche im Laufe der Jahreszeiten. Diesen sprachlich geschliffenen und alle Sinne ansprechenden Klassiker des Nature Writing, der vor genau 90 Jahren erschienen ist, gilt es nun erstmals in deutscher Übersetzung zu entdecken.

Henry Beston, geboren 1888 in Quincy (Massachusetts), 1968 in Nobleboro (Maine) gestorben, war Autor zahlreicher Bücher. Er studierte in Harvard und unterrichte anschließend an der Universität Lyon, bevor er als Englischdozent nach Harvard zurückkehrte. 'Das Haus am Rand der Welt' erschien 1928 und wurde umgehend zum Erfolg.
Beston Das Haus am Rand der Welt jetzt bestellen!

Weitere Infos & Material


Kapitel 2
Herbst, Meer und Vögel
I
Am Strand ist ein neuer Klang zu hören, ein neuer und beeindruckender Klang. Langsam, Tag um Tag, wird die Brandung stärker, und in den abgelegenen Stationen der Küstenwache, die sich am viele Meilen langen Strand entlangziehen, erkennen die Männer im Tosen der Wellen den nahenden Winter. Morgens und abends ist es empfindlich kalt, kalt ist auch der Nordwestwind; die nur mehr schmale Sichel des Mondes steht, wie ich einmal zufällig am fahlen Morgenhimmel sah, nördlich der Sonne. Der Herbst hält am Strand eher Einzug als in der Marsch und den Dünen. In westlicher Richtung und landeinwärts ist noch Farbe, seewärts herrschen schon lichte Leere und Schmucklosigkeit. Die letzten Gräser, die auf dem Dünenkamm ausharren und sich gen Himmel recken, zittern im Wind und neigen sich seewärts, Schwaden aus Sand jagen waagerecht den Strand entlang, das helle Zischen des Sandes mischt sich mit dem nun einsetzenden Donnern des Ozeans. Die Nachmittage verbringe ich damit, Treibholz zu sammeln und Vögel zu beobachten. Bei klarem Himmel nimmt die Mittagssonne dem Wind die schneidende Schärfe, und dann und wann findet sogar eine milde Brise aus Westsüdwest zurück in die Welt. An solch prächtigen Tagen mache ich mich auf den Weg, lese Stöcke und zerbrochene Bretter auf und treibe die Vögel auf dem Strand vor mir her. Von mir aufgescheucht, sehe ich Sanderlinge und Wasserläufer, Halsringenten und Knutts, Kiebitz- und Keilschwanzregenpfeifer, Schwärme von einem Dutzend, kleine Flüge, große Flüge, kompakte Gruppen, die straff organisiert wirken. In den vergangenen zwei Wochen, vom 9. bis 23. Oktober, haben gewaltige Populationen dieser Zugvögel am Strand von Eastham Station gemacht, sich gesammelt, gerastet, sich gestärkt und miteinander vermischt. Sie kommen, sie gehen, sie zerstreuen sich und sammeln sich erneut. Über viele Meilen ziehen sich die verworrenen, sich kreuzenden und überschneidenden Abdrücke ihrer Füße über den unteren, ans Wasser grenzenden Strand von Cape Cod. Trotz allem ist es keine ungeordnete und sorglose Horde, durch die ich gehe, sondern eher eine Armee. Ein Geist der Disziplin und des Zusammenhalts hat sich in diesen unzählig vielen kleinen Köpfchen breitgemacht, der in jedem Flug einen Gemeinsinn stiftet und jedem einzelnen Vogel die Gewissheit verleiht, Mitglied einer Gesellschaft auf Wanderschaft zu sein. Vögel, die allein fliegen, sind selten, und wenn, dann wirkt es, als verfolgten sie einen Flug, der sie vergessen hat und achtlos weitergezogen ist. Schnell wie der Wind fliegen sie und rasen mit der Unbeirrtheit eines Läufers auf der Aschenbahn an den Wellenkämmen entlang. Ihre Geschwindigkeit scheint mir Ausdruck der Angst zu sein. Manchmal beobachte ich, wie sie auf Artgenossen treffen und sich mit einer halben Meile Abstand zu ihnen niederlassen; manchmal geraten sie dort aus dem Blick, wo Gischt und Himmel verschmelzen, noch immer mit rasender Geschwindigkeit, noch immer auf der Suche. In der großen Mehrheit scheint es sich um Vögel zu handeln, die den Sommer irgendwo am äußeren Kap verbracht und im Herbst Verstärkung aus dem Norden erhalten haben. Am besten beobachten kann ich die Tiere, wenn sie am späten Nachmittag bei Flut am Rande der Brandung nach Futter suchen. Zu dieser Stunde trüben weder sommerlicher Dunst noch die Gischt eines Brechers oder vor Hitze flirrende Luft den Blick in die Weite, und wenn ich, mit einer Last bepackt, am unteren Strand nach Hause gehe, sehe ich vor mir Vögel, Vögel und nichts als Vögel. Auf jede neue Welle, die sich bricht und brodelnd den Strand hinaufkriecht, reagieren einige der Tiere, indem sie sich abwenden und davonlaufen oder aufflattern, wenn sie sich zu sehr bedrängt fühlen, und wenn sich das Wasser, einem Sog folgend, wieder zurückzieht, finden sich jedes Mal Vögel, die ihm folgen, den Kopf hineinstecken und eifrig picken. Haben sie genug gefressen, fliegen sie zum oberen Strand und harren dort stundenlang im kühlen Wind aus, Flug neben Flug, Schwarm neben Schwarm. Das Grollen des Ozeans, fahles Licht und vom Wind geformte Fetzen winterlicher Wolken ziehen über die Dünen hinweg, die Wasserläufer stehen auf einem Bein und träumen, den Kopf tief im eigenen Federkleid vergraben. Mich interessierte, wo die Abertausend Tiere wohl die Nacht verbringen. Am nächsten Morgen stand ich noch vor Sonnenaufgang auf, zog mich rasch an und ging hinunter zum Strand, wo gerade Ebbe herrschte. Ich wandte mich nach Norden, dann nach Süden, doch weder im Norden noch im Süden noch in der Luft waren Vögel zu sehen. Nur ganz weit im Süden, so erinnere ich mich jetzt, erhob sich ein verängstigtes Strandläuferpaar von irgendwo auf dem oberen Strand, flog schnell und geräuschlos auf mich zu, passierte mich seitlich und ließ sich etwa hundert Yard von mir entfernt am Rande der Brandung nieder. Augenblicklich begannen die beiden herumzulaufen und nach Futter zu suchen, und während ich ihnen zusah, erhob sich mit der Geschwindigkeit und Feierlichkeit eines himmlischen Ballons die orangefarbene Sonne über den Horizont. Da die Flut ihren Höchststand derzeit am späten Nachmittag erreicht, beginnen die Vögel am Vormittag gegen zehn Uhr, sich zu versammeln. Manche kommen von den Salzwiesen herüber, andere nähern sich über den Strand, wieder andere sinken vom Himmel herab. Als ich vom oberen Strand zum unteren gehe, schreckt eine erste Gruppe von ihnen auf. Ich gehe direkt auf die Vögel zu – eine dunkle Vorahnung lässt sie zusammenrücken, dann ein Huschen, und sie sind auf und davon. Ich stehe auf dem Strand, zu meinen Füßen frische Abdrücke ihrer Krallen, und erfreue mich am Anblick einer Gruppe Vögel, die wie von Zauberhand zu einem Sternbild geworden ist, zu flüchtigen Plejaden, deren lebendige Sterne in der Position bleiben, die der Zufall ihnen zugewiesen hat; ich beobachte den Flug der Tiere, der sie spiralförmig nach oben führt und den Blick mal auf die weißen Bäuche, mal auf die gräulichen Rücken lenkt. Die Gruppe, der ich nun am nächsten bin, frisst, wenn auch durch die erste gewarnt, weiter. Ich nähere mich ihr; ein paar Tiere laufen weg, als wollten sie mir zu Fuß entkommen, andere halten inne und machen Anstalten loszufliegen; noch ein, zwei Schritte auf sie zu, und sie halten es nicht mehr aus: Auch sie rücken zusammen, erneut ein Huschen, und sie folgen ihren Artgenossen über die Wellen. Keine Spielart der Natur an diesem Strand ist mir so unerklärlich wie die Flüge der verschiedensten Gruppen von Strandvögeln. Wie ich bereits angedeutet habe, formieren sich diese Gruppen im Nu, und genauso schnell entwickeln sie ihren eigenen Willen. Vögel, die eben noch weit entfernt voneinander nach Futter suchten, jeder für sich und jeder aufs eigene Wohl bedacht, verschmelzen unvermittelt zu einem kollektiven Willen und steigen auf, fliegen, gleiten, neigen ihre Dutzende zählenden Körper wie ein Wesen, als das sie auf den neuen Kurs einschwenken, den der gemeinsame Wille der Gruppe vorgegeben hat. Einen Leitvogel oder Anführer, das sei ergänzt, gibt es nicht. Wäre dafür mehr Raum, so wäre mir nichts lieber, als mich über diesen spontan entstehenden kollektiven Willen und seinen Ursprung auszulassen, aber ich möchte diesen Teil des Kapitels nicht in die Länge ziehen und muss das Problem daher all jenen überlassen, die die psychischen Beziehungen eines Individuums zu den vielen untersuchen, von denen es umgeben ist. Was mich vor allem beschäftigt, ist die sofortige und gleichzeitige Unterwerfung jedes einzelnen dieser rasend schnellen Körper unter den kollektiven Willen. Mit welchen Methoden, welchen Mitteln der Kommunikation vermag dieser Wille so auf eine Gruppe einzuwirken, dass ein Dutzend oder mehr Einzelwesen ihn im selben Moment erkennen und sich ihm fügen? Müssen wir, wie Descartes es schon vor langer Zeit postulierte, annehmen, dass es sich bei all diesen Vögeln um machinae handelt, um Maschinen aus Fleisch und Knochen, die einander derart ähnlich sind, dass sie – wie ein Zahnrad ins andere greift – auf identische Einflüsse der Umwelt identisch reagieren? Oder gibt es eine übersinnliche Verbindung zwischen diesen Kreaturen? Werden sie von einer Art Strom zusammengehalten, der während des Fluges durch jedes einzelne Tier oder durch die Gruppe fließt? Fischschwärme, so glaube ich zu wissen, machen vergleichbare Richtungswechsel. Einmal habe ich es selbst gesehen, aber dazu später mehr. Wir brauchen ein anderes, ein klügeres und vielleicht mystischeres Verständnis von Tieren. Der moderne Mensch, der sich von der Natur entfernt hat und auf allerlei technische Hilfsmittel verlässt, betrachtet sie durch den Zerrspiegel seines Wissens, in dem eine Feder vergrößert und dabei doch das gesamte Bild verfälscht erscheint. Wir schätzen die Tiere gering, weil wir sie für unvollkommen halten, weil das Schicksal sie vermeintlich weit unter uns angesiedelt hat. Doch hierin irren wir, irren wir gewaltig. Denn Tiere dürfen nicht am Menschen gemessen werden. In einer Welt, die älter und vollendeter ist als die...


Henry Beston, geboren 1888 in Quincy (Massachusetts), 1968 in Nobleboro (Maine) gestorben, war Autor zahlreicher Bücher. Er studierte in Harvard und unterrichte anschließend an der Universität Lyon, bevor er als Englischdozent nach Harvard zurückkehrte. "Das Haus am Rand der Welt" erschien 1928 und wurde umgehend zum Erfolg.


Ihre Fragen, Wünsche oder Anmerkungen
Vorname*
Nachname*
Ihre E-Mail-Adresse*
Kundennr.
Ihre Nachricht*
Lediglich mit * gekennzeichnete Felder sind Pflichtfelder.
Wenn Sie die im Kontaktformular eingegebenen Daten durch Klick auf den nachfolgenden Button übersenden, erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Ihr Angaben für die Beantwortung Ihrer Anfrage verwenden. Selbstverständlich werden Ihre Daten vertraulich behandelt und nicht an Dritte weitergegeben. Sie können der Verwendung Ihrer Daten jederzeit widersprechen. Das Datenhandling bei Sack Fachmedien erklären wir Ihnen in unserer Datenschutzerklärung.