Besson | Hör auf zu lügen | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 160 Seiten

Besson Hör auf zu lügen

Roman - Ausgezeichnet mit dem Euregio-Schüler-Literaturpreis 2021
1. Auflage 2018
ISBN: 978-3-641-22525-4
Verlag: C.Bertelsmann
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman - Ausgezeichnet mit dem Euregio-Schüler-Literaturpreis 2021

E-Book, Deutsch, 160 Seiten

ISBN: 978-3-641-22525-4
Verlag: C.Bertelsmann
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Über die Zwänge der Moral und die rettende Kraft der Worte
Philippe ist 17 Jahre alt und ein Außenseiter. Als hochbegabter Sohn des Schuldirektors, der wenig Kontakt zu den Mitschülern hat, lebt er in einem französischen Provinznest. Er fühlt sich von seinem Klassenkameraden Thomas, einem geheimnisvollen und charismatischen Winzersohn, angezogen und ist ganz verblüfft, als dieser sein Interesse erwidert. Thomas wird seine erste und große Liebe. Eine Liebe, die nur im Verborgenen gelebt werden darf und die für Thomas tragisch endet, weil er, geprägt durch die ländlichen Konventionen, seine sexuelle Identität sein Leben lang verleugnen wird. Ein authentischer und tief berührender Roman über Liebe und Identitätsfindung.

'Besson gelingt es, sehr genau, empathisch und ohne jede Peinlichkeit die Gefühle zweier fast Erwachsener zu beschreiben. Der Roman ist eine Hommage an das Schreiben und das Erzählen, die im besten Falle Leben retten können.' Dina Netz, Deutschlandfunk'

Philippe Besson wurde 1967 in Barbezieux, einem Dorf in der Charente, geboren. Nach dem Besuch des Gymnasiums in Bordeaux und der Oberstufe in Rouen, ging Besson 1989 nach Paris, wo er zunächst eine Laufbahn als Jurist und Dozent für Sozialrecht einschlug. 1999 begann er an seinem ersten Roman Zeit der Abwesenheit zu schreiben, der Anfang 2001 in Frankreich erschien. Fortan veröffentlichte er fast jährlich einen neuen Roman.

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Noch immer Bordeaux. Mehr als zwanzig Jahre sind vergangen. Die Stadt hat sich verwandelt. Als ich achtzehn war, war sie dunkel, die Gemäuer wie verrußt. Jetzt ist sie hell, die Fassaden wurden gereinigt, Ockerton herrscht vor. Sie war abweisend, zerfiel. Nun hat sie sich geöffnet, Jugend hat ihre Viertel in Beschlag genommen, abends hat sie sogar etwas Spanisches, das rührt von den vielen Leuten auf den Plätzen oder in den Straßencafés, vom Klang der Gläser beim Anstoßen, von den Gesprächen, die leichter Wind heranträgt, von der guten Laune. Die Bürgerschaft war damals vergreist, nun ist sie frisch und zwanglos. Doch vor allem hat die Stadt seither ihren Fluss wiederentdeckt, seine Kais umgestaltet und herausgeputzt. Zuvor verfielen dort Schlachthöfe, Unkraut wucherte, Stacheldraht, Schlamm, Sie machen sich keine Vorstellung. Doch sehen Sie jetzt nur, wie elegant, diese Uferanlagen, Rasen, Platanen, der sogenannte Wasserspiegel gegenüber der Place de la Bourse und direkt davor die Straßenbahn.

Ich bin Schriftsteller geworden. Ich bin zu einer Diskussion und einer Signierstunde in einer Buchhandlung angereist. Man kommt auf meinen jüngsten Roman zu sprechen. Sie sind mein Leben geworden, die Bücher. Es ist zu spät, um heute Abend nach Paris zurückzufahren, kein Zug mehr, mir wurde ein Hotelzimmer reserviert, unweit der Esplanade Tourny. Morgen früh soll ich noch eine Journalistin treffen, und ich werde die Stadt ein bisschen genießen können, vielleicht einfach an der Garonne bummeln, bevor ich dann wieder aufbreche, heim zu mir.

Es ist exakt dieser Morgen. Das Gespräch verebbt allmählich, als ich einen Umriss erblicke, mit seinem Koffer den jungen Mann von hinten, der das Hotel verlässt. Und ich sehe die Erscheinung, die es nicht geben kann, und rufe den Vornamen. Ich stehe abrupt auf, um den Jungen auf dem Gehsteig einzuholen, ihn an die Schulter zu fassen, er dreht sich um.

Und er ist es beinahe.

Sagen wir, die Ähnlichkeit ist atemverschlagend und mehr noch. Sie ist es in einer Weise, dass es mir kalt den Rücken hinunterläuft, dass mir schwindelig wird, ich für Augenblicke leicht taumele, ich schnappe nach Luft (dergleichen Situation wirkt sich physisch aus, bis ins Mark, so, wie Lebensgefahr panische Angst mit hektischem Bewegen, Verkrampfung hervorruft).

Die gleichen Gesichter, derselbe Blick, erschreckend. Beängstigend.

Doch ein winziger Unterschied, der wahrscheinlich mit der Gesamterscheinung oder mit dem Lächeln zu tun hat, besteht.

Und dieser winzige Unterschied lässt mich wieder zu Sinnen kommen, vernünftig werden.

Als ich klar denken kann, sage ich zu dem jungen Mann nicht: Entschuldigung, ich habe mich geirrt, ich glaubte, jemanden wiedererkannt zu haben. Ich sage auch nicht: Wenn Sie wüssten, wie sehr Sie jemandem ähneln, den ich vor langer Zeit gekannt habe. Ich sage: Du bist das vollkommene Ebenbild deines Vaters. Wie aus der Pistole geschossen antwortet er: Das höre ich dauernd.

Dann bleiben wir ohne ein weiteres Wort stehen. Ich betrachte ihn, wie ich ein Gemälde betrachten würde. Das heißt, ich spähe nach Details, verharre, benehme mich, als lebte er nicht, als ob er wiederum nicht mich musterte. Ein Abbild, wahrlich.

Mein Körper beruhigt sich.

Mein Prüfen muss dem jungen Mann peinlich sein. Am besten sich dem entziehen. Oder er hält es sogar für unverschämt, plump. Doch nein, er findet es eher unterhaltsam, er lächelt. Ich hatte recht: Das Lächeln ist nicht exakt dasselbe.

Ich frage, ob er es eilig oder, ganz im Gegenteil, Zeit für einen Kaffee habe. Ich höre mich selbst die Frage stellen, die mir herausrutscht, gedankenlos entschlüpft, die ich nicht bedenke, die mein gebieterisches Verlangen beweist, dieses wundersame Kind dazubehalten, es keinesfalls abreisen zu lassen, um es, kein Zweifel, dringlich auszufragen, die immense Leere von dreiundzwanzig Jahren zu füllen. Mir bleibt keine Zeit, diese eigenartige Begierde widersinnig zu finden, noch weniger kann ich sie selber deuten oder erschrecken. Es ist gesagt, gegen meinen Willen, nun muss man sehen.

Er sagt, sein Zug gehe in einer Stunde, dass er noch ein bisschen bleiben könne. Sofort wundert es mich wiederum, dass er der Bitte eines Fremden so leicht nachgibt: Ich hätte es nicht getan, ich hätte mich dem Verhör entzogen, ich wäre meiner Wege gegangen, in meine Abgeschiedenheit zurückgeschlüpft.

Natürlich hat er verstanden. Er weiß, woher mein Interesse an ihm rührt. Aber warum genügt das, ihn zum Bleiben zu veranlassen? Umso mehr, als er selbst gesagt hat: Auf diese Ähnlichkeit werde er oft angesprochen, das könnte ihn allmählich langweilen. Er wirkt nicht gelangweilt. Lächelt weiter. Und liefert selbst die Erklärung, weshalb er auf meine Einladung eingeht. Er sagt: Sie müssen ihn sehr gemocht haben, wenn Sie mich so anschauen.

Wir setzen uns dorthin, wo ich mit der Journalistin Platz genommen hatte. Ich beende, recht unhöflich, das Treffen mit ihr. Ich bleibe mit dem jungen Mann allein. Ich sage: Ich kenne nicht einmal deinen Vornamen. Er sagt: Lucas (und als gäbe es den Zufall nicht, beunruhigt mich dieser Name, den ich so oft in meinen Büchern benutzt habe). Ich sage meinerseits, wer ich bin. Er ergänzt: Sie sind ein Jugendfreund meines Vaters, nicht wahr? Ich vernehme die Bezeichnung, finde sie schön, falsch, aber schön. Ich sage: Ja, genau … ein Jugendfreund …

Der Satz bleibt unvollendet. Wegen der Stimme, die eine andere wachruft, wegen der Gestik auch, die berückend ähnlich ist, kehrt das Gefühl zurück. Es kümmert mich nicht, dass sie ein Erbteil ist, übernommen wurde.

Ich frage, ob es Thomas gut geht. Ich sage natürlich nicht: Thomas. Ich sage: Deinem Vater. Die Frage erweckt den Anschein einer angemessenen, höflichen Erkundigung, eines unerlässlichen Übergangs, selbstverständlichen Beginns. Für mich ist sie gleichwohl etwas völlig anderes: existenziell vielleicht. Mein Gegenüber weiß das Gott sei Dank nicht, vernimmt nur Höflichkeit. Er lächelt wieder mit einer Mischung aus Hellhörigkeit und Staunen. Er sagt: Schwierig zu sagen, ob es ihm gut geht, er ist so verschlossen … War er das schon damals, zu Ihrer Zeit? Ich erfasse das »zu Ihrer Zeit«, das ohne Boshaftigkeit ausgesprochen wurde, doch meine Jugend in ferne Zeiten entrückt, sie als Kuriosum, ein Studienobjekt, Absonderliches erscheinen lässt. Ich antworte, dass er nie gesprächig war, wirklich nicht, von seinem Wesen her eher zur Schweigsamkeit neigte, sich zumindest immer zurückhielt. Lucas macht einen ganz anderen Eindruck: Er wirkt munter, offen dem anderen gegenüber, nicht wild. Er hat das Wilde nicht geerbt.

Ich frage, ob er noch immer am selben Ort wohnt, bin von meiner eigenen Zudringlichkeit überrascht. Der Sohn bestätigt: Natürlich! Können Sie sich ihn woanders vorstellen? Mein Vater gehört zu jenem Typ, der sich nicht verpflanzen lässt. Der stirbt, wo er geboren wurde. Aus einem Abwehrreflex sage ich: Und bei dir ist es nicht so? Er bestätigt: Unser einer schaut sich gerne um. Ist doch normal, in meinem Alter, oder? Ich stimme ihm vorderhand zu. Und dann mache ich ihn darauf aufmerksam, dass sein Vater sich einmal aufgemacht hat, sogar er, eines Tages, weil er in Spanien Arbeit gefunden hatte, damals. Ich füge hinzu: Genau da haben wir uns aus den Augen verloren, er und ich. Die letzten Worte spreche ich so nüchtern aus wie möglich, als wäre das Leben eben so, ganz einfach, miteinander zu schaffen zu haben und sich aus dem Blick verlieren und weiterleben, als wenn es kein Zerbrechen, keine Trennungen gäbe, die einen aushöhlen, keine Brüche, von denen man sich kaum erholt, keinen Kummer und keine Sehnsucht noch lange danach.

Der Sohn korrigiert: Nach Galicien, was nun auch nicht gerade Peru ist. Eher nebenan. Und überdies zu unserer Familie. Also es gibt schon eindrucksvollere ferne Winkel.

Ich bemerke den Elan und die Unbefangenheit einer Generation, die auf einem geschrumpften Planeten aufgewachsen ist und für die eine Reise keinerlei Aufbruch ins Ungewisse, sondern ein gängiges Abenteuer ist und für die Sesshaftigkeit einen verschleierten Tod bedeutet. Ich sehe das Weltkind. Mir kommt in den Sinn, dass sein Leben wahrscheinlich anders verlaufen wäre, wenn sein Vater auch so gedacht hätte. Wenn er nicht in einer anderen Epoche gelebt hätte. Und wenn er es fertiggebracht hätte, sich von seinen Fesseln zu befreien.

Das Kind fügt an: Gut, ganz simpel, ohne seinen spanischen Einschub (Einschub: Der Begriff lässt sich wohl nicht passender verwenden?) wäre ich nie auf die Welt gekommen. Mein Gesicht zeigt Unverständnis. Er räumt damit gleich auf: Dort unten hat er meine Mutter kennengelernt.

Sodann lässt er die Geschichte ablaufen.

Gemeinsam mit Onkeln und Cousinen wurde Thomas auf einem großen galicischen Landbesitz angestellt. Es hieß von ihm, er arbeite hart, gebe alles, er scheue auch bei unerträglicher Sonne oder sintflutartigen Regengüssen keine Arbeit, er beginne frühmorgens, höre als einer der Letzten auf, die Männer waren stolz auf ihn. Seine Tante meinte, er lade sich zu viel auf. Erkannte sie, dass es für einen Achtzehnjährigen, der weiter die Schulen hätte besuchen können, nicht ganz normal war, sich allein mit seiner Muskelkraft, seinem Körper dermaßen in die Fron zu stürzen? Hat sie gemerkt, dass solcher Furor eine Methode war, sich selbst zu vergessen, aufzulösen, auch sich etwas zu beweisen, willentlich zu leiden? Ich werfe diesen Gedanken ein, Lucas seinerseits belässt es bei einem Jungen, der unter unmenschlichen Bedingungen ackert. Vor meinen Augen...


Besson, Philippe
Philippe Besson wurde 1967 in Barbezieux, einem Dorf in der Charente, geboren. Nach dem Besuch des Gymnasiums in Bordeaux und der Oberstufe in Rouen, ging Besson 1989 nach Paris, wo er zunächst eine Laufbahn als Jurist und Dozent für Sozialrecht einschlug. 1999 begann er an seinem ersten Roman Zeit der Abwesenheit zu schreiben, der Anfang 2001 in Frankreich erschien. Fortan veröffentlichte er fast jährlich einen neuen Roman.

Pleschinski, Hans
Hans Pleschinski, 1956 in Celle geboren, studierte Germanistik, Romanistik und Theaterwissenschaften in München. Er arbeitete für Galerien, die Oper und den Film. Seit 1985 ist er Mitarbeiter beim Bayerischen Rundfunk und lebt als freier Autor (u.a. «Ludwigshöhe», 2008) in München.



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