Bernemann | Vogelstimmen | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 288 Seiten

Reihe: Anti-Pop

Bernemann Vogelstimmen

Menschen mit Vergangenheit könnten auch Menschen mit Zukunft sein...
1. Auflage 2018
ISBN: 978-3-86608-624-1
Verlag: U-Line UG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Menschen mit Vergangenheit könnten auch Menschen mit Zukunft sein...

E-Book, Deutsch, 288 Seiten

Reihe: Anti-Pop

ISBN: 978-3-86608-624-1
Verlag: U-Line UG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Dirk Bernemanns neuestes Werk über Menschen mit Vergangenheit, die erkennen, dass sie auch Menschen mit Zukunft sein könnten.

'Und ich dachte: ein Frühlingstag. Ja, ja, ja, ein Frühlingstag. Der Mai hat seine Mitte erreicht. Doch was bringt die Mitte eines Mais, wenn es so was wie Vergänglichkeit gibt, wenn man von der Mitte eines Mais schon das Ende eines Novembers erkennen kann?'

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«Mama, ich muss, bis Sonntag.» Und meine Mutter atmete einmal heftig aus, ihr Mund wurde schmal, daraus quoll ein Pfeifton, unbeabsichtigt wahrscheinlich und das musste mir als Antwort genügen. Ich stand auf und beabsichtigte den Raum zu verlassen. Am liebsten schnell, damit es weniger wehtat. So wie man ein Pflaster von einer Wunde abreißt, so gedachte ich zu verschwinden. Dinge, von denen ich wusste, dass in ihnen Schmerzpotential vorhanden war, versuchte ich immer, in überirdischer Geschwindigkeit zu erledigen, weil mich der Schmerz sonst zu Boden gerissen und wie eines seiner typischen Opfer behandelt hätte. Meine Mutter starrte nach oben. Das Oben starrte zurück, und zwar in unmittelbar gleichförmiger Gelassenheit. Ich ging einige Schritte, das Bild meiner Mutter hatte sich verletzend in mein Bewusstsein geschlängelt, ich hatte diese tristen, grauen, morbiden Momente gespeichert, weil die was von mir wollten, die Momente. Aber das Bedürfnis dieser Momente, die sich in meinen Geist zu schütten gedachten, drang nicht mehr zu mir durch. Aus diesen Momenten bestand dann wohl letztendlich noch meine Mutter. «Entschuldigung, haben Sie eine Minute?» Eine fette Altenpflegerin, an deren unförmiger Brust die Worte «Frauke Harmsen» und «examinierte Altenpflegerin» auf einem Schild zu lesen waren, passte mich auf dem Flur ab. Sie kam wohl gerade aus dem Zimmer von Frau Bender, aus dem es verzweifelt und vielsagend «wota, wota, äh ...» schallte, und diese Frauke begrüßte mich mit dem Handschlag eines Holzfällers. Ich dachte mir nur so, wenn sie mit dieser Grobmotorik auch Menschen wäscht und pflegt, verstünde ich die Verweigerung der letzten Lebenstage sehr gut. Frauke roch nach Desinfektionsmittel und Eigenschweiß. Eine sehr ungute olfaktorische Kombination. Ich hatte sie hier schon öfter mal über den Flur laufen sehen und immer wirkte sie wie ein unförmiges Ding, das von Zimmer zu Zimmer hopste, Türen aufriss und in einer derben Sprache alte Menschen volltextete. Sie wirkte wirklich wie ein frustrierter Waldarbeiter, den man irrtümlich in einen falschen Körper gesteckt hatte und der nun, feinmotorisch überfordert, seinem Schaffen nachzugehen gedachte. Nur statt dem Zerlegen von Bäumen war es hier die Aufgabe, pflegebedürftigen Menschen, die in Betten lagen, zu helfen, und ich konnte mir vorstellen, wie es war, von Fraukes groben Händen gewaschen zu werden. Man fühlte sich wie eine Biergartenbank, die an einem Frühlingstag von einer sexuell frustrierten Kellnerin von Vogelkot gereinigt wurde, bevor sie an ihren Platz gerammt wurde. Beim Begrüßen bemerkte ich auch, dass Frauke nicht nur von kräftiger Statur war, sondern dass eine Stimme in ihr wohnte, die das Bild der hobbyholzfällenden Pflegekraft noch ergänzte. Irgendwas zwischen Lemmy von Motörhead und dem Geräusch, das Zugbremsen machen, nannte sie ihre Stimme. Unangenehm, aber interessant. Sie fasste mir Distanz durchbrechend und pseudofreundlich an den Unterarm und sagte: «Also, Sie haben Ihre Mutter ja gerade gesehen, ihr Zustand hat sich weiter verschlechtert, sie reagiert nur noch momentweise und die Ernährungssituation ist wirklich besorgniserregend.» Im Vergleich zu Fraukes Ernährungssituation war mir das klar. «Wir denken über enterale Ernährung nach.» Ihre Augen glotzten mich aus tiefen Höhlen mit Nachdruck an. «Enterale Ernährung?», fragte ich vorsichtig und hatte Frauke damit eine Kompetenz verschleudernde Steilvorlage gegeben. «Wir müssen die Nährstoffversorgung Ihrer Mutter gewährleisten, und da sie nur noch selten selbstständig ist und wir das Essenanreichen aus Personalgründen nicht leisten können, empfehlen wir eine sogenannte Ernährungspumpe. Bei Ihrer Mutter wird ein minimaler operativer Eingriff vorgenommen, ambulant versteht sich, und durch einen kleinen Schnitt durch die Bauchdecke wird ein Schlauch direkt in ihren Magen eingeführt, durch den Ihre Mutter problemlos flüssig ernährt wird.» Bei dem Gedanken an diese Prozedur stieg mir Kotze an den Halsrand, und Frauke unterstützte ihre medizinische Ausführung mit den Worten, dass das ja heute ein Routineeingriff sei und ich die Sache mit meinem Vater besprechen solle, der ja als Ehemann so etwas wie der gesetzliche Vertreter meiner nicht mehr entscheidungskompetenten Mutter war. Der solle dann entscheiden. «Essen wird auf Dauer eine Qual für den dementen Menschen», verallgemeinerte dann Frauke den Zustand meiner Mutter, und spätestens da hätte ich ihr auch gerne ein Loch in die Bauchdecke geschnitten und ihr durch einen Schlauch den Magen aufgeblasen, bis sie geplatzt wäre. Ich kannte derlei Bilder, wie sie mir vorschwebten, aus drittklassigen Comics, aber diese Visionen verlangten nach tatsächlicher Erfüllung. Ich wollte Fraukes Reste als Schmierfilm an der Wand sehen, vermied es aber trotzdem, meine aufkeimende Wut gegen diesen Pflegeflummi zu offenbaren, und sagte nur: «Ok, mal überlegen. Muss mich mal informieren.» Das ärgerte Frauke ein wenig und sie unterstrich den Satz: «Sie tun Ihrer Mutter dadurch einen großen Gefallen», mit einer streichelnden Waschlappenhand, die über meinen Unterarm glitt und mir Gänsehaut verursachte. Ihre Haut an der Hand war sehr hart. Ich nickte Frauke zu, als Zeichen, sie verstanden zu haben, aber in diesem Blick lag auch der Wille, mich aus dieser Situation zu verabschieden. Frauke drehte sich wieder um, um in einem Zimmer zu verschwinden. Ich wandte mich ebenfalls ab und ging Richtung Treppenhaus. Die Bender brüllte: «... wota, wota äh ...», und ich war heillos überrannt von einer Armee aus Informationen und Gefühlen. Für diese Art von Kampf war ich ein leichtes Opfer. Ich war entmachtet, wie meine Mutter, wie eigentlich alle Menschen von der Vergänglichkeit übernommen werden. Feindliche Übernahme der Menschen seitens der Vergänglichkeit. Im Eingangsbereich von St. Anna war nicht so viel los wie an den Wochenenden. Auch Frau Overberg war nicht da, sondern ein misanthropisch dreinblickender Zivildienstleistender, der seinen gelangweilten Blick durch den Raum gleiten ließ, als suchte er vergeblich nach Rückständen von Leben darin. Neben der Anmeldung saß auf einer Holzbank ein alter Mann mit einem braunen Cordhut. Er atmete wie eine Schnappschildkröte, und ich dachte, wie schlimm muss das sein, wenn die ganze Atmosphäre voller Atemluft ist, man selbst aber außerstande ist, diese für sich zu nutzen. Sterben geht so. Der Schildkrötenmann guckte mich aus verwässerten Augen an, als wusste er, was sich hinter der unbekannten Wand namens Sterben abspielte. Sein faltiges Gesicht verformte sich zu einer Art Lächeln, das ich aber nicht erwidern konnte. Er hatte sein eingespeicheltes Oberkiefergebiss in der zitternden linken Hand und versuchte, die Leichtigkeit des Atmens wiederzufinden. Vergebens schnappte er schildkrötengleich durch den Raum, der Versuch zu atmen sah aus wie der Stress, den ich empfand, wenn ich die Leichtigkeit von Gedanken suchte, aber nur Belastung fand. Vor dem Gebäude rauchte ich schnell zwei Zigaretten hintereinander weg und der Geschmack im Mund wurde ein vertrauter. Ich ertrug diese regelmäßige Vergegenwärtigung des Sterbens nicht wirklich gut und doch faszinierte mich dieser Aspekt des menschlichen Lebens kurz vor der konkreten Ziellinie. Das Auf- und auch das Verblühen waren zwei Punkte am Menschsein, die große Symbole waren. Ich hoffte darauf, dass das Verblühen nicht wehtat, dass da kein Körperschmerz in meiner Mutter war, sondern nur ein grauer Vorhang, hinter dem sie sich bei Bedarf verstecken konnte. Das wünschte ich ihr von Herzen. Ich ging einige Schritte Richtung Busbahnhof. Ich wusste nicht direkt, was mein nächstes Ziel sein sollte, und irgendwie fand ich es ungut, jetzt allein zu Hause zu sein. Ich entschied mich dazu, meinen Vater zu besuchen. Zwischen zu wenig und zu viel Liebe bin ich hier aufgewachsen. Immer irgendwie unpassend, immer gerade der Tetrisblock, der nicht benötigt wird. Ein dünnes Kind mit dichten Gedankenschemen war ich. Eine Kleinigkeit zu befindlichkeitsfixiert. Nicht Tom Waits öffnete die Tür, sondern ein Mensch ohne Musikgeschmack und ohne Feingefühl für Stil. Der, aus dessen Samen ich gemacht bin, der, der mich gepflanzt hat, der Architekt meiner Genetik. Trübtassiges Grau auf schütterem Haar war das Erste, was ich von ihm wahrnahm, und dann begannen Zellen zu überlegen und erkannten Eigenfleisch; und er, der nicht Tom Waits war, aber den ich mir als Tom Waits wünschte, er lächelte und eine kleine Welt wurde für Bruchteile von Sekunden heil und rund, tickte aber etwas haltlos daher, aber immerhin, es tickte. Wir waren die salzlose Suppe im Obdachlosenwohnheim Leben. Er wirkte ungepflegt. Vernachlässigte Rasur und spröde Haut. Er sah aus wie der Künstler, der er nicht war. Feuchte blaue Augen blickten mich durch eine schon in den 80er-Jahren unmoderne Hornbrille an. «Ach Junge, schön, dass du mal vorbeischaust.» «Hallo Papa.» Wir gaben uns die Hand wie Roboter, die programmiert darauf waren, einen guten Eindruck zu hinterlassen, nicht...


Dirk Bernemann, geboren 1975, mittags. Fing mit fünf Jahren an zu schreiben, hörte aber mit 6 Jahren wieder auf. Dann Schuleintritt und Verzweiflung. Wiederaufnahme des Schreibens ca. 1997 in Form von Songtexten für Punkbands, die es nie gab und Tagebüchern. Ein paar Liebesbriefe später wusste er auch, wie es funktioniert. Weniger als 10 Jahre vergingen und es erschien sein erstes Buch, seitdem einen Fuß in der Tür des Literaturbetriebs, die immer wieder zugeschlagen wird. Arme Tür. Armer Fuß. Trotzdem weitermachen, immer wieder. Was er mag: Obstsalat, Weisswein, Bücherstapel. Was er nicht mag: Tod, offene Bäuche, Poetry Slam.



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