Bergkraut | Hundert Tage im Frühling | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 208 Seiten

Bergkraut Hundert Tage im Frühling

Geschichte eines Abschieds
2. Auflage 2024
ISBN: 978-3-03855-281-9
Verlag: Limmat Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Geschichte eines Abschieds

E-Book, Deutsch, 208 Seiten

ISBN: 978-3-03855-281-9
Verlag: Limmat Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Eine Frau ist krank, sie wird sterben. Ihr Ehemann begleitet sie. Die Reise geht über hundert Tage, sie führt in drei Kliniken, zu zahlreichen Ärztinnen und Ärzten und schliesslich nach Hause. Die Frau ist Ruth Schweikert, sie hat vor Jahren über ihre Krebserkrankung ein Buch geschrieben, «Tage wie Hunde». Eric Bergkraut schreibt das Buch fort, es wird zur Hommage auf seine Partnerin. Direkt und behutsam zugleich beschreibt er den gemeinsamen Weg. Er blendet zurück auf ein gemeinsames Leben mit Höhen und Tiefen, die erste Begegnung steht neben den letzten Gesten. «Hundert Tage im Frühling» ist das berührende Dokument eines Abschieds. Und wird zugleich zu einem Lebensbuch, das Mut spendet. Vielleicht nicht auf ein anderes Leben nach dem Tod. Aber auf das Leben bis dahin.

Eric Bergkraut, geboren 1957 in St-Maur bei Paris, ab 1961 aufgewachsen in Aarau. Ausbildung zum Schauspieler, Engagements am Theater sowie für Film und Fernsehen. Später Reportagen und seit 1991 Filme als Regisseur und Produzent, u. a. mit Anna Politkowskaja, Ágota Kristóf, Peter Bichsel und Michail Chodorkowski. Sein Werk wurde mehrfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Vaclav Havel Award für «Letter to Anna».

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II
Deine Hoffnung hat einen Namen: A. Dort ist eine anthroposophische Klinik, die Du kennst und schätzt. Und sie hat einen zweiten Namen: Trodelvy. Die beiden Namen passen schlechter zusammen, als Du zunächst denkst. Die Klinik nimmt Dich auf als einen Menschen auf dem Weg zum Sterben. Du aber gehst für eine Therapie, die Dir endlich bewilligt worden ist. Du willst lieber an ihren Folgen sterben, als den Tod als einzige Perspektive vor Dir zu sehen. Auch aus diesem Zimmer gibt es einen Blick auf Gärten und Häuser. Und es dringen tierische Geräusche zu uns. Ein Hahn wohnt gegenüber im abfallenden Garten. Daneben steht eine alte Tanne. Es heißt, die Vögel liebten diesen Baum und suchten ihn gerne auf. Rechts davon, schon beim Nachbarn, steht ein Apfelbaum. Jetzt am Nachmittag, wo Wind aufkommt, lösen sich weiße Blüten und flattern durch die Luft. Es sind zwei- und dreistöckige Häuser, gebaut vor achtzig, neunzig Jahren, mit Garten, ganz ähnlich, wie sie im Zelgliquartier von Aarau stehen, wo wir beide aufgewachsen sind, ohne uns je zu kreuzen, obwohl zwischen unseren Elternhäusern nichts lag als ein großer Friedhof, auf dem wiederum, heute, Deine Eltern ruhen und auch meine. Zum Znacht gibt es Grießbrei mit Zwetschgen. – Für – mich – ist – das – eine – Kindheits – erinnerung, sagst Du. – L’appétit marche, tout marche, pflegte mein Papa zu sagen … Und meine Mutter fügte gerne dazu – C’est mon opinion et je la partage. Bevor ich gehe, sagst Du: – Hau nicht ab, bleib hier! Daran denke ich nicht im Traum, merke aber doch an, es sei vielleicht auch nett für Dich, mal Freundinnen und Freunde um Dich zu haben, ich käme ja wieder. Später, beim Salat im Restaurant, sagt mir Deine Freundin ins Telefon: Ruth, das ist eine autonome Frau. So gesehen und weil das stimmt: Die passende Äquidistanz zueinander zu finden, das war manchmal ein Thema. Es hat jede Virulenz verloren, ich genieße jeden Moment der Nähe, die Du von mir jetzt wünschst oder forderst oder auch mir zu gewähren bereit bist. A., wo Du jetzt bist, liegt bloß fünfzehn Kilometer Luftlinie entfernt von jenem Ort, wo Du 1964 geboren wurdest, Deiner ersten Station in dieser Welt, die Nähe ist purer Zufall. Mir fällt ein, dass Du vor Jahren mitgespielt hast, als es hieß, Du seist 1965 geboren. Liegt das daran, dass Deine Mutter, auf Konvention bedacht, darunter gelitten hat, dass die Umstände, unter denen Du zur Welt kamst, gesellschaftlich unkorrekt waren? Dass Deine Eltern 1965 aber ein verheiratetes Paar gewesen wären, schon rückgerechnet, zum Zeitpunkt Deiner Zeugung, die dann 1964 erfolgt wäre? NICHTS IST WAHR, ABER ALLES VON BEDEUTUNG Zurück vom Gasthaus zum Ochsen in der Klinik, frage ich Ruth erst: – Warum 1965 als falsche Angabe? – Ach, bloß ein Irrtum irgendwann auf einer Behörde, er hat mir Spaß bereitet, und so habe ich ihn nicht korrigiert – Nach einer Pause schiebst Du nach: – Ich wurde am 8. Dezember 1963 gezeugt. – Du kennst das Datum deiner Zeugung? – Ja. Ich wundere mich. Bei aller Affinität zu Zahlen und Daten. Und im Wissen darum, wie sehr Fragen rund um Geburt und Zeugung Dich immer beschäftigt haben. – Meine Mutter hat es mir so erzählt. Mein Vater war ihr erster Partner, sie war schon 33 Jahre alt, sie war unerfahren – sie war ein Fräulein –, und es ging alles sehr schnell, es geschah ganz aus dem Augenblick heraus. Und ja, stimmt, wäre ich am 15. Juli 1965 zur Welt gekommen, wäre ich von einem schon verheirateten Paar gezeugt worden, das hätte meiner Mutter entsprochen, dann wäre der Makel nicht gewesen, sie trug schwer daran. Das wusste ich, das schrieb ich eine Zeit lang fort. Es ist lange her, die Scham … In diesem Augenblick gackert ein Huhn zu uns hoch und kräht sein Hahn dazu. 8 Ja, und mein eigenes Leben? Glücklich, ohne es konkret zu suchen, das Schreiben für mich gefunden zu haben, es ist beinah selbstverständlich, tägliches Brot … Anfang 94 erscheint endlich mein erstes Buch, eine Sammlung mit Erzählungen … Schlage mich seit Jahren mit Liebhabern, Freundschafts-, Partnervorstellungen herum, denke immer mal wieder, jemanden gefunden zu haben, mit dem eine lebendige Partnerschaft möglich ist … Tendenzen, Grenzen zu überschreiten, meine 4-monatige Arbeit an einem Live-Sex-Telefon ist ein solcher Versuch … Ich schreibe selten Briefe, merke ich, lange Pausen auch jetzt zwischen meinen Sätzen … (Brief an eine Freundin, nicht abgeschickt, 30. Juli 1993) 8 Eine wiedergewonnene Jugendfreundin sitzt seit einer halben Stunde neben uns, die Stimmung ist vertraut, sie hört Dir zu, sie berichtet, wir schweigen. – Ich habe Schmerzen, überall, sagst Du. Du weigerst Dich, ein Mittel dagegen zu nehmen. Später verlangst Du danach. Die Tanne vor Deinem Fenster erinnert mich an jene, die bei Familie Rohr in Aarau stand, an der Ecke Zelgli-/ Tannerstraße. Auf halbem Weg von Deinem Heim an der Hohlgasse zu meinem. Die gleichen weit ausladenden Äste und schweren Zapfen. Ich erinnere mich, dass ich ängstlich wegschlich, wenn eine Gruppe den Baum hochkletterte, die Äste als Sprossen nutzend. Und dass die Tochter Rohr vor Jahren unvermutet auf einer meiner Filmvorführungen aufgekreuzt ist, die in Graubünden stattgefunden hat. ICH BIN JETZT BEREIT, HELFT MIR, ABSCHIED ZU NEHMEN VON DER WELT Ich erinnere mich an unsere Spaziergänge der letzten Monate vor der Explosion. Vor und nach dem wöchentlichen Therapietermin hattest Du gefastet, auf dass die Chemie besser auf die kranken Zellen schieße. Wir fuhren los, im Auto, Du, Anhängerin des öffentlichen Verkehrs, und diskutierten erst unterwegs, wohin, Albisgüetli, Triemli oder Waldegg? Hauptsache Wald und also Sauerstoff, und ärgerlich warst Du nur, wenn da doch mal zu wenig Bäume standen, aber auch daraus wurde bald ein Spiel. Wir haben viel gelacht, ich beliebte zu scherzen: – Jetzt gehen wir fast wie ein normales Paar, Seite an Seite. Und Du hast genickt, stumm. Natürlich gibt es keine normalen Paare. Und wenn doch, so waren wir schon immer eines. Es waren die Wochen, in denen Du unsere Auswanderung nach Albanien geplant hast. Und begonnen hast, diese Sprache zu erlernen. Ein paarmal noch fuhr ich Dich zum Kurs, bis Du befandest, im Tram gehe es schneller, was auch zutraf. Ich erinnere mich, nach der Geburt unserer Zwillinge, Du warst im Zweierzimmer, mit Dir eine Schwarzafrikanerin, die stets die ganze Familie zu Besuch hatte. Jetzt hast Du es ähnlich, aber im Einzelzimmer: Freunde kommen, ehemalige Studierende und heutige Kolleginnen, es gibt Projekte. Heute batest Du einen Freund, zu bleiben und seinen Videocall doch bitte vom Zimmer aus zu machen, Du willst den Sound des Lebens hören, der Alltag soll fortdauern. 14. April
Salzstängeli verlangst Du gar nicht mehr. Du schluckst jetzt locker ganze Essensstücke und auch Tee. Ich höre Dich öfter stöhnen. Die Geräusche erscheinen mir nie wie Ausdruck blanken Schmerzes. Es ist etwas anderes. Do. fragt Dich: – Wer ist dieser Mann hier auf der Liste der Besucher? – Ein feiner Mensch, den ich gernhabe. Arztvisite: – Frau Schweikert, wollen Sie mir noch etwas sagen? – Ja, dass nicht über mich entschieden werden soll. Ich möchte selbst entscheiden. Du willst kein Opfer sein. Von nichts und niemand. So wird es bleiben. MEIN BRUSTKORB IST WARM. MEINE HÄNDE UND FÜssE SIND EISKALT Ich übernachte zum zweiten Mal im Gasthof zum Ochsen, in dem sich alles um dieses Tier dreht, selbst die Frottiertücher im Bad sind damit verziert. Ich habe erneut das «Metzger-Zimmer», ab 4.30 Uhr kommt von der Wurstherstellung heftiger Lärm auf, Ohropax liegt parat und als Zugabe Chicken Sticks, «eine sinnvolle Spezialität aus Schweizer Legehennen». Als ich später durch Felder mit blühenden Kirschbäumen fahre, um einen Rollstuhl zu behändigen, den die Klinik nicht hat, und links und rechts Wanderer sehe, denke ich: Warum sind wir nicht viel öfter zusammen einfach losgezogen, Du und ich? Mein Sohn, auf dem Nebensitz, sagt: Aber ihr habt doch so viel zusammen unternommen, ihr seid doch weggefahren! Wie stellt man sich zu etwas, was unabänderlich ist? Zu etwas, das unabänderlich näherrückt? Wenn es der Tod ist? Gibt es eine passende Art, sich zu verabschieden? Eine Pfarrerin sagt: Manche Menschen praktizieren den Glauben und die Religion ganz aktiv, eifrig vielleicht gar, aber wenn das Sterben naht, kommt die Angst. Andere sind weniger aktiv, aber sie fürchten den Tod nicht. Ruth ist so jemand, der nicht religiös ist, aber inneres Vertrauen hat, wenig Angst. Und sie will...



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