E-Book, Deutsch, 288 Seiten
Reihe: E-Book-Edition ITALIEN
Benni Brot und Unwetter
1. Auflage 2013
ISBN: 978-3-8031-4134-7
Verlag: Verlag Klaus Wagenbach
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 288 Seiten
Reihe: E-Book-Edition ITALIEN
ISBN: 978-3-8031-4134-7
Verlag: Verlag Klaus Wagenbach
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ein italienisches Dorf mit der unvermeidlichen Bar Sport, in der alle zusammenkommen: der Tierarzt, der Tankwart, der Gemüsehändler, die Frauen, der polnische LKW- Fahrer. natürlich allesamt Weinkenner und Philosophen - sie erzählen Geschichten, dass uns die Augen tränen vor Lachen.
Welches sind die siebenundzwanzig Tätigkeiten, die den zivilisierten Menschen ausmachen? Für den Großvater, Nonno Stregone, beginnen sie morgens mit dem Erwachen und dem Einatmen des Dufts von frischem Brot, der seine Schlafkammer erreicht. Dann erst folgen das Öffnen der Augen, das Aufstehen, die mühsame Suche zueinander passender Socken, das Finden des richtigen Hosenbeins. schließlich macht sich Nonno Stregone auf den Weg in die Bar Sport. Seine Geschichte ist auch die Geschichte der Bar mit ihren - versoffenen oder geschäftsuntüchtigen - Besitzern, und was die Bewohner des Dorfes Montelfo dort zum Besten geben, fügt sich zu einem Kaleidoskop italienischen Lebens in den letzten fünfzig Jahren. Derweil graben sich riesige Schaufelbagger durch den Wald, die Bar soll einem neuen Centro Commerciale weichen. Dann verpatzt Montelfo auch noch seinen Fernsehauftritt, während das Nachbardorf Montombrico durch die mordende Eisfrau in allen Medien berühmt wird. Zur Rettung der Bar kommt das ganze Dorf zusammen, aber wird es nützen? Kann man durch Geschichtenerzählen das Böse aus der Welt schaffen? Stefano Benni lässt es uns glauben.
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Zwille, Alice und andere Jugendliche
Der Opa Seher schwieg lange und hörte jenen weit entfernten Geräuschen zu. Die Fliegen summten um ihn herum und redeten wie immer alle auf einmal, sodass man kein Wort verstand. Sie waren besorgt. Der Wirt Trincone kam heraus und setzte sich auf seinen Lieblingsplatz, einen Liegestuhl, der die Titanic überlebt hatte. Verschlafen und majestätisch hielt er in der rechten Hand eine Mokkatasse und in der linken ein Glas Grappa. Das war seine Auffassung von ›Caffè corretto‹. Auch er hörte die Geräusche im Wald und kratzte sich am Kopf. Aus seinem Haar zog er eine Kreatur, von der so gut wie sicher war, dass sie lebte, und die er mit Sorgfalt untersuchte, bevor er sie wieder dem Ökosystem zuführte. Der treue Hund Merlot kam an seine Seite. Mit der Hand zermalmte ihm Trincone die Schnauze und verknotete ihm die Eckzähne. Das war seine übliche Liebesgeste. Der Hund erwiderte sie, indem er auf seinen Liegestuhl pinkelte. Dann ging er zum Opa und grüßte ihn, indem er in einem hündischen Vocalese jaulte: »Uooo ee, ii ee?« Das sollte heißen: Buongiorno, Seher, wie geht’s? »Mir geht’s gut und selbst? Wie läuft es mit der Pudeldame von der Apothekerin?« Merlot antwortete nicht und pinkelte erneut. Er legte großen Wert auf seine Privatsphäre. Vom Ende der Straße kamen zwei Gestalten näher. Der Opa nahm noch vor ihrem Erscheinen ihren Geruch wahr. Eine roch nach Blumen und Betäubungsmittel. Die andere nach Schießpulver und Misthaufen. Voraus lief ein weißgekleidetes Mädchen mit blondem Erzengelhaar. Von allen Sonnenstrahlen war sie umgeben und strahlte sie wie ein wertvoller Kristall zurück. Die Vöglein umkreisten sie, und die Blumen neigten sich, wenn sie vorüberschritt. Es war Alice, die Tochter des Tierarztes Rettganso, sie war dreizehn Jahre alt. Mit wenigen Metern Abstand, nicht auf der Straße, sondern mitten im hohen Gras laufend, folgte ihr ein schlechtgekleideter Junge mit finsterem Antlitz und Haaren, die wie Igelstacheln zu Berge standen. Die Schatten der Bäume überragten ihn bedrohlich, die Hasen flohen bei seinem Anblick, und ein Brennnesselstrauch biss ihm in die Wade. Sogar eine sanfte Amsel überflog ihn und traf ihn mit zwei Guanobomben. Es war Zwille, der Neffe des Wilderers Garbe, er war dreizehn Jahre alt. Alice grüßte den Opa von Weitem, dann drehte sie sich um und sagte irgendetwas zu Zwille. Doch Zwille antwortete nicht, im Gegenteil, er versteckte sich noch mehr im hohen Gras, folgte ihr aber weiterhin. Alice liebte die Natur in all ihren Erscheinungsformen, vom niedrigsten Kuhfladen bis zum raffiniertesten Muster auf den Flügeln eines Schmetterlings. Zwille hingegen wusste, dass die Natur stiefmütterlich, übel riechend und anstrengend war. Er wusste, dass der Schmetterling nur einen Tag lebt und dass das Schwein schreiend stirbt. In seiner zugigen Behausung unter dem Kornspeicher, wo Mäuse und Siebenschläfer auf Trab waren, gab es an der abgebröckelten Wand seines Zimmers ein Geheimnis. Eine Photographie von Alice, als Schneewittchen verkleidet beim Schultheater. Im Hintergrund sieben anbetende Zwerge. Der dritte von rechts war er, im unmissverständlichen Akt begriffen, sich die Nüsse in der grünen Strumpfhose zurechtzurücken. Denn Zwille liebte Alice mit einer unmöglichen, verzweifelten, totalen und schmerzhaften Liebe. Und das reicht, weil die Verschwendung von Adjektiven zwar zu den Gefühlen vermögender Romantiker passt, nicht aber zu einem proletarischen Knaben vom Land. Alice erreichte den Opa und grüßte ihn mit einem fröhlichen Lächeln. Zwille kletterte auf einen Baum, genauer gesagt auf den großen Walnussbaum, der die Piazzetta der Bar Sport beschattete. Die beiden Heranwachsenden hatten in der Tat, neben seltenen Gaben, einige riskante Eigenschaften. Alice liebte und küsste alle, Blumen, Tiere und Menschen, und ihre unreife Schönheit enthielt schon all den Saft und das Fruchtfleisch der zukünftigen Frucht. Das zog in gleichem Maße junge Hirsche wie Wüstlinge an. Sie war zudem gut in der Schule, wenn sie auch oft das Thema verfehlte. Schließlich spielte sie Tennis mit bezaubernder Anmut, und ihre Stärke war die Rückhand, begleitet von einem wütenden kleinen Schrei, mit dem sie berühmte und schöne Spitzensportlerinnen nachahmte. Zwille wurde nicht geliebt, sondern gefürchtet, vor allem wegen der tödlichen Präzision seiner Steinschleuder, die aus der Astgabel eines Birnbaums und einer Traktorriemenscheibe gebaut war. Er half dem Onkel, Patronen herzustellen, und liebte es, auf Bäume zu klettern, in Stollen zu schlüpfen, Tierbauten zu entdecken und Fallen zu stellen. Und er sprach mit den Gnomen, besonders wenn er etwas Stechapfelkraut gekaut hatte. Doch er trug einen Fluch mit sich herum. Die Bäume schüttelten ihn ab. Die Tiere, die den Beruf seines Onkels kannten, griffen ihn an. Also kämpfte er: gegen das Schicksal und gegen seinen Rivalen in der Liebe, Giango. Der Laufbursche Gianni, genannt Giango, der nach Gel und Brioche roch, kam aus der Bar und sah Alice mit Stecherblick an. Er war der Neffe des Wirts Trincone und arbeitete als Aushilfsbarmann, seitdem er sieben Jahre alt war, noch nicht bis zum Tresen reichte und den Wein auf einem Stuhl stehend servierte. Jetzt war er ein hochmoderner Fünfzehnjähriger, der sein Haar mit Gel zu einem Schnabel, einem Bananendildo, einer Panzerpolenta zementiert hatte und es bei Zusammenstößen auf Konzerten als Waffe einsetzte. Er war außerdem Sänger und Bandleader von Kastagna, einer Rockgruppe, die für ihr rural-brutal oder shovel metal abgöttisch geliebt und abgrundtief gehasst wurde. Mit ihm spielten Blacksmoke, Tagelöhner und Schlagzeuger, Bum Bum Delirium am Bass und Bubba Bonazzi, E-Gitarrenmelker. Ihre bekanntesten Stücke waren Kuhkick und Mamma guck mal, ich kann ohne Hände fahren. Ihre Konzerte waren legendär und höllisch laut. Sie hatten schon überall gespielt: vom Bratknödelfest bis zu Rave Partys, von der Disco Grünspecht bis zum Obst- und Gemüsemarkt. Und überall schlugen, berauschten und bespuckten sich die Leute und warfen mit Gemüse. Sie hatten auch den Mute-Rock erfunden. Für eine Minute feuerten sie Musik in voller Lautstärke ab, hundertfünfzig Dezibel, bis das Publikum taub war. Dann taten sie für den Rest des Konzertes bloß noch so, als ob sie spielten. Sie wurden nur ein einziges Mal ertappt: von einem Arbeiter am Presslufthammer, der die Dezibel locker wegsteckte. Die Kastagna waren die berühmteste Band der Gegend, zusammen mit den Veterans, einer Gruppe mittlerweile sechzigjähriger Rocksänger mit glänzenden Bäuchen und hochtoupierten Haaren. Dann gab es noch das Gesellschaftstanzorchester Zaira und die Erzengel, deren Sängerin Zaira berühmt dafür war, die weltweit einzige Sängerin zu sein, die kleiner ist als die Absätze ihrer Schuhe. Statt Pfennigabsätzen hatte sie Nudelholzabsätze. Giango war, wie viele Schaufelmetaller, immer schwarz gekleidet und trug ein Nasenpiercing zur Schau, das er sich selbst gestochen hatte. Er hatte sich mit dem Tacker nicht bloß durch ein Nasenloch, sondern durch beide geschossen. Deshalb atmete er nur schwer und sprach mit einer etwas dumpfen Stimme. »Bella Alice, was willst du?«, fragte er. »Ich möchte einen Feldkräutertee«, sagte die Strahlende, »und Sie, Opa, was nehmen Sie?« »Ich nehme einen Beerentee«, antwortete der Opa. »Ich esse Walnüsse«, sagte Zwille, da ihn niemand fragte. Angekündigt von seinem berühmten ›Mameli-Rülpser‹, der diesen Namen trug, weil er in etwa so lange dauerte wie die vom gleichnamigen Dichter verfasste Nationalhymne, erschien auf der Schwelle wieder der Wirt Trincone der Schwarze, so genannt wegen seines dichten, kohlrabenschwarzen Bartes. Er war der älteste der vier Brüder, außer ihm gab es noch: Trincone den Stier, Trincone das Aas und den dahingeschiedenen Trincone den Liebenden. Der Wirt hatte eine bewegte Nacht überstanden, in der er, Archimedes Archivio, Igelo Goldhand und der Tankwart Diogenes über das Leben, den Tod und die Möglichkeiten gradueller Zwischenstufen diskutiert hatten, zum Beispiel ein sechstägiger Rausch. Nun atmete Trincone die Morgenluft ein und rasierte sich, wobei er Vanilleeis als Rasiercreme benutzte. Das Geräusch des Rasiermessers auf der Haut glich dem Häuten eines Elefanten. »Sind Sie verärgert, Signor Trincone?«, fragte Alice. »Ein wenig«, sagte der Schwarze. Und er war kurz davor, seinen berühmten...