E-Book, Deutsch, 352 Seiten
Bennett Die wundersamen Abenteuer der Galina Petrowna
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-641-16460-7
Verlag: Goldmann
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 352 Seiten
ISBN: 978-3-641-16460-7
Verlag: Goldmann
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Andrea Bennett studierte Geschichte und Russisch in Sheffield und verbrachte dann einige Jahre in Russland. Wieder zurück in Großbritannien folgten mehrere Jobs im öffentlichen Dienst, derzeit arbeitet sie für eine Wohltätigkeitsorganisation. Andrea Bennett lebt mit ihrer Familie in Kent.
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1 – Ein typischer Montagnachmittag
»Hallo! Gorjun Tigranowitsch! Hören Sie mich?«
Noch einmal klatschte eine warme braune Hand mit solcher Wucht gegen die Tür, dass sie in den Angeln bebte.
»Er ist tot, ganz bestimmt! Wahrscheinlich haben ihn schon seine Katzen gefressen. Vier Stück hat er, wissen Sie. Vier flauschige weiße Katzen! Wer braucht denn vier flauschige weiße Katzen? Weiße? Lächerlich!«
»Babuschka, hören Sie irgendwo eine Katze miauen?«
Die beiden Damen, eine unbeschreiblich alt und zerfurcht und die andere erst auf dem Weg dorthin, warteten still vor der Wohnungstür und horchten angespannt. Die winzige Baba Krjutschkowa beugte sich ein wenig herab, um ein Ohr gegen das Schlüsselloch zu drücken. Sie schloss die Augen und saugte die Wangen ein.
»Ich höre nichts, Galia«, sagte sie nach einem Moment.
»Das ist doch gut, oder nicht, Baba? Das heißt, dass Gorjun Tigranowitsch wahrscheinlich in Urlaub an die Küste gefahren ist oder vielleicht einen Freund in Rostow besucht und die Katzen bei jemandem untergebracht hat. Und dann liegt er auch nicht tot in seiner Wohnung.«
»Aber Galia, vielleicht sind sie alle tot! Die Katzen und Gorjun Tigranowitsch! Alle tot! Vielleicht war er so zäh, dass sie ihn nicht fressen konnten, und sie sind verhungert! Es sind doch jetzt schon mehrere Tage.«
Das Gesicht der älteren Frau knitterte noch mehr, als sie sich die verhungerten Katzen und die verdorrte, verfallene Leiche von Gorjun Tigranowitsch vorstellte. Sie begann zu schluchzen und rieb sich mit einer knorrigen roten Faust über die Apfelkernaugen. Entlang des staubigen Flurs knarrten und ächzten Türen, und nach und nach tauchten die grauen Köpfe der Nachbarn auf, mit ihren Rosinenaugen, die neugierig nachsehen wollten, was dort solchen Lärm und Aufruhr verursachte. Ein dumpfes Summen ging von einem Ende des Hauses zum anderen, als die betagten Bewohner gleichzeitig von ihrem Mittagsschläfchen aufwachten, ob so geplant oder nicht, und das Schauspiel beobachteten, welches sich im dritten Stock von Haus 11 am Karl-Marx-Prospekt der südrussischen Stadt Asow abspielte. Galia seufzte, bot der älteren Frau ihr Taschentuch an und schnalzte beruhigend mit der Zunge.
»Baba Krjutschkowa, hier draußen auf dem Flur können wir nichts machen. Gorjun Tigranowitsch ist bestimmt bei bester Gesundheit. Er ist noch so rüstig – und er verreist oft, das wissen Sie doch. Erst letzten Monat war er in Omsk.«
Galia stolperte nicht über die Worte, sie sprach sie mit fester, gleichmäßiger Betonung, und trotzdem klangen sie in ihren eigenen Ohren nicht überzeugend: Bei ihrer letzten Begegnung hatte der Herr ausgeschaut wie ein Stück trockener Baumrinde in einem Anzug. »Ich habe ihn letzte Woche gesehen, das weiß ich noch, unten auf dem Markt. Er hat Wassermelonen gekauft. Wenn jemand Wassermelonen kauft, stirbt er nicht bald, er genießt das Leben; er ist kräftig und voller Zuversicht. Wassermelonen sind ein sicheres Zeichen. Wahrscheinlich hat er sie als Geschenk für denjenigen gekauft, den er besuchen wollte. Er kommt bestimmt bald zurück.«
Melonen hin oder her, Gorjun Tigranowitsch legte großen Wert auf seine Privatsphäre, und es hätte ihm nicht gefallen, dass die versammelte betagte Nachbarschaft auf dem Flur über ihn redete. Galia wollte die ältere Dame dazu bewegen, nach Hause zu gehen.
»Trinken Sie doch erst mal eine schöne Tasse Tee, und ich bringe Ihnen ein selbstgebackenes Brötchen. Das wird Ihnen guttun, meinen Sie nicht?«
Die ältere Frau zog immer noch das gleiche Gesicht, aber der Blick ihrer winzigen wässrigen Augen war jetzt auf Galia gerichtet.
»Und wenn er bis zum Ende der Woche nicht wieder aufgetaucht ist, fragen wir den Hausmeister, ob er eine Ahnung hat, wo Gorjun Tigranowitsch steckt.«
»Er hat mir einen Kürbis versprochen, wissen Sie«, sagte Baba Krjutschkowa über die Schulter, als sie über den Flur davonschlurfte. Na, dachte Galia, also da liegt der Hund begraben: Sie fühlt sich um das versprochene Gemüse geprellt.
»Sie können von mir einen Kürbis haben, Baba Krjutschkowa. Meine schmecken genauso gut wie die von Gorjun Tigranowitsch.«
Baba Krjutschkowa zuckte gleichgültig mit den Schultern und schloss ihre Tür, und so blieb Galia wenig anderes übrig, als mit der Zunge zu schnalzen, sanft den Kopf zu schütteln und in ihrer eigenen Wohnung zu verschwinden. Boroda stand in ihrem Karton unter dem Tisch auf, begrüßte sie mit einem dezenten Schwanzwedeln und streckte sich elegant.
Diese tiefe, gutmütige Faulheit der Hunde macht wirklich ihren Zauber aus, dachte Galia. Und die Tatsache, dass sie nicht sprechen können.
Im Gegensatz zu vielen ihrer Nachbarinnen und all ihren Freundinnen im Altenklub des Kulturhauses von Asow weinte Galina Petrowna Orlowa, kurz Galia genannt, so gut wie nie. Während die anderen glitzerten wie Bonbonpapier, das Gorjun Tigranowitschs Katzen zerkaut hatten, saß sie, von der Sonne sanft gebräunt, aufrecht auf ihrem Stuhl, ballte die muskulösen Hände zu leicht geschwollenen Fäusten und bettete sie auf den Blümchenstoff über ihren Oberschenkeln. Aufmerksam hörte sie sich die Klagen der anderen an, und wenn ihr Gegenüber Geschichten aus einem Leben erzählte, das nicht einfach war, seufzte sie und brummelte mitfühlend. Galia schwelgte nur selten in Erinnerungen. Sie fand, sie lebe in der Gegenwart. Wichtig waren ihr gutes Essen, ihr Gemüsegarten, knifflige Kartenspiele und ihre Freundinnen. Sie war stolz auf ihre Stadt und den Landstrich, und fraglos hätte sie ihr Vaterland gegen jede Kritik verteidigt, die nicht von ihr selbst stammte. Ganz sicher war sie kein sentimentaler Mensch.
Aber selbst die Unsentimentalsten unter uns brauchen etwas oder jemanden, und im Herbst ihres Lebens hatte Galia etwas gefunden, was sie vervollständigte, eine Quelle, aus der sie ihr Mitgefühl, ihre Geduld, ihre Sicherheit und ihre Kraft schöpfte. Es waren weder die Kirche noch der Alkohol, nicht Klatsch oder Gartenarbeit: Die Quelle ihrer inneren Ruhe war ihre dreibeinige Hündin.
Die Hündin hatte ein schmales Gesicht und elegante Beine, auf denen das drahtige graue Fell in kleinen Büscheln wuchs. Ihre dunklen Augen saßen schräg über hohen Wangenknochen; sie mochten an einen längst verlorenen Verwandten erinnern, einen Barsoi, der in den Ebenen des Ostens unter einem Baldachin aus erkalteten, tränengleichen Sternen wartete. Das war Galias erster Eindruck gewesen, als sie die Hündin zum ersten Mal von Weitem vor der Fabrik entdeckte, allerdings ohne ihre Brille. Bei näherem Hinsehen machte die Mischlingshündin keinen besonders blaublütigen Eindruck mehr: Sie hatte den Platz unter einer besonders widerlichen Imbissbude zu ihrer Bleibe erkoren und suchte verhuscht und mit eingezogenem Schwanz nach etwas Essbarem. Galia würdigte das Tier keines Blickes. Fünf Tage lang tat Galia so, als sei die Hündin gar nicht da, und wandte verstohlen den Kopf ab, wenn sie auf dem Weg zum Gemüsegarten oder nach Hause an dem Tier vorüberging. Und dann, am sechsten Tag, sah sie, wie die Hündin mit ihrer verbliebenen Vorderpfote versuchte, ein Stück Knochen unter dem vollgepinkelten Imbiss auszugraben. Armer Hund: nur drei Beine. Er rief in Galia ein Gefühl wach, einen vagen Hauch von jemandem oder etwas vor langer Zeit, das längst fort war. Etwas, das sie festhalten wollte, aber nicht einmal berühren konnte. Die alte Dame beobachtete die Hündin und seufzte. Bei dem Geräusch spitzte das Tier die Ohren und hörte auf zu scharren. Ein kurzes, atemloses Innehalten drängte sich in den geschäftigen Nachmittag, und ein langer Blick aus dunkelbraunen Augen fuhr direkt durch Galias Wollstrickjacke in ihr Herz. Ihrer beider Schicksal war besiegelt, ob es ihr gefiel oder nicht.
Vorsichtig grub Galia das Knochenstück mit ihrem Taschenmesser aus und gab es der Hündin, die es behutsam zwischen die weißen Zähne nahm. In der einsetzenden Dämmerung folgte die Hündin Galia in höflichem Abstand nach Hause, ohne auf die gebrummelten Kusch-Laute zu achten, die träge wie sonnenverwöhnte Bienen Galias Kehle entstiegen. Die Hündin saß geduldig vor der Wohnungstür, während die Dunkelheit den Flur entlangkroch, und saß immer noch dort, als sich die Sonne über den Horizont schob und die Amseln ihren Gesang anstimmten. Nach einer Nacht tief in Gedanken gab Galia nach und öffnete die Tür weit. Die Hündin schlüpfte herein, setzte sich ruhig unter den Küchentisch und sah sich mit ihren strahlend neugierigen mandelförmigen Augen um.
»Wie sollen wir dich denn nennen, Hundedame, hm? Ob du schon mal einen Namen hattest? Wahrscheinlich Fido oder Shep oder Scharik oder etwas ähnlich Hässliches, das gar nicht zu dir passt. Aber egal. Sieh dich nur an, du hübsche Dame, mit deinen Wangenknochen und dem spitzen Bart: Wir nennen dich Boroda, die Bärtige. Da haben wir doch was.«
Und so nannte Galia die Hündin Boroda, um ihren feinen, spitzen Bart zu würdigen.
* * *
Manchmal, wenn Galia die kräftigen Arme in eine große, kühle Schüssel mit Teig steckte und die klebrige Masse zu den köstlichsten Leckerbissen diesseits von Charkow knetete, wanderten ihre Gedanken in die Vergangenheit. Zwar betonte sie immer, sie würde in der Gegenwart leben, aber seit sie langsam alt wurde, hatte sie hin und wieder das Bedürfnis, sich zu erinnern. Nicht, um Antworten zu suchen oder einen längst vergessenen Streit zu verarbeiten oder um zu weinen und zu vermissen und nachzuhängen, sondern um sich daran zu erinnern und sich zu vergewissern, wer...