E-Book, Deutsch, 312 Seiten
Reihe: Grundlagentexte Pädagogik
Eine systematisch-problemgeschichtliche Einführung in die Grundstruktur pädagogischen Denkens und Handelns
E-Book, Deutsch, 312 Seiten
Reihe: Grundlagentexte Pädagogik
ISBN: 978-3-7799-8760-4
Verlag: Julius Beltz GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Dietrich Benner, Jg. 1941, Prof. Dr. Phil. Dr. h. c. mult., lehrte an den Universitäten Bonn, Freiburg und Münster, bevor er 1991 den Ruf auf den Lehrstuhl für Allgemeine Erziehungswissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin annahm, der er seit 2009 als Emeritus angehört. Seit 2004 ist er Honorarprofessor an der ECNU Shanghai. Von 2008 bis 2014 war er ordentlicher Professor an der UKSW Warschau.
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Vorwort
Eine Allgemeine Pädagogik kann heute noch weniger als vielleicht in früheren Zeiten einen Überblick über Erfahrungen der pädagogischen Praxis, die in dieser wirksamen Theorien und die verzweigten Anstrengungen und Resultate erziehungswissenschaftlicher Forschung geben.1 Sie muss jedoch, wenn sie ihren Namen verdienen will, einen pädagogischen Grundgedanken entwickeln, der allgemein in einem zweifachen Sinne ist.2 Dieser muss Geltung beanspruchen für alle Handlungsfelder pädagogischer Praxis und Anerkennung finden können in allen Bereichen erziehungswissenschaftlicher Theorieentwicklung und Forschung. Ob eine Allgemeine Pädagogik überhaupt solche Geltung beanspruchen darf und solche Anerkennung gewinnen kann, entscheidet sich freilich nicht allein in ihr, sondern ist zugleich abhängig davon, welche Bedeutung pädagogische Handlungstheorie und erziehungswissenschaftliche Theoriediskussion und Forschung ihren grundlagentheoretischen Reflexionen zuerkennen. So ist es gleich in mehrfacher Hinsicht ein ebenso riskantes wie schwieriges Unternehmen, eine Allgemeine Pädagogik zu verfassen und zur Diskussion zu stellen, kann doch ein solcher Versuch aus mehreren Gründen scheitern. Er kann misslingen, weil er von niemandem ernst genommen wird und sich weder unter den praktizierenden Pädagogen noch in der Erziehungswissenschaft Adressaten finden, für die die Entfaltung eines pädagogischen Grundgedankens in irgendeiner Hinsicht bedeutsam ist. Er kann scheitern, weil sich die Annahme, es gebe überhaupt so etwas wie einen Grundgedanken pädagogischen Denkens und Handelns, angesichts der verzweigten Aufgaben nicht-professionellen und professionellen pädagogischen Handelns und der Vielfalt erziehungswissenschaftlicher Forschungsrichtungen und -traditionen gar nicht mehr überzeugend ausweisen lässt. Er kann schließlich scheitern, weil es verschiedene, miteinander konkurrierende Vorstellungen von pädagogischer Praxis mit einer jeweils historisch begrenzten theoretischen Reichweite und praktischen Gültigkeit gibt und weil infolge dessen der von einer Allgemeinen Pädagogik zu erhebende Anspruch, einen in sich stimmigen pädagogischen Grundgedanken systematisch zu entfalten, nicht mehr als wahrheitsfähig angesehen wird.3 Ob der Versuch, einen pädagogischen Grundgedanken zu formulieren, gelingt oder scheitert, hängt freilich nicht nur von den möglichen Adressaten Allgemeiner Pädagogik und ihrer Stellung zu den verschiedenen Bereichen pädagogischer Praxis und erziehungswissenschaftlicher Forschung und auch nicht allein davon ab, was Allgemeine Pädagogik im Streit konkurrierender Handlungsstrategien und Forschungsparadigmen zur Klärung der Wahrheitsfrage pädagogischer Urteilskraft beizutragen vermag. Zwar entscheidet dies alles gewiss mit darüber, ob und inwieweit eine Allgemeine Pädagogik Geltung beanspruchen kann und Anerkennung findet. Nicht weniger bedeutsam dürfte jedoch sein, welche Bedeutung sie selbst ihrer Arbeit an einem pädagogischen Grundgedanken beimisst und wie sie diese konzipiert. Beanspruchte Allgemeine Pädagogik, das, was pädagogisches Denken und Handeln ausmacht, erst zu begründen und eine pädagogische Urteilskraft zu erfinden, die sich nur in ihren Reflexionen äußert, so gäbe es am Ende womöglich so viele pädagogische Grundgedanken, wie sich Allgemeine Pädagogiken aufstellen lassen. Von einem maßgeblichen pädagogischen Grundgedanken könnte dann nicht mehr die Rede sein. Begnügte sich Allgemeine Pädagogik hingegen damit, die in pädagogischer Praxis und Erziehungswissenschaft jeweils vorfindlichen Urteilsformen lediglich auf einen nachgängigen Begriff zu bringen und den pädagogischen Grundgedanken ausschließlich rekonstruktiv zu ermitteln, so ließen sich am Ende womöglich so viele Meinungen über die Eigenart pädagogischen Denkens und Handelns zusammentragen, wie es spezielle Auffassungen von pädagogischer Urteilskraft gibt, ohne dass einer von ihnen mit Gründen ein Vorzug gegenüber den anderen eingeräumt werden könnte. Der in Aporien wie diesen sich zeigende Problemgehalt der Frage nach der Eigenlogik pädagogischen Denkens und Handelns lässt sich nicht dadurch mindern und reduzieren, dass die Arbeit an einem übergreifenden pädagogischen Grundgedanken mit Verweis auf die fortschreitende Ausdifferenzierung pädagogischer Berufe und erziehungswissenschaftlicher Teildisziplinen aufgegeben und an Reflexionsformen mehrerer nebeneinander stehender Allgemeiner Pädagogiken abgetreten wird, die stärker auf ein besonderes pädagogisches Berufsfeld und eine bestimmte Teildisziplin der Erziehungswissenschaft ausgerichtet sind und sich als Allgemeine Schulpädagogik, Allgemeine Wirtschaftspädagogik, Allgemeine Sozialpädagogik u. a. m. verstehen. Mögen solche Spezialisierungen innerhalb berufsbezogener Ausbildungsgänge und Forschungsvorhaben durchaus legitim und sinnvoll sein, eine Verständigung über eine allgemeine Grundstruktur pädagogischen Denkens und Handelns lässt sich auf diesem Wege nicht erreichen. Dieser führt nämlich, wo er konsequent verfolgt wird, nicht zur gegenseitigen Anerkennung bereichspädagogischer Problemstellungen und Sichtweisen, sondern begünstigt einen immer wiederkehrenden Streit, in dem Bereichspädagogiken und ihre Dogmatiken ohne Aussicht auf Verständigung und Überführung in ein umfassendes Gemeinsames gegeneinander eine vermeintlich allgemeine Zuständigkeit reklamieren.4 Die Frage nach dem Proprium des Pädagogischen und seinen erziehungswissenschaftlichen Thematisierungen bezieht sich nicht auf ein Allgemeines, das als ein Allgemeines von Speziellem bereichspädagogisch zu definieren wäre, sondern auf eine universelle Grundstruktur des Pädagogischen, durch die sich pädagogische Sachverhalte und Problemstellungen von anderen unterscheiden und abgrenzen lassen. Wenn Allgemeine Pädagogik dieses Proprium weder aus eigener Kraft definieren noch im Rückgriff auf etablierte Auffassungen einfach rekonstruieren noch dem Streit bereichspädagogischer Handlungsmuster und Dogmen überlassen kann, worauf soll sie dann ihren Anspruch gründen, den Grundgedanken pädagogischen Denkens und Handelns systematisch zu fassen und in einer für alle Bereiche pädagogischen Handelns und die gesamte erziehungswissenschaftliche Theoriediskussion und Forschung bedeutsamen Art und Weise zur Diskussion zu stellen? Der hier vorgelegte Versuch gibt auf diese Frage eine ebenso einfache wie komplexe Antwort. Er geht davon aus, dass sich die Möglichkeit und Notwendigkeit eines umfassenden pädagogischen Grundgedankengangs nur unter Berufung auf das geschichtliche Faktum der strittigen Frage nach der Eigenart pädagogischen Denkens und Handelns selbst erweisen lässt. Unabhängig von der Dignität dieses Faktums kann Allgemeine Pädagogik keine grundlagentheoretische Bedeutung für die Klärung pädagogischer Probleme und Sachverhalte beanspruchen. Gäbe es die Frage nach der Grundstruktur und Eigenart pädagogischen Denkens und Handelns nicht, so wäre sie grundsätzlich nicht möglich; verfügten wir über eine allgemein anerkannte Antwort auf diese Frage, so wäre sie überhaupt nicht notwendig. Die Möglichkeit und Notwendigkeit eines pädagogischen Grundgedankengangs kann darum nicht anders als in Auseinandersetzung mit den geschichtlich vorgegebenen Fragen nach der Eigenart pädagogischen Denkens und Handelns diskutiert werden.5 Unabhängig von diesen Fragen und ihrer aporetischen Grundstruktur lässt sich weder die Möglichkeit noch die Notwendigkeit einer Vergewisserung darüber erweisen, was unter pädagogischem Denken und Handeln legitimerweise zu verstehen ist.6 In diesem Sinne begreift sich der folgende Entwurf einer Allgemeinen Pädagogik, wie aus seinem Untertitel hervorgeht, als Versuch einer systematisch-problemgeschichtlichen Verständigung über die Grundstruktur pädagogischen Denkens und Handelns. Sollte die in unserer Tradition bis in die Zeit der altgriechischen Aufklärung zurückzuverfolgende Frage nach der Eigenart pädagogischer Prozesse und Reflexionen einmal der Vergessenheit anheimfallen, so wäre damit zugleich der systematischen Pädagogik eine ihrer unverzichtbaren Grundlagen entzogen. Die Erinnerung daran wach zu halten, was unter der Frage nach dem pädagogischen Grundgedankengang verstanden werden kann, stellt heute vielleicht eine der vordringlichsten Aufgaben Allgemeiner Pädagogik dar. Von ihr handeln alle Kapitel der hier vorgelegten Arbeit: Das...