E-Book, Deutsch, 543 Seiten
Benn Sämtliche Gedichte
1. Auflage 2018
ISBN: 978-3-608-11054-8
Verlag: Klett-Cotta
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 543 Seiten
ISBN: 978-3-608-11054-8
Verlag: Klett-Cotta
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Gottfried Benn, 1886 2. Mai in Mansfeld geboren. 1905-1910 Medizinstudium in der Kaiser-Wilhelm-Akademie für das militärärztliche Bildungswesen in Berlin. Approbation. 1912 Veröffentlichung des ersten Gedichtheftes als Lyrisches Flugblatt: Morgue und andere Gedichte. 1913 Übernimmt die Leitung des Pathologischen Instituts am Städtischen Krankenhaus in der Sophie-Charlottenstraße. 1914 Zieht als Militärarzt ins Feld. Nimmt an den Kämpfen in Belgien teil. 1915-1917 Oberarzt im Militärgouvernement Brüssel. Entlassung aus der Armee. 1917 Die gesammelten Gedichte erscheinen im Verlag der Aktion unter dem Titel: »Fleisch«. Gottfried Benn läßt sich als Facharzt für Haut- und Geschlechtskrankheiten in Berlin nieder und führt hier seine Praxis bis 1935. 1922 Die Gesammelten Schriften erscheinen im Erich Reiss Verlag in Berlin. 1932 Benn wird Mitglied der Preußischen Akademie der Künste, Abteilung Dichtung. 1933-1934 Vorübergehend im Bannkreis der nationalsozialistischen Ideologie. 1935 Benn verläßt Berlin und läßt sich als Oberstabsarzt in Hannover reaktivieren. Es erscheinen die Ausgewählten Gedichte, Benns letzte Publikation in der Nazizeit. Schwere Angriffe gegen Benn in »Das Schwarze Korps« und im »Völkischen Beobachter«. 1937-1945 Benn wird nach Berlin versetzt. Tätigkeit im Militärischen Versorgungswesen als Gutachter in Fürsorge- und Rentenfragen. Ausschluß aus der Reichsschrifttumskammer und Schreibverbot. 1943 als Oberarzt nach Landsberg a.d. Warthe. 1945 Rückkehr nach Berlin. 1946-1948 Praxiseröffnung. Veröffentlichungsschwierigkeiten. 1951 Verleihung des Büchner-Preises in Darmstadt durch die Akademie für Sprache und Dichtung. 1953 Benn gibt die ärztliche Praxis auf. 1956 7. Juli. Tod Gottfried Benns in Berlin.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
1912–1920
MORGUE
I KLEINE ASTER
Ein ersoffener Bierfahrer wurde auf den Tisch gestemmt.
Irgendeiner hatte ihm eine dunkelhellila Aster
zwischen die Zähne geklemmt.
Als ich von der Brust aus
unter der Haut
mit einem langen Messer
Zunge und Gaumen herausschnitt,
muß ich sie angestoßen haben, denn sie glitt
in das nebenliegende Gehirn.
Ich packte sie ihm in die Brusthöhle
zwischen die Holzwolle,
als man zunähte.
Trinke dich satt in deiner Vase!
Ruhe sanft,
kleine Aster!
II SCHÖNE JUGEND
Der Mund eines Mädchens, das lange im Schilf gelegen hatte,
sah so angeknabbert aus.
Als man die Brust aufbrach, war die Speiseröhre so löcherig.
Schließlich in einer Laube unter dem Zwerchfell
fand man ein Nest von jungen Ratten.
Ein kleines Schwesterchen lag tot.
Die andern lebten von Leber und Niere,
tranken das kalte Blut und hatten
hier eine schöne Jugend verlebt.
Und schön und schnell kam auch ihr Tod:
Man warf sie allesamt ins Wasser.
Ach, wie die kleinen Schnauzen quietschten!
III KREISLAUF
Der einsame Backzahn einer Dirne,
die unbekannt verstorben war,
trug eine Goldplombe.
Die übrigen waren wie auf stille Verabredung
ausgegangen.
Den schlug der Leichendiener sich heraus,
versetzte ihn und ging für tanzen.
Denn, sagte er,
nur Erde solle zur Erde werden.
IV NEGERBRAUT
Dann lag auf Kissen dunklen Bluts gebettet
der blonde Nacken einer weißen Frau.
Die Sonne wütete in ihrem Haar
und leckte ihr die hellen Schenkel lang
und kniete um die bräunlicheren Brüste,
noch unentstellt durch Laster und Geburt.
Ein Nigger neben ihr: durch Pferdehufschlag
Augen und Stirn zerfetzt. Der bohrte
zwei Zehen seines schmutzigen linken Fußes
ins Innere ihres kleinen weißen Ohrs.
Sie aber lag und schlief wie eine Braut:
am Saume ihres Glücks der ersten Liebe
und wie vorm Aufbruch vieler Himmelfahrten
des jungen warmen Blutes.
Bis man ihr
das Messer in die weiße Kehle senkte
und einen Purpurschurz aus totem Blut
ihr um die Hüften warf.
V REQUIEM
Auf jedem Tisch zwei. Männer und Weiber
kreuzweis. Nah, nackt, und dennoch ohne Qual.
Den Schädel auf. Die Brust entzwei. Die Leiber
gebären nun ihr allerletztes Mal.
Jeder drei Näpfe voll: von Hirn bis Hoden.
Und Gottes Tempel und des Teufels Stall
nun Brust an Brust auf eines Kübels Boden
begrinsen Golgatha und Sündenfall.
Der Rest in Särge. Lauter Neugeburten:
Mannsbeine, Kinderbrust und Haar vom Weib.
Ich sah, von zweien, die dereinst sich hurten,
lag es da, wie aus einem Mutterleib.
DER ARZT
I
Mir klebt die süße Leiblichkeit
wie ein Belag am Gaumensaum.
Was je an Saft und mürbem Fleisch
um Kalkknochen schlotterte,
dünstet mit Milch und Schweiß in meine Nase.
Ich weiß, wie Huren und Madonnen riechen
nach einem Gang und morgens beim Erwachen
und zu Gezeiten ihres Bluts –
und Herren kommen in mein Sprechzimmer,
denen ist das Geschlecht zugewachsen:
die Frau denkt, sie wird befruchtet
und aufgeworfen zu einem Gotteshügel;
aber der Mann ist vernarbt,
sein Gehirn wildert über einer Nebelsteppe,
und lautlos fällt sein Samen ein.
Ich lebe vor dem Leib: und in der Mitte
klebt überall die Scham. Dahin wittert
der Schädel auch. Ich ahne: einst
werden die Spalte und der Stoß
zum Himmel klaffen von der Stirn.
II
Die Krone der Schöpfung, das Schwein, der Mensch –:
geht doch mit anderen Tieren um!
Mit siebzehn Jahren Filzläuse,
zwischen üblen Schnauzen hin und her,
Darmkrankheiten und Alimente,
Weiber und Infusorien,
mit vierzig fängt die Blase an zu laufen –:
meint ihr, um solch Geknolle wuchs die Erde
von Sonne bis zum Mond –? Was kläfft ihr denn?
Ihr sprecht von Seele – was ist eure Seele?
Verkackt die Greisin Nacht für Nacht ihr Bett –
schmiert sich der Greis die mürben Schenkel zu,
und ihr reicht Fraß, es in den Darm zu lümmeln,
meint ihr, die Sterne samten ab vor Glück …?
Äh! – Aus erkaltendem Gedärm
spie Erde wie aus anderen Löchern Feuer,
eine Schnauze Blut empor –:
das torkelt
den Abwärtsbogen
selbstgefällig in den Schatten.
III
Mit Pickeln in der Haut und faulen Zähnen
paart sich das in ein Bett und drängt zusammen
und säet Samen in des Fleisches Furchen
und fühlt sich Gott bei Göttin. Und die Frucht – –:
das wird sehr häufig schon verquiemt geboren:
mit Beuteln auf dem Rücken, Rachenspalten,
schieläugig, hodenlos, in breite Brüche
entschlüpft die Därme –; aber selbst was heil
endlich ans Licht quillt, ist nicht eben viel,
und durch die Löcher tropft die Erde:
Spaziergang –: Föten, Gattungspack –:
ergangen wird sich. Hingesetzt. –
Finger wird berochen.
Rosine aus dem Zahn geholt.
Die Goldfischchen –!!! –!
Erhebung! Aufstieg! Weserlied!
Das Allgemeine wird gestreift. Gott
als Käseglocke auf die Scham gestülpt –:
der gute Hirte –!! – – Allgemeingefühl! –
Und abends springt der Bock die Zibbe an.
MANN UND FRAU GEHN DURCH DIE KREBSBARACKE
Der Mann:
Hier diese Reihe sind zerfallene Schöße
und diese Reihe ist zerfallene Brust.
Bett stinkt bei Bett. Die Schwestern wechseln stündlich.
Komm, hebe ruhig diese Decke auf.
Sieh, dieser Klumpen Fett und faule Säfte,
das war einst irgendeinem Mann groß
und hieß auch Rausch und Heimat.
Komm, sieh auf diese Narbe an der Brust.
Fühlst du den Rosenkranz von weichen Knoten?
Fühl ruhig hin. Das Fleisch ist weich und schmerzt nicht.
Hier diese blutet wie aus dreißig Leibern.
Kein Mensch hat so viel Blut.
Hier dieser schnitt man
erst noch ein Kind aus dem verkrebsten Schoß.
Man läßt sie schlafen. Tag und Nacht. – Den Neuen
sagt man: Hier schläft man sich gesund. – Nur Sonntags
für den Besuch läßt man sie etwas wacher.
Nahrung wird wenig noch verzehrt. Die Rücken
sind wund. Du siehst die Fliegen. Manchmal
wäscht sie die Schwester. Wie man Bänke wäscht.
Hier schwillt der Acker schon um jedes Bett.
Fleisch ebnet sich zu Land. Glut gibt sich fort.
Saft schickt sich an zu rinnen. Erde ruft.
SAAL DER KREISSENDEN FRAUEN
Die ärmsten Frauen von Berlin
– dreizehn Kinder in anderthalb Zimmern,
Huren, Gefangene, Ausgestoßene –
krümmen hier ihren Leib und wimmern.
Es wird nirgends so viel geschrien.
Es wird nirgends Schmerzen und Leid
so ganz und gar nicht wie hier beachtet,
weil hier eben immer was schreit.
»Pressen Sie, Frau! Verstehn Sie, ja?
Sie sind nicht zum Vergnügen da.
Ziehn Sie die Sache nicht in die Länge.
Kommt auch Kot bei dem Gedränge!
Sie sind nicht da, um auszuruhn.
Es kommt nicht selbst. Sie müssen was tun!«
Schließlich kommt es: bläulich und klein.
Urin und Stuhlgang salben es ein.
Aus elf Betten mit Tränen und Blut
grüßt es ein Wimmern als Salut.
Nur aus zwei Augen bricht ein Chor
von Jubilaten zum Himmel empor.
Durch dieses kleine fleischerne Stück
wird alles gehen: Jammer und Glück.
Und stirbt es dereinst in Röcheln und Qual,
liegen zwölf andere in diesem Saal.
CURETTAGE
Nun liegt sie in derselben Pose,
wie sie empfing,
die Schenkel lose
...



